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|6|Vorwort

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Nach den ersten paar Sätzen von Suzanna Jansens Paradies der Armen war es um mich geschehen. Ich konnte das Buch nicht mehr aus der Hand legen. Eigentlich hatte ich in diesem Moment noch so viel zu tun, aber die Geschichte ließ mir keine Ruhe. Ich musste das Buch zu Ende lesen! Das Paradies der Armen ist ein faszinierendes, ein reiches Buch. Worin aber liegt diese Faszination?

Erstens ist es eine Familiengeschichte, erzählt aus der Perspektive der Frauen die deshalb auch »Das Jahrhundert meiner Mutter« oder besser noch »Die zwei Jahrhunderte unserer Großmütter und Urgroßmütter« genannt werden könnte.

Zweitens ist es ebenso wichtig zu erwähnen, dass es die Geschichte einer Familie ist, die früher zu – oder beinahe zu – den Armen und Landstreichern gezählt wurde. Das sind Geschichten, die wir kaum kennen. Man hat darüber geschrieben, aber nie von innenheraus. Alle Quellen, die Suzanna Jansen fand, hat sie genutzt. Sie hat hier wie eine Forscherin gearbeitet, die eine Scherbe nach der anderen ausgegraben, alle zusammengefügt und zu einem Ganzen rekonstruiert hat.

In der Zeitgeschichte findet man alles, was mit Armut, Verelendung und Unrecht zu tun hat. Es geht hier um Menschen, die man nicht sehen wollte, die nichts zu melden und nur begrenzt das Recht hatten, ihr Leben in die Hand zu nehmen. Menschen, die auf verschiedenste Weise mit der Bürokratie Bekanntschaft machten, zuerst mit der Wohltätigkeitsgesellschaft, dann mit dem Kloster, wo mehrere Familienmitglieder untergebracht wurden, Konservative wie Sozialdemokraten in Europa haben mit ihnen in Europa auf die verschiedenste Weise experimentiert und zu guter Letzt setzte man sie den mehr oder weniger moderne Praktiken der Psychiatrie aus. Diese kurz gefasste Sozialgeschichte macht das Buch besonders faszinierend. Alles wird in einen Kontext gebracht.

Aber es ist nicht nur eine Familiengeschichte. Sie erinnert mich zugleich auch sehr an den Umgang mit fremden Menschen in |7|Europa, von Obdachlosen und Ausländern bis zu Muslimen, der sich ähnlicher rhetorischer Strategien und Ideen bedient.

Drittens finde ich das Buch interessant, weil es dem Geschichtsliebhaber umfangreiches Studienmaterial bietet. Zuerst zur allgemeinen Geschichte, wie das Bürgertum der Verelendung begegnete: Wie bringen wir Ordnung ins Chaos? Denn oft wurden viele Maßnahmen aus Eigennutz getroffen, man wollte auf der Straße keine Bettler sehen. Heute macht man das Gleiche in den Niederlanden mit Junkies, in Deutschland, Österreich oder Norwegen versucht man mit Bettelverboten die Humanität aus den Straßen zu treiben.

Zugleich ist das Buch eine wunderbare Fallstudie zum Thema Familienmythos, der sich durch das ganze Buch zieht. Im Buch von Suzanna Jansen begegnet man mehreren solcher Mythen und Familientraumata. Langsam entdeckt man die Wahrheit hinter dem Mythos, dass die Familie früher von Adel gewesen sein soll und dass ein Kind verstoßen worden sei, weil es einen Katholiken heiratete. Die Wirklichkeit war nicht weniger interessant. Was für eine spannende Geschichte!

Das Wichtigste für mich aber ist, dass es ein liebevolles Buch geworden ist, ein respektvolles Buch, ein sehr persönliches Buch. Dank Suzanna fühlt man sich immer mehr mit den Frauen verbunden, die nicht mehr unter uns weilen, man hat Respekt vor ihnen. Zum Schluss des Buches werfen wir einen Blick auf den Friedhof in Veenhuizen, wo die Kolonisten begraben sind – und es sind viele! Es sind Stätten des Grauens. Nicht umsonst nannte man Veenhuizen damals das Sibirien der Niederlande.

Aber dieser Ort war viel mehr: Es war Teil der ersten bürgerlichen (!) Utopie in Europa, mit Arbeit, Erziehung und Religion die Armen in Bürger verwandeln zu wollen. Dieses erste große Sozialexperiment des 19. Jahrhunderts hat einen solchen Schaden angerichtet, dass es zum UNESCO-Weltkulturerbe erklärt werden soll, um uns eine Warnung vor einem herrischen, technischen Umgang mit dem Anderen zu sein.

Unter einer Wiese mit einer protestantischen und einer katholischen |8|Trauerweide liegen etwa 11.250 Menschen begraben. Auch einige aus Suzannas Familie, was sie wiederum liebevoll beschreibt. Mit aller Sorgfalt hat sie die Geschichte um und um gedreht, jedes Fragment, und sei es noch so klein, jede Erinnerung, die noch zu finden war, aufgespürt.

Sie hat ihnen ein großartiges Monument errichtet!

Geert Mak, Dezember 2015


Das Paradies der Armen

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