Читать книгу Anschlag auf Olympia - Sven Felix Kellerhoff - Страница 13
bis Forderung
ОглавлениеIm Olympischen Dorf gibt es eine gute halbe Stunde nach den ersten Notrufen außer der Nachtschicht der Kriminalwache noch niemanden, der sich um die Koordination der Situation kümmern kann. Also übermittelt Schichtleiter Johannes Lu. die wesentlichen Punkte des mit Maschine getippten Schreibens in englischer Sprache zunächst per Funk ans Polizeipräsidium. Das Ultimatum beginnt mit Beschimpfungen Israels, doch den Großteil machen arabische Namen aus; mehr als zweihundert, überschlagen die Beamten (tatsächlich sind 236 Personen aufgeführt). Es handelt sich um Gefangene in israelischen Gefängnissen, vorwiegend um Kämpfer der PLO, der Fatah und anderer Organisationen sowie um einen Japaner. Außerdem stehen da zwei deutsche Namen: Andreas Baader und Ulrike Meinhof, die beiden bekanntesten Mitglieder der RAF, die seit Juni in deutschen Gefängnissen sitzen. Alle 236 Personen sollen bis neun Uhr freigelassen werden, sonst würden die Geiseln erschossen.1
Gerade erst sind diese Forderungen durchgegeben, als Issa einen Krankenwagen verlangt; man werde einen Verletzten vor die Tür bringen. Nur drei oder vier Minuten vergehen, bis zwei maskierte Männer den Körper von Moshe Weinberg aus der Tür des Hauses Connollystraße 31 zerren. Aus dem Apartment Nr. 2 sehen Zelig Shtorch und zwei Mitbewohner zu; dem Schützen Henry Hershkovitz wird klar: „Das ist kein Witz. Hier passiert etwas Schreckliches.“2 Aber sie sitzen in der Falle, denn wenn sie versuchen, ihr Quartier zu verlassen, geraten sie unweigerlich vor die Mündungen der Kalaschnikows, mit denen ihre Mannschaftskameraden bedroht werden.
Zwei Polizeibeamte in Ordnerkleidung stellen fest, dass für Moshe Weinberg jede Hilfe zu spät kommt. Sie bergen den Leichnam zusammen mit Sanitätern und übergeben ihn außer Sichtweite des Tatortes an einen Rettungswagen des Bayerischen Roten Kreuzes.3 Der Tote wird umgehend zum Institut für Rechtsmedizin der Universität München gebracht.
Die ranghöchsten Vertreter der Behörden im Olympiapark sind gegen 5:30 Uhr der Kriminaloberkommissar Johannes Lu., der Kriminalinspektor Walter Na. und Konrad Mü., Hauptmann im Bundesgrenzschutz – drei Beamte des gehobenen Dienstes also. Zwar ist Polizeipräsident Manfred Schreiber mit Blaulicht auf dem Weg und wird per Funk auf dem Laufenden gehalten, aber von den Verantwortlichen in Politik und Organisationskomitee ist noch niemand informiert: Die vorläufige Sicherung der Lage an der Connollystraße hat Vorrang gehabt. Jetzt versucht die Kriminalwache ungefähr zeitgleich, den Bürgermeister des Olympischen Dorfes Walter Tröger und Bayerns Innenminister Bruno Merk zu erreichen. An den Apparat geht zunächst die Ehefrau des Bürgermeisters, der für alle Belange der 12 000 Sportler, Trainer und anderen Olympia-Teilnehmer abseits der Wettkämpfe zuständig ist. Sie informiert ihren Mann, und Tröger macht sich sofort zu Fuß auf, denn er wohnt während der Spiele selbst in einer Wohnung auf dem Olympia-Gelände. Noch aber erfährt er nicht, warum er sofort zur Kriminalwache kommen soll, sondern nur, es sei „etwas passiert“.4 Auch bei Merk kommt, über einen Mitarbeiter, zunächst nichts Genaueres an. Es handele sich um eine „unklare Situation“. Merk notiert: „Rauferei zwischen Sportlern?“5
