Читать книгу Mein Höhenflug, mein Absturz, meine Landung im Leben - Sven Hannawald - Страница 12
ОглавлениеRegina Hannawald über den Charakter ihres Sohns Sven
»Nein, ich hatte nie Angst um den Sven«
» Sven ist lange ein Kind geblieben. Als kleiner Junge war er sehr verspielt. In der Schule hat er gemacht, was gemacht werden musste – aber auch nicht mehr. Trotzdem hat es immer gut gereicht, und er hat gute Noten mit nach Hause gebracht. Nein, frech ist er nicht wirklich gewesen, aber manchmal hat es ihm Spaß gemacht, ein bisschen zu provozieren. Seine Lehrerin erzählte mal, dass er sich schon mal ganz gerne als Klassenclown produzierte. Wenn ihm zum Beispiel sein Bleistift aus der Hand gefallen war und neben die Schulbank rollte. Dann stand er ganz langsam auf, hob den Bleistift vom Boden und drehte sich ganz langsam zweimal im Kreis, ehe er sich wieder setzte. Die ganze Klasse hat gekuckt und gelacht. Das hat dem Sven gefallen.
Ich wollte nie so eine Übermutter sein, die immer aufpasst, dass der Kleine bloß keinen Sand in den Mund steckt oder vielleicht ein bisschen zu hoch klettert. Er sollte ruhig auch mal hinfallen. Wenn einer keine Erfahrungen machen darf, wie soll er sich dann gesund entwickeln?
Ob ich Angst hatte um Sven? Das wurde ich immer wieder gefragt. Nein, ich hatte nie Angst um ihn. Oh ja, er war schon als Kind ein kleiner Draufgänger, aber er hat es nie übertrieben, er hat nie ein verrücktes Risiko gesucht. Er kannte irgendwie immer seine Grenzen, und ich hatte volles Vertrauen zu ihm. Selbst als er dann beim Skifliegen seine ersten richtig weiten Sprünge gemacht hat und dann sogar über 200 Meter weit flog, hatte das für mich nichts Erschreckendes. Im Gegenteil. Ich hab mich für ihn wahnsinnig gefreut, weil ich mich in diesem Moment in ihn hineinversetzt habe. Und ich wusste, wenn er weit springt – dann ist er richtig glücklich.«
Regina Hannawald mit einem Foto des vierjährigen Sven (unten) und mit ihrem großen Sohn daheim im Garten
DDR-Sport: der Kampf um die Weltspitze
So wurde ich also mit sechs Jahren ein Teil des erfolgreichen DDR-Sportsystems. Das heißt, genau genommen war ich das ja schon sehr viel früher.
Weil die DDR ein eher kleines Land mit nur 17 Millionen Einwohnern war (36. Platz auf der Bevölkerungstabelle der Welt) und weil jährlich nur zwischen 250.000 und 300.000 Kinder geboren wurden, kam es auf eine effektive Sichtung und Auswahl sportlich talentierter Kinder an. Denn die DDR strebte ein ganz wichtiges Ziel an: Sie wollte eine sportliche Großmacht werden und bleiben. Als treibende Kraft tat sich besonders der sportbegeisterte Genosse Walter Ulbricht hervor. »Jedermann an jedem Ort – einmal in der Woche Sport« – mit dieser Parole sollte ab 1959 die Leibesertüchtigung im Alltag und im Betrieb forciert werden. Später wurde Ulbrichts Parole offiziell deutlich erweitert: »Jedermann an jedem Ort – mehrmals in der Woche Sport«.
Schon in der Verfassung der DDR (Artikel 25) wurde die gesellschaftliche Relevanz des Sports festgeschrieben: »Freude, Frohsinn, Entspannung, allseitige Entwicklung des Menschen, Gesundheit, Stärkung des Ansehens unserer Republik, bereit zur Arbeit und zur Verteidigung der Heimat« – dies waren also die erklärten Ziele des Sports. Breitensport hatte in der DDR von Anfang an eine große Bedeutung.
Ein Stück Zeit-geschichte: das Buch »Goldkinder. Die DDR im Spiegel ihres Spitzensports« der Autorin Grit Hartmann
Sportler als Diplomaten im Trainingsanzug
Doch in Wirklichkeit ging es in der DDR-Sportpolitik noch mehr darum, den Leistungssport auf Weltniveau zu bringen. Das Kalkül war ganz einfach: Mit Siegen sollte der Klassenfeind (die Bundesrepublik) überflügelt und die Überlegenheit des sozialistischen Systems auf populäre Weise demonstriert werden. Sportler sollten zur internationalen Anerkennung der DDR beitragen – als »Diplomaten im Trainingsanzug«.
