Читать книгу Mein Höhenflug, mein Absturz, meine Landung im Leben - Sven Hannawald - Страница 13
ОглавлениеEine ehemalige Vereinskameradin über Sven
»Wir waren 1986 mal beide Sportler des Jahres«
» Schon komisch, wie sich manchmal die Wege trennen. Manchmal reichen schon nasse Haare. Wie Sven wurde ich als Kind ins Trainingszentrum »Hans Friedrich« der SG Dynamo Johanngeorgenstadt aufgenommen. Ich war eine begeisterte Skilangläuferin. Direkt am Ortsrand gab es eine 2- und eine 3-Kilometer-Schleife. In unserer Gruppe waren wir 20 Kinder. Ein paar Mädchen kamen auch aus Eibenstock und Erlabrunn. Eine von uns war Viola Bauer, die 2002 bei den Olympischen Spielen und bei der Weltmeisterschaft 2003 mit der deutschen Staffel jeweils Gold holte.
Von solchen Erfolgen habe ich natürlich auch geträumt. Bei den Schülerrennen in unserer Region war ich meist ganz vorne mit dabei. 1986 haben sie mich in Johanngeorgenstadt zur »Sportlerin des Jahres« gewählt – und Sven wurde bei den Jungen Sieger. Als Geschenk gab es damals das »Schnatterinchen« aus der Sendung »Sandmännchen«, die bei uns Kindern total beliebt war.
Bei der DDR-Spartakiade 1988 war es für mich bestens gelaufen, ich durfte zur Siegerehrung. Ich hatte lange, dicke Haare und nach dem Rennen natürlich geduscht. So stand ich also mit nassen Haaren auf dem Treppchen – und holte mir prompt eine Erkältung. Deswegen konnte ich nicht bei einem Ausscheidungswettkampf in Klingenthal starten, der über die Aufnahme in die KJS (Kinder- und Jugendsportschule) entscheiden sollte.
Meine Chance auf weitere Förderung war verpasst. Es gab dann leider keine weitere Chance mehr. Ein paar Monate später kam die Wende. Meine Eltern hatten jetzt ganz andere Sorgen, als sich um meine Sportlerkarriere zu kümmern.«
Yvonne Oswald (geb. Helbig) war als Kind eine sehr gute Langläuferin. Heute führt sie die Pension »Zum Schanzenblick« in Johanngeorgenstadt.
»Musste ganz annersch machen«
Beim Hallentraining ging es vor allem darum, die Sprungkraft zu entwickeln. Wir absolvierten zum Beispiel Übungen, die viele vielleicht aus der Sportstunde kennen: Dreierhopp- oder Schlusssprünge. Wir mussten über Hürden springen. Und immer wieder auf einen Kasten, dann wieder runter und dabei die Landung wie beim Skispringen setzen. Es war immer ein sehr intensives Training, das allerdings durch viele Spiele (Fußball, Handball, Völkerball) gelockert wurde.
Mir taugte natürlich das Sprungtraining am meisten. Die beiden Schülerschanzen standen im Wald, der Auslauf endete am Eisstadion. Jede Trainingseinheit begann damit, dass wir vielleicht zehn Mal den einigermaßen steilen Sprunghügel hinunterfuhren, unten die Sprungskier abschnallten und sie wieder den Hang hinauftrugen. Danach durften wir richtig springen. Meist acht Mal, von der kleineren der beiden Schülerschanzen.
Es ging schon bis zu 10 Meter weit. Und Erich Hilbig sagte jedes Mal, was ihm an meinem Sprung aufgefallen war: »War zu früh«, »war zu spät« – das bezog sich auf die Absprunggenauigkeit. Oft hörte ich ihn auch sagen: »War gut.« Und manchmal: »Musste ganz annersch machen.« Dann erklärte er immer auch: wie anders ich es machen sollte.