Derweil versuchen die Beamten vor Ort, alle Optionen offenzuhalten – gegebenenfalls auch die einer gewaltsamen Befreiung. Also fordert die Kriminalwache beim Präsidium Sturmgewehre an, denn sie verfügt nur über normale Polizeipistolen, während die Geiselnehmer Kalaschnikows mit den typischen, nach vorne gekrümmten Magazinen tragen. Das ist die letzte Entscheidung, die der Schichtleiter der Kriminalwache selbst treffen muss, denn endlich trifft Manfred Schreiber ein, der sofort die Verantwortung übernimmt und einen Krisenstab bildet. Der 46-jährige Polizeipräsident, bekannt als gleichermaßen zupackend wie umsichtig, lässt sich eine Viertelstunde lang so umfassend wie möglich über die Lage informieren. Denn noch bestehen vor allem Unklarheiten. So klingelt das Polizeipräsidium zwei Arabisch-Dolmetscher aus den Betten und lässt sie zum Olympischen Dorf bringen, obwohl doch Gertrud Lau. schon seit mehr als einer halben Stunde auf Deutsch mit Issa spricht und mehrere andere Beamte das mitbekommen haben. Die erste interne Ad-hoc-Meldung spricht von mindestens einem Geiselnehmer, obwohl sich schon drei unterschiedlich gekleidete Bewaffnete gezeigt haben, und von mindestens 26 israelischen Geiseln, obwohl im ganzen Haus Connollystraße 31 nur 21 Olympia-Teilnehmer aus Israel untergebracht sind.6
Inzwischen sind erste Gerüchte über einen Zwischenfall im Olympischen Dorf durchgesickert. Gegen sechs Uhr morgens ruft jemand aus der DDR-Mannschaft, die zum großen Teil im Haus Connollystraße 24 untergebracht ist, in der Pressestadt auf der anderen Seite der S-Bahn an und teilt mit, „dass bewaffnete Kräfte nachts in das Olympische Dorf eingedrungen sind und das Haus der israelischen Mannschaft besetzt haben. Es gab Schießereien, und es soll Tote gegeben haben“.7 Sofort machen sich drei DDR-Sportjournalisten auf den Weg – als „Reisekader“ sind sie verpflichtet, der Staatssicherheit nach ihrer Rückkehr Bericht über außergewöhnliche Ereignisse zu erstatten.
Auch außerhalb Münchens werden jetzt Behörden auf die Geschehnisse im Olympischen Dorf aufmerksam: Um 6:10 Uhr fordert der Lagedienst des Bundesinnenministeriums in Bonn einen Bericht an, der umgehend mündlich erteilt wird. Zu seinen Aufgaben gehört es, die Sicherheitsbeauftragten ausländischer Botschaften über relevante Ereignisse der inneren Lage zu informieren, wenn ihre Staaten betroffen sein könnten. Eine Geiselnahme israelischer Olympia-Teilnehmer geht Israels Botschaft an, da besteht kein Zweifel. Gegen halb sieben Uhr morgens deutscher Zeit erreicht so die Nachricht vom Überfall die Regierung in Jerusalem; hier ist es 7:30 Uhr. Aus dem Überfall im Olympischen Dorf ist eine internationale Krise geworden.
Um 6:25 Uhr erfährt Bruno Merk, dass es sich nicht um eine „Rauferei“ handelt, sondern um einen „Überfall auf das israelische Quartier“. Sofort fordert er einen Wagen an, um sich zum Dorf fahren zu lassen. Nach einer Viertelstunde wird der Minister abgeholt.8
Auch Hans-Dietrich Genscher, der als Bundesinnenminister auf nationaler Ebene für Sport zuständig ist und deshalb während der Münchner Spiele im Grand Continental Hotel wohnt, dem ersten Haus am Platze, ist sofort aus dem Lagezentrum seines Ministeriums angerufen worden. Der 44 Jahre junge Minister weckt rasch selbst seinen Fahrer und die Sicherheitsbeamten, dann geht es so schnell wie möglich los zum Ort des Geschehens.9 Inzwischen hat jedoch der morgendliche Berufsverkehr eingesetzt, und anders als Manfred Schreibers Dienstwagen hat Genschers Mercedes 280 SE kein Blaulicht; einen Streifenwagen als Geleit gibt es nicht, weil alle verfügbaren Beamten schon am Olympischen Dorf im Einsatz sind.
