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2.2 Nie waren sie so rüstig wie heute – Das neue Selbstbewusstsein der Senioren

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Je nach Blickwinkel gelten für das Thema Altern unterschiedliche Definitionen und Schwerpunkte. Nachfolgend einige davon.

Die dritte Lebensphase – Der Begriff „Alter“

Unter „Alter“ versteht man bei uns meistens das Lebensalter, also die Zeitspanne seit der Geburt eines Lebewesens. Die Wissenschaft, die sich mit dem Alter als Lebensabschnitt des Menschen befasst, nennt sich Gerontologie.

Der meist ähnlich verwendete Begriff Senior bzw. Senioren bezeichnet in der Regel ältere Menschen, die nicht mehr in einem Vollzeitarbeitsverhältnis stehen, bei uns also die Gruppe der über 60-Jährigen. Senioren beziehen typischerweise regelmäßige Zahlungen aus der Altersversorgung, also Rente oder Pension.

Fragt man Menschen, was sie mit „Alter“ verbinden, hört man sehr unterschiedliche Assoziationen:

Die einen denken an Weisheit, Gelassenheit, Ruhe, Erfahrung oder Abgeklärtheit und freuen sich auf die Entlastung von der Arbeitspflicht, auf schöne Erinnerungen und viel Freizeit. Ihre Vorstellung von Altern ist auf Stärken, Ressourcen und Möglichkeiten gerichtet.

Andere verknüpfen mit „Alter“ eher Negatives: Einsamkeit, Isolation, Ausgrenzung, nicht mehr für voll genommen zu werden, nachlassende körperliche und geistige Fähigkeiten, Gebrechlichkeit, Krankheit und den Verlust sozialer Anerkennung. Ihr Verständnis von Alter ist eher defizitorientiert.

In der Entwicklungspsychologie bezeichnet „Alter“ die letzte der vier großen Lebensphasen. Wie Kindheit, Jugend und Erwachsenenalter wird auch diese Phase weiter differenziert:

 Im Dritten Lebensalter werden die jüngeren Alten erfasst (60-75 Jahre), die relativ fit sind und sich körperlich wie geistig gesund und mobil fühlen. Sie haben häufig bestimmte Ziele, die sie noch verwirklichen wollen, und sind im Bereich Gesundheits- und Altersvorsorge recht aktiv. In jüngerer Zeit wird diese Phase erweitert auf die Generation 50 plus.

 Das Vierte Lebensalter erfasst die Menschen, die 76 Jahre und älter sind und damit ein erkennbar größeres Risiko tragen zu erkranken, ihre körperliche und/oder geistige Leistungsfähigkeit zu verlieren oder pflegebedürftig zu werden. Diesem Risiko ist weder durch mehr Fortschritt noch durch weiter verbesserte Lebensbedingungen zu begegnen. In der Literatur (1) wird manchmal noch weiter unterschieden nach „alten Alten“ (76-84 Jahre), „Hochaltrigen“ (ab 85) und „Überlebenden“ (95 Jahre und älter).

Wenn „Alter“ eine wissenschaftlich neutrale Definition ist, sollte „Altern“ es auch sein. In diesem Sinne werden beide Begriffe im vorliegenden Buch verwendet: Als Bezeichnung einer Phase im Leben, die wie alle anderen auch mit besonderen Stärken und Schwächen verbunden ist.

Alter“ als Spiegel der Kultur

Gesellschaften kennen viele Wege, das Phänomen „Alter“ zu bewerten, und gehen dementsprechend unterschiedlich mit ihren Senioren um. Viele Kulturen kannten und kennen einen „Ältestenrat“ ähnlich dem Senat der Antike. Sie gelten als Mitglieder mit der größten Erfahrung und treffen wichtige Entscheidungen. Wissen und Erfahrung werden als Wert geachtet. Andere wiederum sehen im Alter vorwiegend den Abbau von Fähigkeiten und damit eine Last für die Mitglieder der Gesellschaft, die sich um sie kümmern mussten.

