Читать книгу Das Paradies der Armen - Suzanna Jansen - Страница 17
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Die Überfahrt
ОглавлениеDie Dritte Anstalt, wie sie Cato Braxhoofden nach ihrer Ankunft vor Augen gehabt haben muss, war 1826 auf einem Stahlstich abgebildet worden.
Auf diesem Stich stimmt etwas nicht: Über der Anstalt schweben Wolken, die keine Schatten werfen. Im Vordergrund steht ein Mann mit Stock und Bündel. Er will die Zugbrücke überqueren, aber etwas hält ihn zurück. Staunt er über die Größe der Anstalt, oder zweifelt er an der Richtigkeit seiner Entscheidung? Auf den umliegenden Feldern sind kaum Menschen zu sehen: Eine gebückte Gestalt mit einer Schubkarre, eine Gruppe von Kindern, und ein einsamer Spaziergänger auf den Wiesen.
Cato muss an derselben Stelle stehen geblieben sein, wie der Mann mit dem Stock. Als dreizehnjähriges Mädchen ging sie über diese Zugbrücke ihrem neuen Zuhause entgegen. Es geschah an einem Dienstag, dem 12. März im Jahr 1828. Ich wollte, sie hätte auch gezögert, aber das war unwahrscheinlich. Sie hatte eine beschwerliche Reise hinter sich und ich kann verstehen, dass sie schnellstmöglich am Ziel sein wollte.
Sie waren vor etlichen Tagen aus Den Haag abgereist, der Stadt, in der sie nach Delft noch einmal gewohnt hatten. Im Morgengrauen machten sie sich, beladen mit ihrem Gepäck, auf den Weg: Vater Tobias, Mutter Christina, Cato, ihre jüngeren Schwestern Marie und Stientje, die beiden Knirpse Wim und Karel, und dem erst ein paar Wochen alten Freddie. Sie gingen an der Grote Kerk vorbei, über den Fischmarkt und den Grünmarkt und warfen einen letzten Blick auf den Binnenhof. Ich stelle mir vor, wie sie versuchten, sich die Bilder und Eindrücke im Gedächtnis einzuprägen: Die Kutschen in den Straßen, die Gerüche des Marktes.
|63|Bei der Stadtschänke lagen die reisefertigen Treckschuten. Für die Familie Braxhoofden waren nach Amsterdam Plätze reserviert, wo sie, gemäß Fahrplan noch am selben Tag ankommen würden. Nachdem der Schiffer das Gepäck festgezurrt und sein Pferd mit einem Seil am Treidelmast festgebunden hat, blieb den Menschen am Kai kaum Zeit, sich voneinander zu verabschieden. Man umarmte sich und weinte, bis alle an Bord mussten. Tobias, Christina und die Kinder, sowie die meisten gewöhnlichen Passagiere, suchten sich einen Sitzplatz an Deck. Planen aus Leder schützten vor Regen und Kälte. Wer es sich erlauben konnte, saß im Innern des Schiffs. Mit einer Geschwindigkeit von sieben Kilometern pro Stunde verschwand der Turm der Grote Kerk, der höchste im ganze Umkreis, aus ihrem Blickfeld.
Der rhythmische Trott des Zugpferdes wiegte die Passagiere in Schlaf. Die Reise mit dem Schiff war viel angenehmer als die Reise mit der Postkutsche über holprige Straßen. Dank des ausgedehnten Kanalnetzes und den aufeinander abgestimmten Fahrplänen, konnte man das ganze Land bereisen. Der Haager Kanal verband die Stadt mit Leiden. Von dort fuhr alle zwei Stunden ein Schiff nach Amsterdam.
Die Reise in die ungeliebte Region Drenthe kam einer Auswanderung gleich. Es war für Cato nicht das erste Mal, dass sie umziehen musste, denn sie hatte bereits in Namur, Delft und Den Haag gewohnt. Aber nie zuvor hatte ein Wegzug so große Folgen gehabt. Ihre Eltern hatten der Hausrat verkauft oder verschenkt und sich von den übrigen Familienmitgliedern verabschiedet. Keiner wusste, ob man sich jemals wiedersehen würde.