Davon allerdings sieht der DDR-Journalist Martin Kramer nichts, als er mit dem Rad von der Pressestadt jenseits der S-Gleise zum Dorf fährt. Ihm fallen rechter Hand des Weges Athleten aus Nordkorea und der UdSSR beim morgendlichen Training auf; linker Hand sieht er nichts Ungewöhnliches: „Das Dorf liegt ruhig. Keine besonderen Absperrungen.“ Allerdings ist das normalerweise tagsüber geöffnete Tor zwischen dem Fernsehzentrum und dem Olympischen Dorf geschlossen und bewacht; als sich Kramer nach dem Grund erkundigt, wird er auf die geöffneten Haupteingänge auf der anderen Seite verwiesen. Dort sagt ihm ein bayerischer Bereitschaftspolizist wenig später: „Gehen Sie lieber nicht hinein, wenn Sie nicht als Leiche wieder herauskommen wollen.“10
Gegen halb sieben Uhr morgens schauen die im Apartment Nr. 2 festsitzenden sechs Israelis hinaus auf die Connollystraße. Unter ihnen sind zwei Sportschützen – und sie haben ihre Waffen bei sich im Quartier. Doch Henry Hershkovitz lehnt den Vorschlag eines Sportkameraden ab, selbst zu Gewalt zu greifen: „Du weißt nicht, wie viele es sind, wie viele Israelis sie haben. Es ist besser, dass andere etwas unternehmen.“11 Sie kommen überein zu flüchten und zu hoffen, dass gerade kein Terrorist auf sie feuern kann. Fünf von ihnen entkommen; zurück bleibt Zelig Shtorch.
Etwa zur gleichen Zeit wird Gerd Bonk unsanft geweckt. Für den Gewichtheber im Superschwergewicht, einen Berg von einem Mann, ist es ein wichtiger Tag, denn am späten Nachmittag ist sein Wettkampf angesetzt; deshalb will er ausschlafen. Jetzt aber wird der 21-Jährige von seinem Mitbewohner im Quartier der DDR-Mannschaft in der Connollystraße 24 mit den Worten geweckt: „Geh’ nicht auf den Balkon, da kannst du erschossen werden.“12 Bonk, der seit 1971 als IM „Händel“ regelmäßig der DDR-Staatssicherheit Spitzelberichte liefert, hält sich an den Rat, lugt aber dennoch aus dem Fenster seines Zimmers hinüber zum israelischen Quartier.
Nach nur anderthalb Stunden Schlaf klingelt das Telefon Kriminalinspektor Heinz Hohensinn aus dem Bett. Er gehört zum Dezernat Organisierte Kriminalität und arbeitet dort als Sonderfahnder. Während der Sommerspiele ist es die Aufgabe seiner Gruppe aus jüngeren und durchsetzungsfähigen Beamten, Kriminalität in München so gut wie möglich zu unterdrücken. Hohe Polizeipräsenz mit häufigen Kontrollen soll die Halbwelt abschrecken. Obwohl Hohensinn bis tief in die Nacht unterwegs war, muss er jetzt schon wieder zum Dienst: Bewaffnet soll er ins Olympische Dorf kommen, wo eigentlich normale Polizisten unerwünscht sind.13 Jedenfalls bisher.
