Читать книгу Die Patchworkfamilie - Sybille Geuking - Страница 5

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Tina schaute auf die Uhr. 16 Uhr und es wurde schon dämmerig. Bald würde sie die Hausnummern nicht mehr erkennen können. Also dann ist das für heute die letzte Adresse, beschloss sie und sah nochmal auf die Karteikarte. Nummer 25. Sie stieg aus und blickte sich um. Nette Wohngegend hier, wahrscheinlich Genossenschaftswohnungen, zwar Plattenbau, aber nur dreigeschossig, mit viel Grün drum herum. Sie klingelte. Die Sprechanlage knackte und eine Frauenstimme erklang: „Ja, bitte?“ „Mein Name ist Tina Lenk vom ‚Henning-Kinderservice‘. Ich wollte zu Ihnen.“ Der Türöffner summte. Tina drückte die Haustür auf und stieg die Treppe hinauf bis in den zweiten Stock. Die junge Mutter stand schon in der Tür und bat sie herein. Sie trug einen Pferdeschwanz, Jeans und Pullover. Sie mochte Anfang 20 sein und machte einen freundlichen, gepflegten Eindruck. „Kommen Sie ins Wohnzimmer, der Kleine schläft gerade.“ Tina warf als erstes einen Blick in den Stubenwagen und bewunderte das niedliche Baby. „Bitte setzen Sie sich doch.“ Tina nahm im Sessel Platz und schaute sich im Wohnzimmer um, das auf den ersten Blick einen gemütlichen Eindruck machte. Interessiert betrachtete sie die zahlreichen Fotos, die jeweils von kleinen Tisch- oder Hängelampen akzentuiert beleuchtet wurden. Doch plötzlich durchfuhr es sie siedend heiß. Auf all diesen Bildern war ein Mann in Naziuniform abgebildet. „Heinrich Himmler“, entzifferte sie eine Bildunterschrift. In einer Glasvitrine lagen eine Hakenkreuzfahne und ein Eisernes Kreuz. Tina verzog jedoch keine Miene und begann mit ihrem Verkaufsgespräch. Die junge Frau hörte aufmerksam zu, stellte einige Fragen und schloss dann relativ rasch eine Ausbildungsversicherung für ihr Kind ab. Nachdem die Kundin unterschrieben hatte, verabschiedete sich Tina und ging zu ihrem Auto. Sie warf sich in ihren Sitz und atmete tief durch. Was war das denn? Wie konnte eine so nette junge Frau solch einen Kult um einen Naziverbrecher treiben? Tina vermutete, dass da wohl der Vater des Kindes die Haupttriebkraft war. Aber was ging sie das an? Geschäft war Geschäft und die Gesinnung ihrer Kunden konnte ihr egal sein. Sie hatte ihren Abschluss in der Tasche, sollten die doch machen, was sie wollten.

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Tina ließ den Motor an und fuhr zum nahegelegenen Kindergarten. Sie parkte den Wagen und stieg aus. Till spielte gerade im Garten. Als er sie am Eingangstor sah, kam er mit ausgebreiteten Armen auf sie zu gerannt. „Na, mein Kleiner, jetzt fahren wir nach Hause“, sagte sie und umarmte ihn. „Aber erst müssen wir uns noch von Frau Schneider verabschieden.“ Die Kindergärtnerin lächelte und schüttelte beiden die Hand: „Na dann, schönes Wochenende, bis Montag.“ Till winkte ihr zu, während er neben seiner Mutter zum Auto hüpfte. Tina öffnete die Tür und schnallte ihn auf dem Kindersitz an.