Dass meine Vorfahren aufgrund eines Veteranenvertrages des Kriegsministers eines Tages in einem Obdachlosenasyl wohnen würden, konnte keiner voraussehen. Ich suchte nach einem dramatischen Grund für ihre Abreise nach Veenhuizen, aber sehe nun, dass es sich um eine Beförderung, oder jedenfalls um eine Gunst handelte. Die neue Kolonie war für alle ein Glücksfall, denn dort konnte mein Ahne, trotz seiner Invalidität, die Familie ernähren. Allmählich wurde mir klar, dass die vornehme Aura, |64|die meine Familie dem Namen Braxhoofden verliehen hatte, weder etwas mit Adel noch mit Reichtum zu tun hatte. Es war viel einfacher: Tobias war als Aufseher ein angesehener Mann. Er stand eine Stufe höher auf der sozialen Leiter der Bettleranstalten als ihre anderen Bewohner. Eine kleine Stufe, aber immerhin.
Amsterdam war ein üblicher Halt auf der Route nach Veenhuizen. Weil es in Drenthe damals noch keine Straßen gab, konnte die Kolonie nur auf dem Wasserweg erreicht werden, über die Zuiderzee. Die zukünftigen Kolonisten, die auf ihre Überfahrt warteten, durften die Pritschen benutzen, die in den Militärbaracken bei der Utrechtpforte standen. Hier haben schon Napoleons Truppen biwakiert.
Cato und ihre Familie war nicht lange in der Hauptstadt, denn das Schiff, das sie nach Meppel bringen würde, fuhr einmal pro Woche. Nachdem es vom Texelschen Kai abgelegt hat, standen die Passagiere noch so lange an Deck, um sich die Stadt anzusehen, bis sie beim Verlassen des IJ ins Schiffsinnere geschickt wurden, damit der Kapitän auf See ungehindert manövrieren konnte. Im Schiffsbauch konnte man kaum atmen, es war kalt, das Gepäck rutschte hin und her, es roch nach Seilen und Teer. Die Mütter drückten ihre Säuglinge an sich, denn für die Kleinsten und Schwächsten konnte eine solche Reise vor allem im Winter ein fatales Ende nehmen.
Die Fahrt über die Zuiderzee war mehr als nur eine unbequeme Reise mit hohen Wellen und seekranken Passagieren. Jetzt gab es keine Umkehr mehr. Es war wie das Überschreiten des Rubikons: Man konnte zwar zurückkehren, aber die Folgen waren nicht absehbar. Vor allem nicht im Jahr 1828.
Als die Passagiere in Meppel wieder sicheren Boden unter den Füßen hatten, begriffen sie sofort, dass sie in einer anderen Welt angekommen waren. Die Treckschute, die sie anschließend über den Drenthsche Hauptkanal zog, sah aus wie jene in Den Haag, nur nannte man sie hier »Snik«. Der Schipper sprach in einem Dialekt, den die Städter nicht verstehen konnten, und in der |65|Landschaft standen seltsame niedrige und dunkle Hütten. Solange man durch die westlichen Provinzen Hollands fuhr, sah man überall Menschen und Häuser und entgegenkommende Schiffe. Doch während der zwanzigstündigen Fahrt durch Drenthe sahen sie nur Plaggenhütten und die noch ärmlicheren Hütten der Torfstecher, die von nah und fern gekommen waren, um die Torfschicht, Stück für Stück, abzutragen. Torfsumpf, so weit das Auge reichte.
Nachdem sie einen ganzen Tag lang nur geradeaus gefahren waren, machte der Treidelweg zweimal eine Linkskurve. Auf der ersten, kartografisch korrekten Landkarte der Niederlande, auf der Drenthe im Jahre 1822 verzeichnet wurde, ist der Kolonievaart-Kanal zu sehen: Eine schmale Fahrrinne durch ein Niemandsland, die in ein abseits gelegenes Quadrat mündet, dem Grundriss einer sich noch im Bau befindlichen Anstalt. Sechs Jahre nach Erscheinen der Karte, als der Snik die Familie Braxhoofden nach Veenhuizen brachte, waren alle drei Anstalten schon in Gebrauch, aber vom Kolonienkanal aus konnte man sie nicht sehen. Die erstickende Monotonie der Landschaft schnürte so manchem Reisenden die Kehle zu.
