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Volksrodeln

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In unserem beschaulichen Bergstädtchen gab es auch das eine oder andere Highlight für die Bevölkerung. Eines davon war das Volksrodeln, welches normalerweise jeden Winter, meist im gefühlt kältesten Monat, dem Februar, auf einer der steilsten Straßen unseres Ortes stattfand.

Früher, ja, da gab es noch Winter, die diesen Namen mit Würde trugen. Meterhoch türmten sich die weißen Massen und ich erinnere mich, dass ich so manches Mal morgens das Haus verließ, um zur Schule zu gehen, noch halb verschlafen, in der Dämmerung kaum etwas sah und bereits nach der zweiten oder dritten Stufe unseres Tritts, hüfthoch im Schnee versank, während meine Mutter oben das Fenster aufriss und herunter brüllte, wir hätten schneefrei, wie sie gerade im Radio gehört habe. Freude kam da zunächst noch nicht auf. Was half das beste Schulfrei, wenn man im Garten steckte und überzeugt war, hier bis zur Schneeschmelze verharren zu müssen, während einem von oben Häppchen aus dem Fenster geworfen werden?

Aber das Volksrodeln war eine Veranstaltung, auf die wir uns immer freuten. Natürlich musste es stets auch eher kurzfristig und flexibel anberaumt werden, denn so heftig der Schnee auch kam, so schnell verschwand er auch wieder im trüben Nebel, der die weiße Pracht in eine graue, nasse Pampe verwandelte, auf der rodeln nicht möglich gewesen wäre.

Immer seltener, gab es das Volksrodeln noch und immer öfter, fiel es, mangels genügend Schnee, aus. Die Winter sind einfach nicht mehr so streng wie früher und ich beginne an die Theorie eines alten Harzers zu glauben, der vor Jahren, in einer Kneipenrunde, einmal verkündete, er sei fest davon überzeugt, das Wetter habe einfach Angst vor der Technik und dem Fortschritt. Als es noch keinen Winterdienst gab, der pausenlos mit Pflug und Schneefräse den Kampf gegen den Schnee aufnahm, habe es noch richtige Winter gegeben. Aber heute traue sich so ein Schnee ja gar nicht erst auf unseren Ort nieder zu fallen, weil er wüsste, er würde gleich weggeschoben oder an die Wand vom Nachbarn gefräst, dessen Frau keifend in der Küche stehe, weil nun der ganze Schnee an ihrem Fenster klebte.

War es dann soweit und ich hörte an einem Sonntag, im Februar, laute Musik von der nahen Hauptstraße, sprang ich in Windeseile in meinen Schneeanzug, stülpte die dicke Mütze über den Kopf, mit der ich aussah, als trüge ich einen Helm aus Wolle und stapfte mit meinem Rodel los.

Den ganzen Tag zog ich nun den Schlitten, unzählige Male, die gut fünfhundert Meter, der 10%igen Steigung der Straße hinauf, um sie wieder hinunter zu fahren.

Als Kind verstand ich nicht, warum so viele Leute lieber gaffend am Straßenrand standen und zuschauten, während sie sich vom Glühwein wärmen ließen. Sicher, es gab immer einige Rodler, die mit ausgefallenen Schlitten und Kostümen die Piste stürmten, was nicht selten darin endete, dass sie, samt ihren Gefährten, kopfüber in irgendeinem Schneeberg landeten und stecken blieben, statt bis zum Ende der Straße zu fahren. Ihnen sah man gern zu und amüsierte sich. Aber ich glaube, ich habe erst als Erwachsene so richtig verstehen gelernt, worin der eigentliche Sinn im Volksrodeln besteht: Geselligkeit und Spaß.

Vor einigen Jahren, mein Mann und ich waren noch Freunde, statt ein Paar, beschlossen wir ebenfalls zum Volksrodeln zu gehen. Man traf immer ein paar Bekannte und Freunde und an jedem Glühweinstand, gab es ein Schlückchen zu probieren, um dem jeweiligen Standbetreiber zu versichern, hier gerade das beste Tröpfchen zu trinken und sich so gewärmt zu fühlen, dass man am liebsten nur im Bikini durch die kalte Winterluft springen möchte. Kurz gesagt, zog ich zuerst mit unserer lustigen Truppe los und musste mich nach dem vierten Glühwein dann von meinen Freunden ziehen lassen, da ich strunzenvoll war. Aber zumindest auch kein Stück mehr fror.