Um 6:37 Uhr, vermerkt ein Beamter in der Kriminalwache Olympisches Dorf penibel im Einsatztagebuch, ruft ein Redakteur des Bayerischen Rundfunks an und fragt, was denn geschehen sei? Man wolle in den Sieben-Uhr-Nachrichten berichten. Nach kurzer Rücksprache teilt der Diensthabende wortkarg mit, der Polizeipräsident habe eine Nachrichtensperre verhängt.14 Die erste von zahlreichen Pannen bei der Medienarbeit an diesem Tag. Denn so eine knappe Mitteilung hält den BR natürlich nicht davon ab, als Spitzenmeldung um Punkt sieben Uhr im Radio zu bringen, dass im Olympischen Dorf auf israelische Sportler geschossen werde. Bruno Merk hört es im Autoradio auf dem Weg zum Ort des Geschehens.15
Weil Karl-Otto Saur und seine Frau drei kleine Kinder haben, ist der junge Journalist schon um diese Zeit auf den Beinen und hört Radio, obwohl seine Arbeit in der Lokalredaktion der Süddeutschen Zeitung regulär erst um zehn Uhr beginnt. Am 1. August ist der 28-Jährige nach dem Ende seiner Ausbildung angestellt worden; die Olympischen Spiele sind sein erster „Großeinsatz“. Als Saur die knappe Nachricht im Bayerischen Rundfunk hört, ist ihm sofort klar, „dass dies eine unvorstellbare Katastrophe“ ist. Er fährt sofort los in die Redaktion, wo nach und nach seine Kollegen eintreffen. Beim wichtigsten Blatt der Landeshauptstadt herrscht „Ratlosigkeit“.16
Erst kurz nach der Radiomeldung bekommt der gerade gebildete Krisenstab Bayerns Ministerpräsidenten Alfons Goppel ans Telefon; damit sind endlich alle wesentlichen politischen Entscheidungsträger informiert. Im dritten Stock des Olympia-Verwaltungshauses an der Lerchenauer Straße haben sich inzwischen die Mitglieder des Krisenstabes versammelt: Bayerns Innenminister Bruno Merk, seit 7:10 Uhr vor Ort, übernimmt die Leitung, denn Polizeiangelegenheiten sind in der Bundesrepublik Sache des jeweiligen Landes. Genscher, der um 6:58 Uhr im Dorf eingetroffen ist, vertritt die Bundesregierung, da wegen der israelischen Geiseln zwangsläufig außenpolitischer Handlungsbedarf besteht. Vom Nationalen Olympischen Komitee ist schon seit 6:46 Uhr Willi Daume anwesend, formal der Gastgeber der Spiele in München. Um 7:10 Uhr kommt Avery Brundage hinzu, der Präsident des Internationalen Olympischen Komitees; der US-Amerikaner repräsentiert den Veranstalter der Spiele. Schreiber ist als Ordnungsbeauftragter dabei und Tröger als Bürgermeister, später erscheinen der ehemalige Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel, nun in seiner Funktion als stellvertretender Vorsitzender des Organisationskomitees, und sein Nachfolger Georg Kronawitter; jeweils mehrere hohe Beamte aus dem bayerischen Innenministerium und aus dem Auswärtigen Amt komplettieren das ad hoc gebildete Gremium.17 Viele verschiedene Interessen sind zu berücksichtigen, trotzdem ist sich der Krisenstab sofort einig, auf Kompetenzgerangel und formale Abstimmungen zu verzichten.18 Merk notiert genervt: „Riesengedränge (alle Offiziellen …).“19
Nachdem Genscher sich so umfassend wie möglich informiert hat, lässt er eine Verbindung zu Bundeskanzler Willy Brandt in dessen Dienstwohnung auf dem Bonner Venusberg herstellen. Gegen 7:30 Uhr reden die beiden miteinander; Genscher teilt dem Regierungschef seine Einschätzung mit und empfiehlt eine Sondersitzung des Kabinetts. Dann ruft er Außenminister Walter Scheel an, der zugleich Vorsitzender des Koalitionspartners FDP ist, also ein Parteifreund des Innenministers. Viel tun kann die politische Spitze aber aktuell nicht.20 Auch den Bundespräsidenten Gustav Heinemann, den Schirmherrn der Spiele, informiert der Innenminister persönlich.21 Schließlich gibt Genscher noch seinem Verbindungsoffizier zum Bundesgrenzschutz, Oberstleutnant Ulrich Wegener, die Weisung, den israelischen Botschafter in Deutschland so schnell wie möglich ins Olympische Dorf zu bringen. Wegener organisiert eine Maschine der Bundeswehr auf dem Flughafen Köln-Bonn für Eliashiv Ben-Horin und den Transfer dorthin. Ziel des Fluges ist der Luftwaffen-Fliegerhorst Fürstenfeldbruck, der während der Spiele als zusätzlicher Olympia-Flughafen dient.22