„Guck mal, was ich hier Leckeres habe.“ Sie drückte Till ein Rosinenbrötchen in die Hand. Der Junge strahlte und biss hinein. „Wir müssen noch einkaufen, Onkel Thomas kommt zu Besuch.“ „Jaaa!“, krähte der Kleine. „Dann spielen wir wieder mit dem Kaufmannsladen!“ Er überlegte kurz und platzte heraus: „Da müssen wir noch Marzipankartoffeln kaufen!“ „Na, mal sehen“, grinste Tina und steuerte den Supermarkt an. Was Thomas wohl hat, fragte sich Tina, während sie wartete, bis die Ampel wieder auf Grün sprang. Es muss doch einen Grund geben, weshalb er uns so zwischendurch besucht. Es ist weder Weihnachten noch Ostern und Geburtstag hat auch keiner. Tinas Gedanken wurden durch ein Hupkonzert unterbrochen. Die Ampel zeigte Grün. „Ja, ja, ist ja gut“, brummelte sie und fuhr los. Sie nahm die Einfahrt zum Supermarkt und fand schnell einen Parkplatz. Sie hob Till aus dem Auto und schon auf dem Weg zu den Einkaufswagen versuchte er, den Chip in Tinas Hand zu erhaschen. „Darf ich das machen?“ „Ja, klar. Hier hast du ihn. Aber pass auf, klemm dir nicht die Finger ein!“ Auf Zehenspitzen stehend, bugsierte Till den Chip in die dafür vorgesehene Öffnung am Einkaufswagen und drückte ihn mit der linken Hand mit aller Kraft in die Arretierung bis es klickte und die Kette heraussprang, mit der er an dem anderen Wagen befestigt war. Tina klappte den Kindersitz heraus und setzte Till hinein. Der baumelte mit den Beinen und genoss den Überblick von dort oben. Nachdem Tina alle Dinge, die auf ihrem Zettel standen,

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beisammen hatte, schob sie den Einkaufswagen an der Süßwarenabteilung vorbei in Richtung Kasse. „Marzipankartoffeln!“, krähte Till und deutete mit seinem Zeigefinger auf das Regal. „Na gut, ihr Naschkatzen“, seufzte Tina und packte zwei Tüten der kleinen braunen Kugeln in den Wagen. An der Kasse stellten sie sich an das Ende einer Warteschlange. Sie hatte ihre Waren schon auf das Band gelegt, als sie bemerkte, dass der alte Mann vor ihr in seinem Portemonnaie kramte. „Wenn Ihnen zehn Cent fehlen, müssen Sie etwas hierlassen“, meinte die Kassiererin. Der Mann brummelte etwas vor sich hin und durchwühlte seine Hosentaschen, fand aber offensichtlich kein weiteres Geldstück. „Was ist denn los? Warum geht es nicht weiter?“, murrte eine in der Warteschlange stehende Frau. Tina wippte mit dem rechten Fuß auf und ab. Dann zog sie ihre Geldbörse aus der Handtasche und legte ein Zehn-Cent- Stück zum Geld des Mannes. Er schaute sie verwundert an. „Danke.“ „Schon gut“, antwortete Tina und packte mit der rechten Hand ihre restlichen Sachen auf das Band, mit der linken drückte sie den zappelnden Till zurück in seinen Sitz im Einkaufswagen. „Jetzt bleib noch sitzen, bis ich bezahlt habe, danach hebe ich dich raus!“ Till gehorchte, Tina bezahlte und verstaute die Lebensmittel in dem mitgebrachten Einkaufskorb. Dann hob sie Till aus dem Wagen und lief mit ihm zu dem Parkhäuschen für die Einkaufswagen, wo er fachgerecht die Kette in einen schon geparkten Wagen einklickte und den herausspringenden Chip auffing. „Klasse!“, lobte Tina. „Jetzt aber schnell zum Auto!“ Sie griff nach Tills Hand und zog ihn mit sich fort. Zu Hause angekommen, packte sie die Einkäufe in die dafür vorgesehenen Schränke und begann, den Küchentisch für das Abendbrot zu decken. Da hupte es draußen auch schon dreimal kurz, einmal lang. Tina schaute aus dem Fenster. Till hüpfte in der Küche herum und jubelte: „Onkel Thomas ist da, Onkel Thomas ist da!“ Thomas winkte ihnen aus dem geöffneten Autofenster zu. „Ich komm runter und mach die Tür auf!“, rief Tina, riss den Schlüssel vom Schlüsselbrett und rannte zusammen mit Till die Treppe aus dem ersten Stock zum Erdgeschoss hinunter. Die Tür des smaragdgrünen Autos öffnete sich und ein Paar schwarzer, spitzer Schuhe, Größe 45, kam zum Vorschein. Thomas trug stets blank geputzte Businessschuhe. Nur beim Segeln rang er sich zu rutschfesten Turnschuhen durch. Nachdem er ausgestiegen war, strich er mehrmals mit der flachen Hand über sein dunkelblaues Jackett, das vom Sitzen im Auto einige Knitter bekommen hatte. Es war etwas länger geschnitten und saß leger, um so seine korpulente Figur zu kaschieren. Aus dem gleichen Grund trug er dunkle Jeans. Das helle Türkis des Oberhemdes ließ sein Gesicht frisch wirken, obwohl er von der langen Fahrt erschöpft sein musste. Sein Haar war sorgfältig frisiert und mit etwas Gel gestylt. Er kam auf sie zu und seine aufrechte Haltung strahlte Selbstbewusstsein aus. „Hallo, große Schwester, wie geht’s?“, begrüßte er sie. Dabei lachte er sie mit seinen graugrünen Augen schelmisch an. „Am liebsten gut, kleiner Bruder“, neckte sie zurück. So zogen sie sich immer gegenseitig auf, denn obwohl er drei Jahre jünger war als sie, hatte er sie bereits mit 10 Jahren um eine Kopflänge überragt. Er umarmte sie und strich ihr über den Rücken. Sie roch sein Aftershave und fand den Duft angenehm, aber er hatte wieder einmal etwas zu viel des Guten getan. Obwohl er sich immer sorgfältig rasierte, kratzte sein Bart leicht. Aber er war ja auch schon ein paar Stunden unterwegs gewesen. „Hallo, Onkel Thomas, hast du mir was mitgebracht?“, meldete sich der kleine Till fröhlich zu Wort. Zur Begeisterung des Jungen zauberte Thomas einen in rotglänzendes Papier gewickelten Lutscher aus dem Ärmel. „Na, du alter Rabauke, hast du dir heut schon die Haare gekämmt?“, fragte Thomas und verwuschelte Till die Haare. Dieser kicherte und fragte plötzlich, indem er auf das Auto zeigte: „Wer ist das denn?“ „Das ist meine Überraschung.“ Thomas ging zu dem Mann, der gerade auf der Beifahrerseite ausgestiegen war, fasste ihn an der Schulter und schob ihn leicht in die Richtung von Tina und Till. „Das ist mein Freund Peter. Wir sind zusammen.“ „Wie, zusammen?“, stotterte Tina und spürte, wie eine Hitzewelle in ihr hochschoss und ihr Gesicht zum Erröten brachte. „Seid ihr…?“, fragte sie und verschluckte das Ende der Frage mit Blick auf den herumhüpfenden Till.