Mein erster Trainer
Ich habe Herrn Hilbig, meinen ersten Trainer, als ziemlich strengen Mann in Erinnerung, der großen Wert auf Disziplin legte. Aber vor allem erlebte ich ihn als einen fähigen Mann, der die Feinheiten, auf die es beim Skispringen ankommt, gut erklären und vermitteln konnte. In den Medien wurde er (Jahrgang 1938) respektvoll »Medaillenschmied« tituliert.
Tatsächlich hatte Erich Hilbig vor mir schon ein paar Johanngeorgenstädter Talente, etwa Manfred Deckert (u. a. Sieger der Vierschanzentournee 1981/1982) oder Thomas Abratis (Juniorenweltmeister 1987) und später unter anderem noch Björn Kircheisen und Richard Freitag entdeckt, ausgebildet und geformt – »auf die Strecke gebracht«, wie er es ausdrückte. Seine Athleten haben bei Olympischen Spielen und Weltmeisterschaften erstaunliche 60 Medaillen geholt.
Erich Hilbig hatte Bierbrauer gelernt, spielte Handball und trainierte als Skispringer in Oberwiesenthal. Bei einem Sturz verletzte er sich schwer an der Schulter, deswegen verpasste er die Olympiaausscheidung und musste zu den Fallschirmspringern. Seine Qualifikation als Sportlehrer holte er sich per Fernstudium, in Winterlehrgängen und an der Deutschen Hochschule für Körperkultur (DHfK) in Leipzig. Titel seiner Diplomarbeit: »Vergleichende Betrachtung zwischen physischer und psychischer Belastung im Verlauf eines Sprungtrainings«.
Er war also ein Mann der Praxis und hatte schon reichlich Erfahrung. Für mich erwies es sich als ein glücklicher Umstand, dass mich dieser erfahrene Diplom-Sportlehrer damals in seinem Trainingskollektiv im Trainingszentrum Johanngeorgenstadt unter die Fittiche nahm und mir eine Perspektive bot.
An der Leipziger Deutschen Hochschule für Körperkultur wurden Trainer und (Dipl.-)Sportlehrer ausgebildet. Die DHfK ging aus dem schon 1925 gegründeten Institut für Leibesübungen hervor und bestand von 1950 bis 1990. Zuletzt waren dort etwa 1000 Sportwissenschaftler beschäftigt.
Die erste Förderstufe: das Trainingszentrum
Kurz zuvor (1977) hatte Parteichef Erich Honecker vor ersten Sekretären der SED-Kreisleitungen stolz verkündet: »Die DDR hat sich zu einer großen Sportnation entwickelt, und ich möchte hinzufügen, sie soll es auch bleiben. Deshalb messen wir der Verbesserung der kommunistischen Erziehung und Ausbildung der jungen Sportler in den Trainingszentren und Trainingsstützpunkten des DSTSB (Deutscher Turn- und Sportbund der DDR) eine große Bedeutung zu ... Gleichzeitig müssen wir darauf Einfluß nehmen, daß die Sportlerinnen und Sportler ihre sozialistische Deutsche Demokratische Republik achten, lieben und mit heißen Herzen im internationalen Wettstreit vertreten.«
In den TZ sollte jeweils die »Sportart-spezifische Grundausbildung gefördert« werden. In der ersten Förderstufe blieben die Schüler bis zu ihrem zwölften Lebensjahr. Vorrangig ging es darum, durch regelmäßiges Training Kondition aufzubauen, an wachsende Belastungen heranzuführen und auch die Willensstärke zu testen.
Die Förderung von Leistungssportlern und jener Talente, die dies werden sollten, erfolgte schwerpunktmäßig in den Kinder- und Jugendsportschulen der Sportclubs. Sonstiger Wettkampfsport sowie Breiten- und Gesundheitssport spielte sich in Betriebssportgemeinschaften ab.
Jedes Jahr halbierte sich der »Sportlerbestand«
Ein Wissenschaftskollektiv an der Deutschen Hochschule für Körperkultur (DHfK) schrieb den TZ höhere gesellschaftliche Weihen zu, denn sie »bieten uns eine hervorragende erzieherische Potenz für die Erziehung zur Lösung von Kampfaufgaben bei der Vollendung des Sozialismus.« Als günstig sehen die Ideologen dabei nicht nur die »Überwindung von Widerständen« und den »Wettkampfgedanken« an – nutzbar gemacht werden sollen vor allem »sporttypische kollektive Beziehungen«, die »von der Notwendigkeit des sich Ein- und Unterordnens gekennzeichnet sind«.
