Читать книгу Die Patchworkfamilie - Sybille Geuking - Страница 9
ОглавлениеDer Juni war verregnet. Auch an jenem Freitag hatte es den ganzen Tag gegossen. Graue Wolken zogen über die Stadt und schütteten unaufhörlich Wasser aus. Die Hunde liefen mit schlammigen Pfoten und nassem Fell ins Haus und Tina, Thomas und Peter hatten alle Hände voll zu tun, ihre Gäste wieder sauber und trocken zu bekommen. Till hüpfte in Gummistiefeln durch die Pfützen und sammelte etwas in sein Sandeimerchen ein. „Was machst du denn da?“, wollte Tina wissen. „Ich sammle die Regenwürmer aus den Pfützen, die ertrinken sonst“, antwortete Till. „Na, du bist mir ein Schlauberger. Jetzt komm aber rein!“, lachte sie. „Schütte die Regenwürmer hier auf das Blumenbeet, die graben sich dann wieder ein“, empfahl sie Till, der daraufhin sein Eimerchen entleerte. „So, alle Hunde sind im Haus und trocken“, verkündete Thomas. „Ich fahr jetzt mal schnell einkaufen, bin vor dem Abendessen zurück.“ „Vergiss mein Nutella nicht!“, rief Till ihm nach. Thomas startete das Auto und die Scheibenwischer kämpften gegen den Regen an. Die roten Rücklichter verschwammen im
dichten Wassernebel, der unter den Reifen hoch stob. Als er in die Bahnhofstraße einbiegen wollte, war diese durch ein Polizeiauto abgesperrt und ein Polizist wies ihn mit einem Handzeichen an, weiterzufahren. Thomas sah eine Menschenmenge und hörte Geschrei. „Ach, die Rechten“, dachte er, „scheinen gegen Flüchtlinge zu demonstrieren.“ Er beschloss, auf den Parkplatz hinter der Post zu fahren. Von dort könnte er dann an der Post vorbeilaufen und in den gegenüberliegenden Supermarkt gelangen. Aber er müsste sich durch die auf der Bahnhofstraße demonstrierenden Menschen hindurchkämpfen. Er parkte den Wagen und lief mit hoch- gezogener Kapuze durch den strömenden Regen. Vor der Post blieb er stehen. Die Demonstranten reckten ihre Fäuste in die Luft und stießen sie nach vorn, in Richtung des Flüchtlingsheimes, während sie skandierten: „Deutschland den Deutschen, Ausländer raus!“ Die Menschen, die aus dem dort haltenden Bus ausstiegen, duckten sich unter den auf sie niederprasselnden Hasstiraden hinter den zu ihrem Schutz aufmarschierten Polizisten und wurden von zwei Polizisten mit den Worten: „Los, los, schnell, schnell!“, ins Haus gescheucht. Thomas beschlich ein mulmiges Gefühl und er versuchte, sich durch die aufgebrachten Menschen auf die andere Straßenseite hindurch zu schieben. Wasser aus den zahlreichen Pfützen schwappte in seine Schuhe. Plötzlich flogen Pflastersteine durch die Luft und prallten mit dumpfem Knall von den Schilden der Polizisten ab. Menschen schrien und die Polizisten wehrten sich mit ihren Schlagstöcken.
„Bloß weg hier“, dachte Thomas. Da spürte er einen harten Schlag an der rechten Schläfe, der ihn aus dem Gleichgewicht brachte. Abwehrend riss er die Arme hoch. Die Einkaufstasche mit den leeren Flaschen fiel klirrend zu Boden. Thomas taumelte. Um ihn herumschrien und rannten Menschen. Eine Gestalt mit bis über den Mund hochgezogenem Rollkragen rempelte ihn an. „Dich kenne ich doch“, dachte er beim Blick in wasserblaue, fast brauenlose Augen. Der Gedanke verlor sich jedoch im Dunkel, als er mit dem Kopf auf die Bordsteinkante aufschlug. Er fühlte noch, wie Füße über ihn hinweg trampelten. Dann spürte er nichts mehr. Aus seinen Ohren sickerte Blut.