Schon 1962 wurden die zuständigen Funktionäre beauftragt, ein lückenloses Verfahren zur Talentsuche und Talentauslese auszutüfteln. Das umfassendste sportliche Fördersystem der Welt entstand. Die Formel für das Erfolgsrezept des DDR-Sports: Die Olympiavorbereitung sollte schon im Kindergarten und in der Schule beginnen.
Wie genau das System des DDR-Sports mit seinen komplexen Kommandostrukturen schließlich funktionierte, mit welchen Methoden höchstmögliche Effektivität erzielt wurde, warum der Sport zum einzigen ostdeutschen Spitzenprodukt von Weltgeltung werden konnte – das alles kann man akribisch genau in einem faktenreichen Buch nachlesen, das die Leipziger Autorin Grit Hartmann schon 1997 veröffentlicht hat: »Goldkinder. Die DDR im Spiegel ihres Spitzensports«.
Wie in der DDR Talente gesichtet wurden
Eine ganz wichtige Errungenschaft für das Entdecken von Talenten hieß: ESA. Das ist die Abkürzung für »einheitliche Sichtung und Auswahl für die Trainingszentren und Trainingsstützpunkte des DTSB«. Nach einer zweijährigen Erprobung im Bezirk Leipzig wurde die ESA bereits 1973 in der ganzen DDR eingeführt. Sie funktionierte in zwei Schritten. Der erste: eine Art Grobauswahl. Die war Sache von den Sportlehrern an den rund 5000 allgemeinbildenden Schulen im Lande, sie sollten die Erstklässler und noch einmal Schüler in der dritten Klasse genau überprüfen. Auf »Erhebungs- und Leistungskontrollbögen« mussten sie alle möglichen Daten eintragen, um jene Kinder herauszufiltern, die für eine Disziplin besonders geeignet erschienen. Man bewertete vor allem körperliche Merkmale, die auf spätere Leistungsfähigkeit hinwiesen: »Gewandtheit«, »Kraft« oder »Einstellung zum Sport«.
Neben diesen »Körperbaumerkmalen« wurde noch »das Niveau der konditionellen und koordinativen Fähigkeiten« ermittelt. Dazu nutzten die Sportlehrer Leistungskontrollen im Sportunterricht, die sie zum Abschluss eines Schuljahres ohnehin durchführen mussten: Zeigt das Kind gute Leistungen bei den Übungsformen des Geräteturnens und der Gymnastik (Rolle vorwärts, Mutsprung, Hindernisturnen)? Begreift es schnell? Zeigt das Kind bei »körperformenden Übungen« (wie Liegestütz, Klimmzüge, Rumpfheben, Klettern) eine gute Körperkraft? Zeigt das Kind im Sportunterricht Aktivität, Aufmerksamkeit und Interesse?
Als mein Jahrgang damals (1979) im Johanngeorgenstädter Kindergarten gesichtet wurde, lagen meine Fähigkeiten offenbar schon »deutlich über der Norm«. Die fürs Skilanglaufen fundamentalen Techniken, also Diagonalschritt und Doppelstockeinsatz, beherrschte ich bereits als kleines Kerlchen von vier Jahren. Bemerkenswert war wohl auch mein »gutes Bewegungsgefühl«. Und bei den Kindergarten-Meisterschaften – so erzählen meine Eltern – tat ich mich durch meine forsche Herangehensweise hervor. Mein natürlicher Ehrgeiz, eine große Portion Zielstrebigkeit und die Lust, möglichst immer zu den Siegern zu gehören, waren mir offensichtlich in die Wiege gelegt.
»Erst die SED-Diktatur ermöglichte einen derart umfassenden Zugriff auf die sportlichen Talente, um dem Medaillenstreben des Staates die höchste Priorität einräumen zu können.« René Wiese, Sporthistoriker
Warum die »finale Körperhöhe« zählt
Wissenschaftler wussten schon in den 1970er-Jahren, dass ein Faktor eine ganz entscheidende Aussagekraft für eine mögliche Sportlerkarriere hat: die künftige Statur des Kindes. Deswegen wurde von allen Kindern der Umfang von Brust und Hüfte sowie die Breite von Schulter und Becken vermessen, um daraus Prognosen für die Zukunft abzuleiten.
