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4.1 Altenhilfe im Wandel der Zeit
ОглавлениеVersorgung und Pflege alter Menschen war schon immer Aufgabe der Familie – je nach Zeit und Wohlstand ergänzt durch Leistungen der Gesellschaft.
Bereits im Mittelalter entstanden neben der familiären Verpflichtung, alte Angehörige zu versorgen, erste Ansätze zur außerfamiliären Altenhilfe: In den Städten wurden kirchliche und bürgerliche Spitäler errichtet, die gleichzeitig als Armenhaus, Altenheim und Krankenhaus dienten. Hilfsbedürftige wurden dort kostenlos verpflegt, Alte mussten dafür zahlen: Entweder durch eine einmalige Zuwendung (Pfründekauf) oder durch wiederkehrende kleinere Almosen.
Gegen Ende des Mittelalters entstanden Armenwohnungen in Form von Stiftungen, in denen alte, manchmal auch kranke oder behinderte Menschen ohne Bezahlung leben konnten.
Überzählige Kinder, für die nicht gesorgt werden konnte, wurden nicht selten ins Kloster oder zur Armee geschickt, um ihnen erst ein Auskommen und später Versorgung im Alter zu sichern.
In der vorindustriellen Zeit kam für Bauern mit etwa 60 Jahren der Moment, an dem der Hof an den (meist ältesten) Sohn übergeben wurde. Die Altbauern zogen in ein eigenes Zimmer oder Gebäude, das sogenannte Altenteil. Solange sie dazu in der Lage waren, blieben sie in die Familien- und Arbeitsgemeinschaft integriert und wurden genauso eingesetzt, beschäftigt und gepflegt wie Kinder. Der Generationenvertrag sah Erbfolge gegen Pflegeverpflichtung vor, was den Alten eine gewisse gesellschaftliche Bedeutung verlieh: Die wenigen Alten wurden wegen ihres Wissens und ihrer Lebenserfahrung geachtet.
Bei den Arbeitern war es schwieriger, da sie von der Gnade der Gutsfamilie abhingen. Alt und leistungsunfähig waren sie auf Gedeih und Verderb dem Bauern ausgeliefert. Übernahm der ihre Versorgung und Pflege nicht und waren die eigenen Kinder nicht dazu in der Lage (was meistens der Fall war), gehörten sie zum Heer der Armen.
Handwerksmeister konnten ihren Beruf meistens bis zum Lebensende ausüben. Da auch sie Betrieb und Haus rechtzeitig an die Kinder abtraten, hatten sie dort bis zuletzt ein gutes Auskommen.
Gesellen, die es nie bis zum Meister brachten, arbeiteten als Tagelöhner an der Armutsgrenze oder wurden von ihrem Meister im Haus behalten.
Vorindustrielle Lohnarbeiter wie etwa Bauarbeiter oder städtische Bedienstete waren, wenn sie im Alter nicht mehr arbeiten konnten, auf die öffentliche Wohlfahrt (Armenpflege) angewiesen oder gingen betteln.
Frauen konnten beim Tod ihres Mannes wieder heiraten und damit die Altersversorgung des neuen Lebenspartners nutzen. Ansonsten blieb ihnen nur die Möglichkeit, bei den Kindern zu wohnen oder sich im Bürgerspital einzukaufen, wo sie dann den Rest ihres Lebens verbrachten.
Mit Beginn der Industrialisierung setzte eine Veränderung vom Versorgungs- zum Leistungsprinzip ein: Wer viel schaffte, konnte sich viel leisten und selbst für sich sorgen.
Mit Einführung der Sozialversicherung verlor das Erbe an Bedeutung, der Generationenvertrag Erbe gegen Pflege war damit hinfällig. Alte Menschen wurden uninteressant, da sie weder arbeiten noch anders zum Unterhalt beitragen konnten, und lästig, da ihre Pflege die Jüngeren am Arbeiten und Geldverdienen hinderte. Ihre Erfahrungen, einst gefragt und geschätzt, galten plötzlich als veraltet und waren nichts mehr wert.
Öffentliche Einrichtungen übernahmen nach und nach die Funktion der Familien- und Hausgemeinschaften. Beruf und Altersversorgung hingen weniger von der Familie ab.
Altenhilfe wurde zu einer öffentlichen Angelegenheit: Statt sich in Ruhe und Frieden in den Schoß der Familie zurückzuziehen und dort die Früchte eines langen, harten Lebens zu genießen, wurden die Alten in die entsprechenden Einrichtungen geschickt, da niemand Zeit und Geld für sie hatte. Greisen-Asyle, Siechenhäuser, Pfründneranstalten, Hospitäler, Spitäler, Bürgerheime und ähnliche Institutionen kümmerten sich nun darum, den Alten zentral Behausung, Verpflegung und Betreuung zu sichern. Das bis dahin übliche private Leben in der Familie oder allein wurde abgelöst durch eine zentralisierte und institutionalisierte Alterssicherung. Die Verantwortung dafür ging von der Familie auf die Gesellschaft über.
Bis heute sind diese Formen der Altenhilfe üblich. Bis zur Einführung der Pflegeversicherung (1995) gab es keine Hilfen vom Staat. Abgesehen von Rente oder Sozialhilfe waren Alte und ihre Angehörigen auf eigene Reserven an Zeit, Energie und Geld angewiesen. Professionelle Pflege musste zugekauft werden. Meist gab es einen Haus- oder Krankenpflegeverein vor Ort, bei dem man Mitglied wurde und der bei Bedarf die Pflege übernahm oder notwendige Pflegehilfsmittel (Pflegebett, Toilettenstuhl etc.) verleihen konnte.