Das fiel beileibe nicht allen Schülern leicht. Nach offizieller Lesart »halbierte sich in jedem Trainingsjahr im Trainingszentrum in etwa der Sportlerbestand«, sodass von anfangs rund 60.000 Sportlern am Ende der Zeit im TZ nur noch 10.000 übrig blieben. Den Sprung zur zweiten Förderstufe – an einer der 25 Kinder- und Jugendsportschulen (KJS) – schaffte nur noch jeder Vierte. Die meisten konnten die schulischen und vor allem die sportlichen Anforderungen nicht erfüllen.
Trainingstagebuch fürs Leistungsbewusstsein
Ab 1981 wurde die Einheit von sportlicher Ausbildung und kommunistischer Erziehung in den TZ standardisiert. Die Propaganda-Abteilung des DTSB-Sekretariats verpflichtete die Kinderkader, ein von Sportpädagogen der DHfK entwickeltes »einheitliches Trainingstagebuch« (TTB) zu führen. Fast 100 Seiten für alle, die den Sprung ins zweite TZ-Jahr geschafft hatten. Wie jeder Schüler im TZ hatte ich auch so ein Heft. Es enthielt Wachstumstabellen, Monatsprotokolle, Leistungsdiagramme und Techniktafeln, auf denen die persönlichen Entwicklungskurven gewissenhaft notiert werden mussten. Auch so sollten wir leistungsbewusstes Trainieren lernen.
Aber auch private Angaben, über die Familie, Schullehrer, »Verantwortlichkeiten in der Pioniergruppe«, »Freunde und Freundinnen« oder »meine Vorbilder« sollten ins Trainingstagebuch eingetragen werden. Dies sollte praktischerweise auch die Arbeit der Auswahlkommission erleichtern, die später über die Aufnahme an die Kinder- und Jugendsportschule entscheiden mussten.
Vor allem aber war das Trainingstagebuch wohl als Instrument zur Erziehung staats- und parteitreuer Nachwuchssportler gedacht. Es lehrte frühzeitig, sich als Teil eines großen Kollektivs zu verstehen.
Ganz oben an der Spitze stand Sportchef Manfred Ewald. Er wandte sich per Brief an die »liebe(n) junge(n)Sportfreunde«: »Eurer gesunden und allseitigen Entwicklung wird in unserem sozialistischen Vaterland große Aufmerksamkeit widmet. Ihr wißt, daß die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands und unsere Republik Euch Kindern viel Liebe, Fürsorge und Geborgenheit schenken ...«
Unsere Familie 1982: mit Mama, Papa und Schwesterchen Jeannette
Der geistige Überbau
Der Weg zum Weltklasse-Athleten war in unseren Köpfen ganz klar vorgezeichnet. Wir TZ-Kinder wussten, dass wir als Zwischenziel zunächst die Aufnahme als KJS-Schüler schaffen mussten. Ich weiß wirklich nicht mehr, ob ich mich damals als Neun- oder Zehnjähriger bewusst mit den »vier Kollektiven« beschäftigt und »Training als gesellschaftlichen Auftrag« gesehen habe. Jedenfalls hatte ich diesen ideologischen Überbau längst vergessen. Aber um den Geist von damals besser zu verstehen, zitiere ich gerne noch mal eine längere Passage aus dem Trainingstagebuch, das uns von klein auf begleitet hat:
»Im Familienkollektiv findet jedes Kind Geborgenheit und Verständnis. Durch die Liebe und Fürsorge deiner Eltern kannst du dich zu einem gesunden, klugen und charakterfesten Staatsbürger entwickeln. Unsere Regierung hilft dabei mit Geld – aber auch mit Ärzten, Lehrern, Trainern und Übungsleitern im Sport.
