Читать книгу Mein Höhenflug, mein Absturz, meine Landung im Leben - Sven Hannawald - Страница 11
ОглавлениеEs wurde eine denkwürdige Zeitreise. Wann war ich das letzte Mal hier? Stimmt, vor drei Jahren, als Oma Anita ihren Achtzigsten feierte. Gerade ein einziges Mal in den letzten 22 Jahren bin ich noch kurz in meinem Heimatort Johanngeorgenstadt gewesen. Ich kann es selbst kaum glauben.
Jetzt war ich wirklich gespannt: Was erwartet mich wohl bei diesem Trip in meine Vergangenheit? Ist mir die kleine Welt, die so lange mein Universum gewesen ist, noch vertraut, ein wenig wenigstens, oder ist mir inzwischen alles völlig fremd?
Seltsam, seit ich weg bin, habe ich nur selten an die alten Zeiten in Johanngeorgenstadt gedacht, diese Kleinstadt im Erzgebirge, die direkt an der Grenze zu Tschechien liegt. Obwohl ich hier meine Wurzeln habe. Obwohl mich die ersten Jahre natürlich sehr geprägt haben.
Ich bin ein Kind der DDR
Auch wenn die meisten Menschen wohl glauben, ich wäre ein »Schwarzwälder Bub«, weil es die Medien so transportiert haben, auch wenn ich inzwischen tatsächlich die meiste Zeit meines Lebens in Furtwangen und in Hinterzarten und kurz in Berlin gelebt habe und seit fünf Jahren in München wohne – ich bin ein Kind der DDR.
Wie fast alle Kinder dort kam ich schon mit sechs Monaten in einen Hort, dann in den Kindergarten und wurde auf die Mitgliedschaft bei den Jungen Pionieren vorbereitet, die dann nach Eintritt in die Schule durch ein feierliches Gelöbnis bekräftigt wurde. Mit sechs Jahren geriet ich in das perfekt durchorganisierte Sportsystem der DDR, nachdem man mich vermessen, untersucht und getestet hatte. Meine Daten wurden in »Erhebungs- und Leistungskontrollbögen« der ESA (einheitliche Sichtung und Auswahl für die Trainingszentren und Trainingsstützpunkte des DTSB) eingetragen und ausgewertet – ich war fürs TZ (Trainingszentrum) geeignet.
Ich bin also im damaligen »Wunderland des Sports« groß geworden und habe die sportliche Ausbildung im Kinderkader und den bewährten Förderstufen erfolgreich durchlaufen. Zunächst in meinem Heimatort, im Bezirkstrainingszentrum »Hans Friedrich« der SG Dynamo Johanngeorgenstadt, ehe ich mit sehr guter Perspektive in die »Kinder- und Jugendsportschule« (KJS) nach Klingenthal delegiert wurde – als Zwölfjähriger.
Zu diesem Ausflug, zurück zu meinen Wurzeln hatte mich Uli Pramann, der Coautor dieses Buches, ermuntert. Und nun waren wir also wieder auf dem Weg dorthin, wo alles angefangen hat: Welche Gefühle werden in mir wach? Was hat sich hier verändert? Was ist geblieben? Und wie empfängt mich wohl mein erster Trainer Erich Hilbig, dem ich viel zu verdanken habe und bei dem ich mich so lange, viel zu lange, nicht mehr gemeldet habe?
Schon mit sechs Monaten kam ich (der mit dem großen Plüschtier, links) in den Kinderhort – wie fast alle Babys in der DDR.
Meine Heimat Johannsibirsk
Es war ein sonniger Frühlingstag. Und es war wie immer windig in Johanngeorgenstadt, das auf einem Hochplateau in 890 Meter Höhe liegt. Dieser Wind war mir noch sehr vertraut. Das Erzgebirge ist ja bekannt für sein eher raues Mittelgebirgsklima, das allerdings in den heißen Sommermonaten sehr erfrischend sein kann. Früher kamen viele Sommerfrischler in unseren Ort. Für ihre Werktätigen hatten VEB-Kombinate aus Halle, Leipzig oder Dresden bei uns Feriendomizile eingerichtet. Doch die Winter konnten verdammt garstig sein, sie begannen oft schon Anfang Oktober und dauerten manchmal bis Ende April. Mitunter türmten sich mächtige Schneemassen auf Häusern, Bäumen, an den Wegen und Straßen. Minusgrade von 20 Grad und mehr waren normal. Deswegen wird die Region gerne »sächsisches Sibirien« und Johanngeorgenstadt gelegentlich »Johannsibirsk« genannt.
Gut möglich, dass Menschen auch von den lokalen Witterungsbedingungen geprägt werden. Jedenfalls sind Erzgebirgler meist nicht zimperlich, viele sind sogar ausgesprochen hart im Nehmen. Und ich war wohl auch so einer.
Ehrgeiz von Anfang an
Ich war gerade drei Jahre alt geworden, als mir meine Eltern zu Weihnachten ein Paar Skier schenkten, so kurze Dinger aus Vollplaste mit einer simplen Seilzugbindung. Wir wohnten damals zur Miete in einem Haus, das an einem kleinen Hang stand, der sich zum Üben bestens eignete.