Ließen die Verhältnisse eine weitere Pflege durch die Angehörigen nicht mehr zu, musste ein Platz in einer geeigneten Einrichtung irgendwo zwischen „Zimmer mit Gesellschaft“ und „vollstationärer Pflege“ gefunden werden. Die Konzepte dafür wandelten sich mit der Zeit (12):
In den 40-er Jahren bis Anfang der 60-er wurden Einrichtungen als Verwahranstalt geplant, in der der pflegebedürftige Insasse verwahrt wurde
In den 60-er bis 70-er Jahren herrschte das Leitbild „Krankenhaus“ vor, und hier wurde der pflegebedürftige Patient behandelt
seit den 80-er Jahren hat sich das Leitbild „Wohnheim“ durchgesetzt, wo der pflegebedürftige Bewohner nun aktiviert wird.
In den letzten beiden Jahrzehnten änderten sich Blickwinkel und Bedürfnisse erneut. Der Idee von Hilfe jederzeit und später Hilfe bei Bedarf folgten andere. Auch das Konzept des Betreuten Wohnens ging auf Dauer nicht auf, da es nicht alle Bedürfnisse der Senioren berücksichtigt. In dem Maß, in dem die ältere Generation ein neues Selbstbewusstsein entwickelt und unabhängig von Familie und Staat leben will, entstehen derzeit Konzepte, in denen Leben, Wohnen und gegenseitige Hilfe statt Abhängigkeit und Verpflichtung in den Vordergrund rücken. Die Idee des Gemeinschaftlichen Wohnens beginnt sich zu verbreiten.
Auch dies wird nicht bis in alle Ewigkeit halten. Irgendwann kommen andere Strömungen und Entwicklungen.
Blutsbande – Pflege durch die Angehörigen
Frau A. lebt allein und ist halbtags berufstätig. Mittags kümmert sie sich um die Kinder ihrer berufstätigen Tochter, abends fährt sie zu den eigenen Eltern. Um die Pflege des Vaters sicherzustellen, hat sie vor einiger Zeit einen ambulanten Pflegedienst zugezogen, doch ihrem Vater fällt es schwer, fremde Menschen in seiner Wohnung zu ertragen. Frau A. überlegt nun, ob sie ganz zu den Eltern ziehen soll.
Die Versorgung eines alten Menschen ist noch immer vorwiegend Aufgabe der Angehörigen, vor allem der Frauen. Da sie aber meist selbst zum Familieneinkommen beitragen und sich zudem um die Kinder kümmern, ergibt sich für sie ein Bündel von Diensten, die im Alltag schwer zu vereinbaren sind. Daraus erwächst die Gefahr, dass die Pflege überfordert und das Hilfeversprechen sich in Hilflosigkeit wandelt. Besonders die Pflege eines dementen oder in seiner Persönlichkeit veränderten Angehörigen kann schwer belasten.
Die Unterstützung älterer Familienmitglieder durch die Angehörigen lässt sich in vier Gruppen unterteilen:
gelegentliche Hilfe bei der weitgehend selbstständigen Haushaltsführung
gelegentliche Hilfe im gemeinsamen Haushalt
umfangreiche Hilfe bei getrennter Haushaltsführung
umfassende Vollpflege im eigenen Haushalt
Während gelegentliches Putzen, Waschen, Kochen, Einkaufen und ab und zu Unterstützung bei der Körperpflege sich noch in den eigenen Tagesablauf integrieren lassen, sind umfangreichere, manchmal tägliche Pflegeleistungen in getrennten Haushalten kaum noch zu erbringen. Hier entlastet der professionelle Pflegedienst, dessen Fachkräfte schnell und effektiv die tägliche Pflege oder andere Hilfestellungen meistern und zusätzlich Beratung anbieten.
Mit Einführung der Pflegeversicherung ist diese Leistung erschwinglicher geworden. Ob und in welchem Ausmaß Hilfen möglich sind, erläutert die zuständige Pflegekasse. Reicht die Hilfsbedürftigkeit für zumindest Pflegestufe I nicht, muss nötige Unterstützung selbst finanziert werden. Ist das Geld dafür nicht da und sind die Hilfen dennoch notwendig, um Gefahren abzuwenden oder einen Pflegeheim-Aufenthalt zu vermeiden, kann unter bestimmten Bedingungen das Sozialamt einspringen.
Viele Senioren, besonders die im Alter weiter vorangeschrittenen, nehmen die Hilfe ihrer Familie dankbar an. Aber immer mehr wollen im Alter nicht von ihren Kindern versorgt werden, sich weder emotional noch räumlich oder finanziell abhängig machen. Sie wollen ihren eigenen Lebensrhythmus und -stil beibehalten und sich nicht an die Erfordernisse eines Pflegeverhältnisses anpassen. Untersuchungen belegen (13):
Senioren wollen heute so lange wie möglich selbstständig wohnen.
Immer mehr von ihnen sind auch im Alter noch umzugsbereit.
Der Bedarf an selbstbestimmten Wohnformen wächst.
Vor allem die Jungen Alten suchen frühzeitig nach Alternativen, um es gar nicht erst zu einer solchen Situation kommen zu lassen. Sie möchten oft lieber in den eigenen vier Wänden bleiben und sich von professionellen ambulanten Diensten helfen lassen, als die Familie in die Versorgung einzuspannen.