Hier spielt der Blickwinkel eine entscheidende Rolle:

Blickpunkt Verschleiß:

Die Menschen heute werden älter als früher. Der menschliche Körper – und damit seine Leistungsfähigkeit – ist von Natur aus nicht auf eine so lange Lebenszeit eingerichtet. Spätestens mit etwa 70 Jahren müssen wir damit rechnen, nach und nach an Leistungsfähigkeit und Gesundheit einzubüßen, allen Fitnesskults und Gesundheitschecks zum Trotz. Das lenkt den Blick automatisch auf die zurück schreitende Entwicklung und die damit verbundenen Defizite und Probleme.

Blickpunkt Lebensaufgaben:

Der Wissenschaftler Frederic Vester (2) schreibt von dem Phänomen, dass in bestimmten Regionen der Welt „Methusalems“ nachweislich bis weit über 100 Jahre alt werden (der älteste der untersuchten Menschen war 150 Jahre alt) und trotzdem gesund und munter wie der Fisch im Wasser leben. Untersuchungen ergaben, dass weder strikte Diäten, Abstinenz, Abwesenheit von Krankheit noch besonders schonende Lebensweise sie so alt werden ließen. Ausschlaggebend war ihr Verhältnis zur Umwelt: Bis zuletzt lebten sie im aktiven Kontakt mit der Gemeinschaft.

„Eine so einschneidende Änderung im Arbeitsrhythmus, wie wir sie etwa durch die Pensionierung erfahren, gab es nicht. Täglich wurde nützliche, meist körperliche Arbeit verrichtet. Weiter registrierten die Forscher eine auffallende Anerkennung der Alten durch die Jüngeren, von denen sie noch häufig um Rat gefragt wurden.“

Vester geht davon aus, dass der bei uns übliche Bruch in der Biografie, der dem Alter vorangeht, erheblichen Stress bewirkt, den wir nicht ausgleichen können und der unseren Hormonhaushalt daher massiv belastet. Bei den Hochaltrigen aus dem Kaukasus und anderen Regionen sei das anders:

„Durch die große Rolle, die hier Freude, Erfolgserlebnisse, körperliche Tätigkeit und Zärtlichkeit spielen, entsprach ihre Lebensweise auffallend genau den Bedingungen, unter denen die typischen Stressoren unserer Leistungsgesellschaft gar nicht erst aufkommen können.“ Das führe bei den Hochaltrigen zu einem gesunden hormonellen Gleichgewicht, das wiederum die körpereigene Abwehr weit länger intakt halte als bei uns.

Blickpunkt Leistungsfähigkeit:

In der heutigen Zeit hat sich eine Idealisierung von Jugend, Fitness und körperlicher Leistungsfähigkeit entwickelt. Die Medien sprechen schon vom „Jugendwahn“, von einer gesellschaftlichen Idee des scheinbar ewigen Lebens, in der Altern und rückwärts schreitende Fähigkeiten keinen Platz mehr haben. Der Pool an Erfahrung und Zeit, über den die jüngere Generation (noch) nicht verfügt, und die sich daraus ergebenden Chancen zur Veränderung werden weder gesehen noch genutzt.

Wandel des Bildes vom „Alter“

Bertold Brecht zeichnet in seiner 1949 erschienenen Geschichte „Die unwürdige Greisin“(3) das Bild einer alten Frau, wie sie vor 100 Jahren lebte:

„Meine Großmutter war zweiundsiebzig Jahre alt, als mein Großvater starb. Er hatte eine kleine Lithographieanstalt in einem badischen Städtchen und arbeitete darin mit zwei, drei Gehilfen bis zu seinem Tod. Meine Großmutter besorgte ohne Magd den Haushalt, betreute das alte, wackelige Haus und kochte für die Mannsleute und die Kinder. Sie war eine kleine, magere Frau mit lebhaften Eidechsenaugen, aber langsamer Sprechweise. Mit recht kärglichen Mitteln hatte sie fünf Kinder großgezogen von den sieben, die sie geboren hatte. Davon war sie mit den Jahren kleiner geworden.“