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Der Fremde umarmte Tina mit den Worten: „Schön, Sie endlich kennenzulernen. Thomas hat schon so viel von Ihnen erzählt. Sie können mich ruhig duzen, ich heiße Peter.“ Während er sprach, schnappte seine Stimme in eine höhere Tonlage über. Tinas Gesichtsröte verstärkte sich. Was war das denn für ein komischer Typ? Total peinlich. Na, das konnte ja heiter werden. „Kommt erst mal rein. Ihr habt bestimmt Hunger. Beim Abendessen könnt ihr mir alles erzählen.“ Die vier schnappten sich Koffer und Taschen und stapften die Treppen hinauf. Tina betrachtete den Fremden, während er vor ihr lief. Er sah aus wie ein großer Schuljunge, sehr schlank, kurze blonde Haare, an den Seiten und am Hinterkopf anrasiert und die etwas längeren Haare am Oberkopf zu einem scharfen Scheitel gekämmt. Ganz das Gegenteil von Thomas, dachte sie. Sieht eigentlich gar nicht schwul aus, Thomas genauso wenig. Tina kämpfte gegen ihren Schock. Sie hatte vorher nie bemerkt, dass Thomas nicht auf Frauen stand. Manchmal hatte sie sich wohl gewundert, dass er keine Freundin hatte, aber er hatte ihr immer erklärt, dass er eben noch kein passendes Mädchen gefunden habe. Vielleicht war auch ihm damals der Grund dafür noch nicht klar gewesen. Jetzt wusste er aber offenbar, was er wollte. Und warum waren die beiden zu ihr gekommen? Doch nicht bloß, um ihr zu eröffnen, dass sie ein Paar sind. Da musste noch mehr sein. Sie zersprang fast vor Neugier.