Ungefähr zur gleichen Zeit kommen die beiden DDR-Sportjournalisten Dieter Wales und Wolfgang Gitter am Tor zur unterirdischen Fahrbahn der Connollystraße an. Sie können ohne Schwierigkeiten passieren, obwohl sie normale Straßenkleidung tragen, keine Trainingsanzüge. Ihre „ID-Anhänger“, die sie als Reporter mit Zugang zum Olympischen Dorf ausweisen, müssen sie nicht zeigen – sie stellen sich nur vor und bitten darum, das Quartier der DDR-Athleten aufsuchen zu dürfen. „Sie wollen zu Ihrer Mannschaft“, antwortet ein Ordner: „Na, gehen Sie nur.“23 Die weiträumige Absperrung, die Manfred Schreiber bald nach seinem Eintreffen im Olympischen Dorf angeordnet hat, ist bis 7:45 Uhr nur auf der oberen, der Fußgänger-Ebene der Connollystraße umgesetzt; hier lassen eine innere Sperrkette aus hellblau gekleideten Ordnern und eine äußere, vom Tatort aus nicht sichtbare Reihe uniformierter Beamter niemanden durch. Die untere Ebene aber wird erst jetzt von Bereitschaftspolizei wirksam gesichert, und diese Männer sind unnachgiebig: Als wenige Minuten nach den zwei DDR-Sportjournalisten am selben Tor ein ZDF-Kamerateam mit dem bekannten Moderator Harry Valérien um Einlass ins Dorf bittet, wird ihnen der Zugang verwehrt – trotz ihrer Presseausweise.
Derlei ist für Münchens Polizei-Vizepräsidenten Georg Wolf natürlich kein Problem. Der Stellvertreter von Schreiber hat an diesem Dienstag eigentlich frei und ist deshalb per Telefon nicht erreichbar gewesen, doch er hört die Nachrichten des Bayerischen Rundfunks und eilt los. Kurz vor acht Uhr trifft der studierte Jurist am Haupteingang ein und wird sofort weiter zum Krisenstab in den Büroräumen des Bürgermeisters des Olympischen Dorfes geführt. Als Chef der Schutzpolizei und bewährter Einsatzleiter ist er dort eine wichtige Verstärkung.
In Tel Aviv erfährt Zwi Zamir, der Chef des israelischen Auslandsgeheimdienstes Mossad, von der Geiselnahme in München. Umgehend macht er sich auf den Weg nach Jerusalem, um Ministerpräsidentin Golda Meir zu treffen. Wie Israel auf diese Herausforderung reagieren wird, muss die Regierungschefin nach Absprache mit dem Kabinett entscheiden.24 Etwa zeitgleich wird auch Oberstleutnant Ehud Barak informiert, der Kommandeur der Eliteeinheit Sajeret Matkal der israelischen Armee. Er ruft sofort seinen direkten Vorgesetzen Aharon Yariv an, den Chef des Militärnachrichtendienstes Aman: „Wir sind abmarschbereit. Keine Chance, dass die Deutschen das hinbekommen, die nicht einmal wissen, was sie da haben.“ Nicht Geringschätzung bringt Barak dazu, obwohl er „die Deutschen“ nicht mag, sondern Verständnis: „Die Deutschen haben keinerlei Erfahrungen im Kampf gegen solche Terroristen, wo es um Geiselbefreiung geht und dann auch noch an einem Ort wie dem Olympischen Dorf.“ Der Offizier hat nicht nur im Sechstagekrieg, sondern auch bei verdeckten Einsätzen seiner Truppe Kampferfahrungen gesammelt und sagt darauf gestützt über die Aussichten der deutschen Polizei: „Keine Chance, dass sie das schaffen. Sie werden alle möglichen Anfängerfehler machen, die jeder macht, wenn er nicht gut genug ausgebildet ist. Und das könnte sehr teuer werden. Also, ich bitte Dich dringlich, denjenigen, der die Entscheidung zu treffen hat, zu überzeugen.“25