Und plötzlich, mitten in dieser Einöde, tauchten die Anstalten auf: kühle Mauern aus Stein, noch ohne schmückende Lindenbäume.
Im Veteranenvertrag, den der Kriegsminister mit Johannes van den Bosch geschlossen hat, fand ich eine Liste mit Leistungen, auf die Familien wie die Braxhoofdens ein Anrecht hatten:
178 verheiratete Männer der Garnisonskompanien mit ihren Familien.
Jede Familie erhält eine eigene Wohnstätte mit ausreichend Raum zum Leben und Schlafen, des weiteren Möbel, Bettzeug und alles, dessen sie sonst bedürfen.
Jede Familie erhält einmal in der Woche von der Gesellschaft für Wohltätigkeit 12 niederländische Pfund koloniales Roggenmehl, |66|2/3 niederländische Hektoliter Kartoffeln und für 90 Cent Marken, welche beim Krämer der Anstalt einzulösen sind. Die Familie erhält auf Wunsch ein Stückchen urbar gemachtes Land von 500 Quadratellen, worauf Gemüse oder Früchte nach eigenem Geschmacke anzubauen erlaubt ist.
Die Gesellschaft für Wohltätigkeit verpflichtet sich dazu, den Familien so viel Arbeit in der Fabrik und auf dem Feld zu verschaffen, wie sie es wünschen.
Unteroffiziere und Korporäle erhalten außerdem wöchentlich einen ihrem Rang zukommenden Extrasold in Form von Marken oder Taschengeld:
Sergeant Major 50 Cents; Sergeant 40 Cents; Fourier 30 Cents; Korporal 20 Cents.
Die Veteranen ist es gestattet, pro Tag auf deren eigene Kosten, Genever im Werte von täglich 5 Cent zu erwerben.
Als Cato am 12. März 1828 in Meppel von Bord ging, war Johannes van den Bosch nicht in Drenthe. In den ersten Jahren besuchte der General noch regelmäßig seine neuen, »unfreien« Kolonien. Stolz wie ein Gutsherr kam er angeritten und wollte von den Kolonisten wissen, was sie beschäftige. Dass er sich mit seiner Familie in Drenthe niedergelassen hatte, war ein Zeichen dafür, wie sehr ihm die Kolonie am Herzen lag. Aber schon in dem Jahr, in dem die Braxhoofden nach Veenhuizen kamen, hat der König Johannes van den Bosch als Gouverneur nach Niederländisch-Ostindien geschickt. Diese neue Aufgabe brachte er mühelos in Einklang mit seinen Idealen vorort: Wenn er die niederländische Staatskasse mit höheren Einnahmen aus Ostindien füllen würde, hätte er mehr Geld zur Bekämpfung der Armut in seinem Vaterland zur Verfügung. Während Cato mit ihren Eltern und Geschwistern versuchte, sich an das neue Leben in der Kolonie zu gewöhnen, bereitete sich der General auf seine Reise nach Übersee vor. Er kümmerte sich persönlich um den Umbau der Fregatte, die ihn und seine Familie nach Niederländisch-Ostindien bringen sollte. Er ließ englische Möbel, Kleider aus Paris, Schmuck, Zigarren, |67|gesalzenes Fleisch, Gemüse, sechs Kisten mit Zuckergebäck, vier Kisten mit Brot, eine Bibliothek aus zwölfhundert Büchern (Voltaire, Shakespeare, Vondel) und auch eine Eselin und ein paar Kühe, die für den fünf Monate alten Generalssohn Milch geben sollten, an Bord bringen. Die Fregatte legte erst ab, als der Säugling kräftig genug war, um die strapaziöse Schiffsreise unbeschadet zu überstehen.