Wer heute die ESA-Anweisungen von damals liest, staunt über die unheimlich genauen Anweisungen. Zum Beispiel »Körperhaltung«: »Die Versuchsperson steht in Grundstellung (Beine geschlossen nebeneinander, Gewicht auf beide Füße gleichmäßig verteilt. Knie sind durchgedrückt. Maßpunkte: Die Enden des Beckenzirkels werden an die Trochanteren (also die Knochenvorsprünge am Oberschenkelknochen) angedrückt und der Messwert abgelesen. Erfassung und Eintragung in Zehntelzentimeter.«
Bei jedem Kind wurden die Mittelhandknochen besonders sorgfältig vermessen, weil sich daraus die spätere Körpergröße (»finale Körperhöhe«) wissenschaftlich einigermaßen zuverlässig prognostizieren ließ. Kinder als »Versuchspersonen« zu sehen – das klingt mit dem Abstand der Jahre irgendwie gespenstisch.
Wie gesagt: Bei mir wusste man schon frühzeitig: Der Sven wird mal ein großer Schlanker.
Die zu erwartende Körpergröße kann nach dem Entwicklungsstand des Handwurzelknochens zuverlässig berechnet werden.
Jedes 20. Kind genügte den Anforderungen
Um die wenigen ganz Großen (größer als 1,90 Meter) buhlten die Clubs und Trainer verschiedener Sportarten geradezu, um sie als Ruderer, Volleyballer, Handballer oder Leichtathleten (Wurfdisziplinen und Hochsprung) zu gewinnen. Einer wissenschaftlichen Studie zufolge wurden in der DDR pro Jahrgang nur etwa 1500 Jungen größer als 1,90 Meter, und ebenso viele Mädchen wurden größer als 1,80 Meter. Und weil ein Teil der Kinder wegen Bewegungsstörungen ausfiel und manche einfach keine Lust auf regelmäßiges, hartes Training hatten, blieb nur eine kleine Zahl künftiger ganz Großer. Übrigens spielte deshalb der Teamsport Basketball im DDR-Sport nie eine Rolle, denn die Disziplin hätte zu viele Große gebunden. Auffällig kleine und leichte Schüler waren auch willkommen, sie wurden für olympische Sportarten mit Gewichtsklassen (Boxen, Ringen, Judo oder Gewichtheben) gemustert.
Alle Daten flossen zunächst auf einer »Erfassungskartei zur Punktsumme« zusammen. Für geeignete Jungen und Mädchen folgten dann noch sportärztliche Untersuchungen und Befragungen der Lehrer und Eltern. Wenn Becken- und Schulterbreite stimmten, und nur dann, wurden auch noch »intellektuelle Fähigkeiten, kollektives Verhalten, Urteilsvermögen, Konzentrationsfähigkeit, Zielstrebigkeit, Impulsivität und Selbstvertrauen« abgefragt.
Pro Jahr genügten rund 10.000 Jungen und 5000 Mädchen den ESA-Anforderungen. Sie wurden in die 1. Förderstufe des Spitzensports delegiert. In ein TZ, also in ein Trainingszentrum.
Meine ersten Sprünge
Damals, als kaum Sechsjähriger, wusste ich nichts von den gesellschaftlichen und politischen Zielen des DDR-Sportsystems. Natürlich nicht. Auch meine Eltern machten sich deswegen, wie sie später sagten, keinen großen Kopf. Ihnen war es vor allem wichtig, dass ich beim Training gut aufgehoben war. Das Bezirkstrainingszentrum »Hans Friedrich« der SG Dynamo Johanngeorgenstadt mit seinen sechs hauptamtlichen Trainern und zwölf Übungsleitern genoss einen guten Ruf. Ich war natürlich stolz, dass ich zu den zwölf Auserwählten meines Jahrgangs gehörte, und erlebte meine ersten Schritte auf dem Weg zu einem Skispringer als spannendes Abenteuer und großes Spiel.
Anfangs trainierten wir dreimal in der Woche: einmal in der Halle, einmal Lauftraining, einmal Sprungtraining. Der Rahmenplan, der Trainingslehre und Methodik vorgab, kam aus einer übergeordneten Instanz, dem DSLV (Deutscher Skiläufer-Verband der DDR). Er sah für uns Sechsjährige eine »allgemeine athletische Ausbildung« vor. Zunächst wurde ich der Trainingsgruppe »Nordische Kombination«, die aus Skilanglauf und Skispringen, besteht, zugeteilt. Eine Spezialisierung aufs Springen, die ich von Anfang an wollte, sollte erst viele Jahre später möglich sein. Erst zehn lange Jahre später.