Die Klasse ist dein Lernkollektiv. Sie wird von Klassenlehrern und Fachlehrern nach einheitlichen Lehrplänen geführt. In unserer Republik ist der Schulbesuch für alle Schüler unentgeltlich, aber Pflicht! Nutze durch fleißiges Lernen in der Schule dein Recht auf hohe Allgemeinbildung und auf mögliche Förderung in der KJS als Spezialschule.
Deine Pioniergruppe in der Klasse ist ein politisches Kollektiv, das nach dem Statut und den Gesetzen der Thälmann-Pioniere handelt. Hier erwirbst du politisches Wissen und Können, übst Solidarität und bereitest dich vor, Mitglied der FDJ zu werden. Spezielle politische Erfahrungen sammelst du aber auch im Pionierkollektiv.
Die Trainingsgruppe im TZ ist das Interessenkollektiv der jungen Leistungssportler und gleichzeitig Pionierkollektiv. Alle trainieren freiwillig und regelmäßig, arbeiten bewußt und halten Sportkameradschaft. Trainer oder Übungsleiter führen das Kollektiv nach dem Trainingsprogramm ihres Sportverbandes.«
Neben der verordneten Kollektivität, die auf Kontrolle innerhalb der Gruppe zielt und die Verantwortlichkeit der Eltern auf »Heranziehung von Staatsbürgern« zurückdrängt, nannte das Trainingstagebuch den Kindern auch schon ihre Pflicht: nämlich »dein Ziel, hohe sportliche Leistungen zu Ehren unserer Republik« zu erbringen.
In jeder der 25 KJS war zwischen 1970 und 1989 jeder Dritte ein Stasi-Mitarbeiter – dies fand der Sporthistoriker René Wiese heraus.
»Sportliche Leistungen zu Ehren der Republik«
Eine »Leistungsrakete« sollte den Weg in den Olymp bahnen. »Vier Triebwerke« sollten dabei helfen, sie wurden als »Grundwahrheiten« verkauft:
»1. Grundwahrheit: Erfolgreiche DDR-Sportler haben vielseitige körperliche Fähigkeiten – und nur wer schon im TZ alle Kraft-, Schnelligkeits- und Ausdauerübungen mit Fleiß, Genauigkeit und Härte gegen die eigenen Schwächen trainiert, bildet alle die athletischen Grundlagen aus, die ihn zu hohen Leistungen in einer Sportart befähigen.
2. Grundwahrheit: Erfolgreiche DDR-Sportler haben gute Allgemeinbildung und hohe geistige Fähigkeiten – und nur wer in der Schule und überall in unserem Leben aufmerksam lernt, wird auch im Sport mit Köpfchen um hohe Leistungen kämpfen und später unser Land in der Welt als allseitig gebildete Persönlichkeit würdig vertreten können.
3. Grundwahrheit: Erfolgreiche DDR-Sportler beherrschen Technik und Taktik ihrer Sportart mit größter Sicherheit – und nur wer schon im TZ die Wettkampfübungen und die Formen der Wettkampfdurchführung mit Fleiß und Genauigkeit erlernt und übt, schafft sich das technische und taktische Rüstzeug für hohe sportliche Leistungen und Siege.
4. Grundwahrheit: Erfolgreiche DDR-Sportler haben feste sozialistische Verhaltenseigenschaften – und nur wer in jeder Lebenssituation, auch im TZ, nach den Gesetzen der Thälmann-Pioniere handelt, wird sich alle Eigenschaften anerziehen, die ein sozialistischer Leistungssportler haben muss, um für seine Heimat, die DDR, zu siegen.«
Jeder von uns TZ-Kindern musste eine Selbsteinschätzung nach den vier Grundwahrheiten abgeben und diese von Klassenlehrern, Pionierleitern, Trainern und den Eltern unterzeichnen lassen. Leider konnte ich das Dokument nicht mehr finden. Sehr gerne wüsste ich heute jedenfalls, was ich damals so geschrieben habe.