Mama schaute mir bei den ersten Versuchen aus dem Küchenfenster zu. Amüsiert beobachtete sie, wie ich Dreikäsehoch mit meinen Skiern immer wieder umfiel und in den Schnee plumpste. Und wie ich mich wieder hochrappelte. Und wieder hinfiel und – ohne zu murren oder zu verzagen – tapfer wieder aufstand, viele, viele Male. Bis es endlich gelang, die paar Meter Gartenabfahrt ganz ohne Sturz zu überstehen. Und dann nahm ich wohl sofort größere Herausforderungen in Angriff.
Wenn meine Mama dies heute erzählt, fügt sie gerne noch hinzu, dass diese kleine Episode sehr typisch für mich gewesen ist. Nein, ich hätte als Kind so gut wie nie gejammert und niemals aufgegeben. Wenn ich mir etwas in den Kopf gesetzt hatte, es wirklich wollte, dann hätte ich so lange geübt, getüftelt, getan – bis es schließlich geklappt hat.
Große Sprünge: Schon als Dreikäsehoch habe ich gerne abgehoben – allerdings in einem anderen Element.
»Der Sven wird mal ein großer Schlanker«
Als meine Mama mich am 9. November 1974 zur Welt brachte, war sie noch nicht mit meinem Papa verheiratet. Deshalb hieß ich die ersten 16 Jahre meines Lebens »Sven Pöhler«, nach dem Familiennamen meiner Mutter. Erst sehr viel später, nämlich im Jahr nach der Wende, als Papa und Mama bereits nach Westdeutschland gezogen und fleißig dabei waren, sich ein neues Leben aufzubauen, heirateten sie. Auch ich nahm natürlich den neuen Familiennamen an: »Hannawald«.
Das große Bergarbeiterkrankenhaus Erlabrunn, in dem ich geboren wurde, lag nur 3 Kilometer von daheim entfernt. Es wurde bekannt, weil dort auch noch zwei andere Weltklasse-Skispringer, nämlich Jens Weißflog (1964) und Richard Freitag (1991), auf die Welt kamen. Dieser schöne Zufall wird immer wieder gerne zitiert. Ich schätze aber, dass der erste Schrei in der Klinik Erlabrunn allein noch nicht ganz reicht, um als Skispringer mal ein Großer zu werden.
Meine Mama Regina war von Beruf Schneiderin. Sie arbeitete in der kleinen Damenschneiderei Johanngeorgenstadt, ganz in der Nähe unserer Wohnung. Oft brachte sie sogar Arbeit mit nach Hause, weil es so viel zu tun gab. Mein Papa Andreas, gelernter Maler, arbeitete in einer Produktionsgenossenschaft, die Häuserfassaden instand setzte. Später wechselte er in eine Autolackiererei, in der alte Wartburgs und Trabis zerlegt, lackiert und aufgehübscht wurden. Handwerker haben damals verhältnismäßig gut gelebt. Im Betrieb meines Papas war das Auftragsbuch oft schon in der dritten Januarwoche voll – fürs ganze Jahr. Wer also einen Termin beschleunigen wollte oder ganz dringend einen neuen Kotflügel brauchte, bediente großzügig die Trinkgeldkasse oder bot praktische Gegenleistung an. Deswegen waren zum Beispiel Fliesenleger oder Installateure immer gern gesehene Kunden.
Große Schultüte: bei der Einschulung als Sechsjähriger. Schon damals stand für mich aber eher der Sport im Vordergrund.
In seiner Freizeit war mein Papa ein begeisterter Sportler. Im Sommer saß er gerne auf dem Rad. Ein paar Winter lang war er auch Skispringer, wie viele junge Männer in Johanngeorgenstadt. Sogar ein ganz passabler, wie er immer sagte. Deswegen freute es meinen Papa natürlich auch, als ihm Günter Kühnel, ein Bekannter vom örtlichen Skiclub SG Dynamo, eines Tages sagte: »Der Sven wird mal ein großer Schlanker. Den müsste man doch unbedingt zum Skispringen bringen.«
Und so geschah es dann auch. Erste Erfahrungen hatte ich längst gemacht. Mit ein paar Kindern aus unserer Straße hatten wir am Hang hinterm Haus und auch anderswo immer wieder Schnee zusammengeschaufelt und zu kleinen – na ja – Sprungschanzen geformt. Darauf waren wirklich respektable Hupfer möglich, vielleicht ein, zwei Meter. Aber die fühlen sich mit vier, fünf Jahren ganz schön weit an.
Mir machten solche Mutproben so richtig Spaß. Ich wollte immer weiter springen, ich wollte mal ein richtiger Skispringer werden. Und meine Eltern hatten auch nichts dagegen. Im Gegenteil. Papa und Mama sagten: »Dann ist der Junge wenigstens verräumt. Und beim Sport ist er ja auch viel an der frischen Luft und tut, was er gerne tut – das ist gut.«