Inzwischen verbreitet sich die Nachricht von der Geiselnahme mit bereits einem toten Israeli im Olympischen Dorf um die Welt. Um neun Uhr Ortszeit (acht Uhr Münchner Zeit) berichtet der israelische Rundfunk; zur selben Zeit strahlt die BBC per Kurzwelle eine knappe Meldung aus, die in vielen Ländern der Erde empfangen werden kann. Vor allem im Nahen Osten sind die Reaktionen heftig: Über „unkontrollierbare Wut“ auf Israels Straßen berichten Beobachter, während in Beirut „militante Palästinenser“ über die Geiselnahme „jubeln“.26
Ungefähr gleichzeitig klingelt in Zimmer 1810 des Sheraton München das Telefon und reißt Jim McKay aus dem Schlaf. Der Sportreporter des US-Senders ABC vermutet einen Irrtum, denn er hat keinen Dienst – doch dann erfährt er, was geschehen ist. Sein Chef Roone Arledge bestellt ihn für mittags ins DOZ, er soll die Livemoderation aus München übernehmen. Doch wenig später erhält er den nächsten Anruf: Die Sendezentrale in New York will so bald wie möglich nach München schalten, und er soll sofort kommen, um sich vorzubereiten. McKay macht sich auf.27
Vor dem Eingang zum Haus 31 kommt es zu einer Wachablösung aus eigener Initiative: Die Kriminalhauptmeisterin Anneliese Graes, vom Polizeipräsidium Essen an das Organisationskomitee ausgeliehen, geht zu ihrer Kollegin Gertrud Lau., die seit fast drei Stunden als Verbindungsfrau den Kontakt mit Issa gehalten hat und schon seit 20 Uhr im Dienst ist. Die beiden Frauen gehören zu den nur gut drei Dutzend weiblichen Mitgliedern des Ordnungsdienstes, dessen übrige knapp 2000 Angehörige Männer sind. Graes’ Vorgesetzte sind gegen ihren Vorschlag, die Kommunikation mit Issa zu übernehmen, aber sie lässt sich nicht aufhalten.28
Einen deutlich besseren Überblick als die Polizistin in hellblau hat Wolfgang Gitter. Der ostdeutsche Journalist hat es von der Auto-Ebene der Connollystraße ins DDR-Quartier geschafft und schaut aus dem Zimmer eines Verbandstrainers hinaus; gegenüber liegt der erste Stock des besetzten Hauses. „Entfernung etwa 15 Meter“, hält Gitter fest und beschreibt detailliert, was er sieht: „Fünf bewaffnete Kräfte schauen lachend herüber. An der Eingangstür im Erdgeschoss der Anführer im grauen Leinenanzug mit weißem Hut, das Gesicht braun verschmiert; im ersten Stock am Fenster ein Posten mit dunkelgrauem, breitkrempigem Hut, großer Sonnenbrille, rot gemustertem Hemd weit geöffnet, goldenes Kettchen.“ Ihn nennt Gitter in seinen Notizen fortan den „Cowboy“; er bekommt nicht mit, dass Issa ihn als Tony anspricht. Auch mehrere weitere Männer des Kommandos beschreibt der DDR-Journalist genau: „Zeitweilig dort beziehungsweise im Treppenhaus ein junger Mann mit krausem schwarzem Haar, rotem Hemd. Eine ihm sehr ähnliche und gleichartig gekleidete Person mit MPi an der Tür zur Balustrade im zweiten Stock; eine Person in dunkelblauem Hemd zeitweilig im Zimmer im ersten Stock, meist im Treppenhaus oder auf dem Weg in die Fahretage.“ Mehrere Mitglieder der DDR-Mannschaft greifen zu ihren Kameras und wollen Fotos machen. „Daraufhin winkt der ‚Cowboy‘ protestierend ab. ,I don’t like that‘ und greift zur MPi, ohne sie anzulegen“, registriert Gitter: „Er gibt uns zu verstehen, dass die DDR-Mannschaft nichts zu befürchten hätte.“29 Es ist 8:15 Uhr.
Der zweite Anführer des Terrorkommandos, der sich selbst „Tony“ nennt, trägt stets Cowboyhut und Sonnenbrille.
Einer der Kämpfer des Kommandos im zweiten Stock der Connollystraße 31. Alle wechseln oft die Kleidung und maskieren sich.
Vielleicht derselbe Terrorist beobachtet etwas, das sich gerade auf der Fußgängerebene der Connnollystraße abspielt.
Der Anführer des Kommandos, der sich „Issa“ nennt, im Gespräch mit Annelies Graes, die stets den richtigen Ton findet.