Die Großmutter, im Text „Frau B.“ genannt, lebte nach dem Tod ihres Mannes selbstständig und selbstbewusst, unabhängig von der Meinung anderer oder Unterhaltszahlungen ihrer Kinder. Auch in der Frage des Wohnens blieb sie Individualistin: Entgegen geltender Normen weigerte sie sich, zu den Kindern zu ziehen oder den jüngsten Sohn samt Familie in ihr Haus aufzunehmen. Allgemein wurde über ihren Lebensstil im Alter gesagt: „Sie schien mit ihrem Familienleben abgeschlossen zu haben und neue Wege zu gehen!“

Bert Brecht sieht diese Zeit im Leben seiner Großmutter als eine Art Genugtuung, späte Gerechtigkeit für ein hartes und entbehrungsreiches Leben: „Genau betrachtet, lebte sie hintereinander zwei Leben. Das eine, erste als Tochter, als Frau und als Mutter und das zweite einfach als Frau B., eine alleinstehende Person ohne Verpflichtungen und mit bescheidenen, aber ausreichenden Mitteln. Das erste Leben dauerte etwa sechs Jahrzehnte, das zweite nicht mehr als zwei Jahre.“

Das alte Bild

Die Geschichte von Frau B. könnte die Geschichte vieler Menschen sein, die heute als „Hochaltrige“ in unserer Gesellschaft leben. Das Leben vor 100 Jahren war schwer und entbehrungsreich: Krieg, frühe Verantwortung und harte Arbeit zehrten an den Menschen und ließen sie früh altern. Soziale Sicherungssysteme (über deren grundlegende Veränderung wir heute schon wieder nachdenken) gab es damals noch nicht. Einziger Trost war oft die Aussicht, wenigstens im Alter sicher und geborgen bei den Kindern leben und von ihnen versorgt zu werden. Aufgrund des Verschleißes starb man früh, die letzten Jahre waren von körperlichem Verfall und den Folgen eines harten Lebens gekennzeichnet. Die nachfolgende Generation verstand ihre Aufgabe darin, diese Defizite der „ganz Alten“ aufzufangen und sich in der letzten Phase des Lebens um sie zu kümmern. Sicherheit, Versorgung und Hilfe zählten und zählen bis heute zu den wichtigsten Bedürfnissen der Hochaltrigen.

Das neue Bild

Andererseits ist die Geschichte von Frau B. auch eine Geschichte von Eigenständigkeit und Selbstbestimmung. So könnte sie durchaus eine Geschichte der jüngeren Alten von heute und morgen sein, die anders aufgewachsen sind als sie. Diese Senioren haben die meiste Zeit ihres Lebens im Frieden verbracht und sich wie kaum eine andere Generation vor ihnen mit der Entwicklung eigener Ziele und Ideale befassen können. Die „jungen Alten“ von heute (also die „alten Alten“ von morgen und die „Hochbetagten“ von übermorgen) haben ein Leben lang gelernt und geübt, sich Informationen zu holen und auch zu verwenden – im Gegensatz zu früher, als das Leben für viele hauptsächlich aus Arbeit und Sicherung der Grundbedürfnisse bestand. Diese andere Art zu leben führt zwangsläufig zu einem anderen Bewusstsein von sich selbst, das mehr von Eigenständigkeit und Mitbestimmung als von Versorgungsdenken geprägt ist.

Das wirkt auf die Wohnbedürfnisse dieser Generation. Auch hier hat sich der Schwerpunkt verschoben: Vom Wunsch nach früh einsetzender, umfassender Sicherheit hin zu mehr Selbstverantwortung und Mitbestimmung bis ins hohe Alter. Ihr Risiko, zu erkranken oder pflegebedürftig zu werden, steigt erst später an, als sie von beruflichen und sozialen Pflichten befreit werden. So gesehen haben die Alten von heute eine Phase im Leben dazugewonnen, in der sie nicht mehr eingebunden, aber auch noch nicht wirklich eingeschränkt sind.

Was aber machen sie mit der Zeit zwischen Berufsleben und Altendasein? Viele nutzen sie als einen „zweiten Frühling“, um all die Dinge zu erleben oder auszuprobieren, zu denen sie vorher nicht gekommen sind – wie Frau B.

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