*
Tina saß auf einem Küchenstuhl und nippte an ihrem Kaffee. Wo Thomas bloß blieb? Er war jetzt schon über eine Stunde weg. „Ich hab Hunger“, quengelte Till. Ich auch“, seufzte Tina, „Onkel Thomas muss jeden Augenblick kommen, dann gibt’s Abendessen.“ Plötzlich bellten die Hunde. Tina öffnete das Küchenfenster. Da hörte sie auch die Sirenen von Polizei- oder Krankenwagen. Sie schienen in Richtung Innenstadt zu fahren. Die Hunde bellten und jaulten. Ein riesiger Tumult. „Mama, was ist da los? Ist das die Feuerwehr? Wo brennt es denn? Mamaaa!“ „Jetzt hör auf, zu nerven, ich weiß es doch auch nicht!“ Till begann, zu weinen. „Ist ja gut, ist ja gut.“ Tina nahm Till auf den Arm und lief mit ihm auf und ab. „Ich weiß nicht, was los ist.“ Sie setzte Till ab, nahm das Telefon aus der Halterung und wählte Thomas‘ Nummer. Aber es ging kein Ruf raus. Sie versuchte es wieder und wieder, aber sie konnte ihn nicht erreichen. Sein Handy war tot. „Da muss was passiert sein, ich kann Thomas nicht erreichen“, schleuderte Tina dem soeben durch die Tür hereinkommenden Peter entgegen. Er hatte die Hunde gefüttert, die sich inzwischen beruhigt hatten. „Er geht und geht nicht an sein Handy“, sorgte sich Tina, „am liebsten würde ich losfahren und nach ihm sehen.“ „Da würdet ihr euch garantiert verfehlen, das hat keinen Zweck. Er wird schon kommen. Vielleicht ist sein Handy runtergefallen und kaputt gegangen“, versuchte Peter sie zu beruhigen. Aber am Ton seiner Stimme merkte sie, dass er daran selbst nicht glaubte und sich auch Sorgen machte. Tina schmierte Till ein Butterbrot. Sie selbst aß nichts, Peter hatte auch keinen Appetit. Abwechselnd schauten sie auf die Uhr und aus dem Fenster. Ein Polizeiwagen hielt vor dem Haus. Zwei Polizisten stiegen aus und liefen zur Haustür. Die Klingel schellte und die Hunde bellten. Tina und Peter zuckten zusammen. Tina drückte auf den Türöffner und riss die Wohnungstür auf. „Ist was mit Thomas? Ist ihm was passiert? Was ist mit ihm?“, platzte sie heraus, kaum dass die Polizisten vor der Tür standen. „Sie sind die Ehefrau von Herrn Thomas Ruland?“, fragte der eine Polizist Tina. „Nein, ich bin seine Schwester, er ist nicht verheiratet“, stammelte Tina.
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„Jetzt kommen Sie erstmal rein“, ließ sich Peter vernehmen, „ich bin sein Lebensgefährte.“ „Ja, also, wir müssen Ihnen mitteilen, dass Herr Ruland schwer verletzt im Krankenhaus liegt. Er ist gestürzt. Hat wohl einen Pflasterstein abbekommen. Die näheren Umstände müssen noch untersucht werden. Er wollte offensichtlich durch den Protestzug hindurch zum Supermarkt, denn er hatte eine Tasche mit leeren Pfandflaschen bei sich. Er ist da wohl unabsichtlich in diesen Tumult hineingeraten. Es tut mir leid.“ Der Polizist hatte seine Mütze abgenommen und drehte sie zwischen Daumen und Zeigefinger der linken Hand. Sein Kollege stand schweigend neben ihm. „Ja, es tut uns leid“, wiederholte der Polizist. „Wir melden uns bei Ihnen, wenn wir Näheres wissen. Also dann, wir müssen dann wieder. Auf Wiedersehen.“ Peter begleitete die Polizisten zur Tür. Als er wieder in die Küche kam, saß Tina auf dem Küchenstuhl und weinte. Till hatte sein Butterbrot auf den Teller gelegt und war zu ihr auf den Schoß gekrabbelt. „Mami, warum weinst du denn?“, fragte er immer wieder, aber Tina schluchzte nur und strich ihm über den Kopf. „Ich fahr da jetzt mal hin, zum Krankenhaus“, sagte Peter. „Ich komme mit“, rief Tina. „Und was machst du mit Till? Den kannst du nicht mitnehmen, das ist nichts für ihn. Kinder dürfen, glaube ich, auch gar nicht auf die Intensivstation. Bleibt ihr mal hier, ich richte Grüße von euch aus und wenn ich zurück bin, erzähl ich euch, wie’s ihm geht.“ Peter klang erstaunlich ruhig und vernünftig, doch dann murmelte er: „Diese verdammten rechten Schweine. Wie komme ich denn jetzt da hin? Ich weiß gar nicht, wo Thomas das Auto abgestellt hat. Er muss ja auch noch den Schlüssel haben. Ach, Tina könntest du mich fahren? Dann müssen wir Till doch mitnehmen, aber nicht ins Krankenhaus. Ob Thomas was braucht im Krankenhaus? Ich hab jetzt keinen Nerv dafür, was einzupacken, werd ich wohl dort erfahren.“ „Selbstverständlich fahr ich dich, ich kann sowieso nicht hier sitzen und nichts tun. Till, zieh deine Schuhe und die Jacke an, wir fahren los. Kannst dein Butterbrot mitnehmen.“ Tina half ihm beim Anziehen, schnappte sich ihre Autoschlüssel und rannte mit ihm und Peter zu ihrem Auto. Es regnete immer noch. Die grauen Wolken sorgten für einen frühen Einbruch der Dämmerung. Die Lichter der Autos spiegelten sich in den Pfützen und blendeten. Nach einer ihnen endlos vorkommenden Fahrt, die sie schweigend und jeder in seinen eigenen Gedanken versunken verbrachten, erreichten sie den Krankenhausparkplatz. Tina parkte den Wagen, sie eilten in das Gebäude und fragten sich durch zur Intensivstation. Peter drückte auf die Klingel zur Eingangstür. Eine Schwester öffnete. „Wir wollen zu Herrn Thomas Ruland.“ „Das Kind darf aber nicht mit hinein“, sagte die Schwester. „Dann warte hier auf mich, ich schaue nach Thomas, nehm dann den Kleinen und dann kannst du auch rein“, schlug Peter vor. „Ja, ist gut, wir laufen hier ein bisschen hin und her.“ Als Peter nach einer endlosen Viertelstunde wieder herauskam, hatte er Tränen in den Augen. „Wie ist es?“, fragte Tina. „Sieh selbst“, antwortete Peter. Dann nahm er Till auf den Arm und drückte ihn an sich.