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Kurz entschlossen öffnete Tina die Tür zu ihrem Schlafzimmer. „Ihr könnt hier schlafen, ist zwar nur ein französisches Bett, nicht so breit wie ein Doppelbett, aber für zwei Nächte wird’s schon gehen. Ich muss es nur frisch beziehen, ich wusste ja nicht, dass ihr zu zweit kommt.“ Ihr vorwurfsvoller Blick traf Thomas. „Das ist aber nett. Kann ich Ihnen helfen?“, fragte Peter, diesmal wieder in normaler Tonlage. „Ja, gerne, aber nur, wenn du mich nicht weiter siezt. Jetzt lasst uns zuerst essen, sonst wird es zu spät.“ Sie ging voran zur Küche und die zwei großen Männer und der kleine folgten ihr im Gänsemarsch. „Ja, ich hab auch wirklich Hunger“, meinte Peter. „Ich auch“, stimmte Till zu und naschte, kaum in der Küche angekommen, schon mal von den Radieschen. „Nun warte doch, bis alle am Tisch sitzen!“, tadelte Tina ihn und ließ sich auf ihren Stuhl fallen. „Wir sitzen ja schon“, grinste Thomas und stupste Till in die Seite. Der Kleine saß zwischen Thomas und Peter und fasste plötzlich nach deren Händen. „Piep, piep, piep, guten Appetit!“, rief er. „Guten Appetit!“, erwiderte die Tischrunde fröhlich und alle begannen zu essen. Eine Weile kauten sie schweigend. Dann räusperte sich Thomas und sagte in fast feierlichem Ton: „Tina, wir sind heute zu dir gekommen, um dir einen Vorschlag zu machen. Wir wollen und müssen unser Leben völlig neu ordnen. Peter möchte seine Profi-Fußballkarriere beenden und wir wollen zusammenleben. Aber in Bayern ist man schwulen Männern gegenüber recht voreingenommen, doch wir wollen uns nicht länger verstecken. Das mussten wir bisher, um Peters Fußballkarriere nicht zu gefährden.“ Tina starrte ihren Bruder an.

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„Und was wollt ihr jetzt machen und was hab ich damit zu tun?“, fragte sie. „Wir haben im Internet recherchiert und hier ein leerstehendes Gebäude gefunden, das für unsere Pläne wie geschaffen ist.“ „Wir wollen ein Hundehotel eröffnen“, erläuterte Peter, „sowas läuft in Bayern sehr gut. Das würde hier wohl auch funktionieren“, fuhr er fort. Tina blieb der Mund offenstehen. „Ihr seid verrückt“, stammelte sie, „was das kostet!“ „Darüber mach dir mal keine Sorgen, wir haben einiges gespart. Und jetzt wollen wir endlich unseren Lebenstraum verwirklichen, uns selbstständig zu machen und etwas für Tiere zu tun. Daher die Idee mit dem Hundehotel. Du sollst in die Firma mit einsteigen. Nun, Tina, was sagst du dazu?“ Thomas blickte sie erwartungsvoll an. „Hm, ich weiß nicht, da müsste ich ja meinen jetzigen Job aufgeben. Und was, wenn das dann schiefgeht?“, stammelte Tina. „Na, dann verkaufst du eben wieder Versicherungen. Außerdem geht das nicht schief. Wir haben gründlich recherchiert. Konkurrenz gibt es hier kaum und der Bedarf ist da.“ „Und wie wollt ihr jetzt weiter vorgehen?“, wollte Tina wissen. „Wir schauen uns morgen die Immobilie an. Um 9.00 Uhr treffen wir uns dort mit dem Makler. Früher war dort ein Fitnesscenter mit einer großen Sauna. Kennst du das Objekt?“ Tina nickte. „Liegt im Industriegebiet, für ein Hundehotel ideal, da stört keinen das Gebell.“

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„Na, siehst du, sei nicht so ängstlich, das kriegen wir schon hin“, meinte Thomas und legte den Arm um sie. „Die Idee stammt von mir“, ließ sich Peter plötzlich vernehmen, „wir hatten in unserer Familie immer Hunde, ich bin mit ihnen aufgewachsen und kenne mich deshalb ganz gut damit aus. Und in unserer Freizeit haben wir fleißig Bücher über Hunde und deren Haltung und Ernährung gelesen.“ „Okay, wir gucken uns morgen erst mal das Gebäude an und dann werden wir weitersehen“, erklärte Tina.

Die Patchworkfamilie

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