*
Tina betrat die Intensivstation. Ein Geruch von Desinfektionsmitteln schlug ihr entgegen. Das Licht der Deckenlampen spiegelte sich in dem grünlich gemaserten Fußbodenbelag. Die Schwester führte sie in eine Art Umkleideraum. „Bitte ziehen Sie einen Kittel an und desinfizieren Sie Ihre Hände. Danach bitte hier entlang!“ Als Tina das Zimmer von Thomas betrat, erlitt sie einen Schock und brach in Tränen aus. Ihr Bruder lag auf einem Krankenbett, den Kopf mit weißen Verbänden umwickelt, einen Beatmungsschlauch im Mund und war an zahlreiche Geräte angeschlossen, die seine Lebensfunktionen überwachten. Sie spürte, dass er zwischen Leben und Tod schwebte und fühlte sich daneben so klein und hilflos. Es war still im Zimmer, nur das Beatmungsgerät rauschte gleichmäßig. Tina streichelte Thomas‘ Wange, aber seine Augen blieben geschlossen. Alles erschien ihr so unwirklich. Die Schwester berührte sie an der Schulter. „Möchten Sie einen Arzt sprechen? Herr Doktor Frenzel ist da. Bitte hier, im Nebenraum.“ Tina nickte. „Guten Tag. Ich bin Doktor Frenzel“, begrüßte sie der Arzt. „Wir haben Ihren Bruder operiert und in ein künstliches Koma versetzt, damit er sich erholen und beruhigen kann. Er hat einen Schädelbasisbruch und Einblutung im Gehirn, außerdem sind drei Rippen gebrochen.“ „Und wann wacht er wieder auf?“ „Das kann ich Ihnen nicht sagen. Wann und ob er aufwacht und in welchem geistigen Zustand er dann sein wird, kann ich Ihnen heute noch nicht sagen. Wir müssen abwarten. Alles, was wir tun konnten, haben wir getan. Wir müssen jetzt einfach Geduld haben.“ Tina nickte. In ihrem Hals saß ein Kloß aus zurückgehaltenen Tränen, denn sie wollte sich vor dem Arzt nicht gehenlassen. Im Vorraum erwartete sie die Schwester und bat sie, ihren Kittel in den Behälter mit der Schmutzwäsche zu werfen. Draußen im Gang warteten Peter und Till. Als Tina zu schluchzen begann, nahm Peter sie wortlos in den Arm. Till stand mit großen Augen daneben und verstand nicht, warum die beiden Erwachsenen so traurig waren. Sie waren sonst immer so stark, groß und klug und trösteten ihn, wenn er weinte. Und jetzt weinten sie selbst. Angst stieg in ihm auf, aber er wusste nicht, wovor. Das machte ihn hilflos und wütend. Er krallte sich an Tinas Bein fest und stampfte mit den Beinen, während er „Mamaa, Maamaa!“ schrie. Tina und Peter hörten schlagartig auf, zu weinen und versuchten, das Kind zu beruhigen. „Komm, Till, wir gehen jetzt zum Auto und fahren nach Hause. Onkel Thomas ist krank, er muss jetzt schlafen, damit er schnell wieder gesund wird. Deshalb müssen wir jetzt ganz leise sein.“ Peters tiefe Stimme beruhigte den Kleinen und er ließ sich von ihm an die Hand nehmen. Schweigend liefen die drei zum Auto.