Irgendwann fiel dann meinem Mann und unserem Freund Ivo auf, dass wir ja gar keinen Rodel mit hatten. Auch der kleine Rodel seines Sohnes würde uns alle gar nicht aufnehmen können und während die Männer tief enttäuscht auf die Piste blickten, rauschte ein Gefährt an ihnen vorbei, auf dem locker sechs oder acht Kinder saßen: Auf Ski geschnallte Getränkekisten. Was für eine Idee!

Ivo und Joe sahen sich kurz an, dann zum XXL-Schlitten und stürmten los. Es bedurfte keiner Worte, sie verstanden sich auch so. Das Vehikel würde gekapert werden.

Ich kann heute nicht mehr sagen, was ich von der Idee hielt. Eigentlich war mir alles egal. Mir war warm, alles drehte sich und ich wollte nicht allein am Glühweinstand zurück bleiben, wo man mir immer wieder nachschenkte, bis ich mich für einen Schamanen in der Geisterwelt hielt. Also taumelte ich hinterher.

Für Außenstehende sah es wohl eher nach einer Schlittschuh laufenden Elchkuh aus und ich meine, mindestens zweimal mit dem Gesicht im Schnee gebremst zu haben, bis ich vor dem Riesenrodel zu liegen kam und über mir die Debatte zwischen den Jugendlichen und Männern hörte.

Eindruck erwecken wollend, baute Joe sich auf, während Ivo theatralisch die Arme ausbreitete. „Hoho, Euer Rodel is für eine Runde konfisziert!“ lallte er die Kids an und nickte dabei bestätigend. Durch das Nicken aus dem Gleichgewicht geraten, musste er sich von Joe auffangen und wieder vor die Teenager stellen lassen. Diese lachten und sagten: „Nö!“

Ivos Lippen spitzten sich. Welch Dreistigkeit der Gören, sich dem König – unserer kleinen, absolut unbekannten und eigentlich nur zum Spaß gegründeten Mittelaltertruppe - zu widersetzen.

„Wie jez, nö? Ich sachte: Euer Rodel is konfiziert und zwar hier und jez!“ er verschränkte umständlich die Arme vor der Brust und stampfte auf, was die Kids nur noch lauter grölen ließ.

Mühsam rappelte ich mich auf, fiel noch mal hin und fluchte, weil Joe mir so gar nicht half, denn der musste ja unseren König stützen.

Als ich auf meinen Füßen stand, liefen mittlerweile die Verhandlungen. Da die Kinder sich ihren Rodel nicht konfiszieren lassen würden, feilschte Ivo nun mit ihnen, um den Rodel für eine Fahrt zu mieten. Ich glaube, er schimpfte noch den ganzen restlichen Nachmittag, wie geldgierig die Brut von heute wäre, die ihm glatt ganze zehn Euro abgenommen hätte, nur damit wir alle einmal die Straße herunter fahren könnten.

Ich sortierte mich noch. Jetzt hatte ich verstanden, worum es ging: wir würden alle eine Runde rodeln. Toll!

So drehte ich mich um, wollte mit meinen Freunden losziehen, doch die waren bereits weg. Vergessen hatten sie mich, waren einfach den Berg hinauf marschiert und ich versuchte nun verzweifelt ihnen zu folgen, was bei meinem Pegel eher nach Schwimmbewegungen ausgesehen haben musste.

Mehr als die Hälfte des Berges hatte ich bereits erklommen. Unglücklicherweise auf der Fahrbahn, wo alle Rodler wild paddelnd versuchten, mir auszuweichen, als ich meine Freunde, inklusive der Söhne, auf mich zu rauschen sah. Alle saßen, nur Joe stand, mangels eines weiteren Sitzplatzes, hinten auf den Kufen und er starrte mich mit großen Augen an, während sie direkt auf mich zu steuerten.

Bis zu dem Moment dachte Joe tatsächlich, ich säße auf dem Schlitten. Sie hatten nicht einmal bemerkt, dass ich gleich zu Beginn verloren gegangen war.

Beinahe wäre ich unfreiwillig zu ihrer Kühlerfigur geworden, als es Ivos Sohn gelang, den Rodel ein Stück herum zu reißen. Dabei verloren sie jedoch Joe, der rückwärts einen doppelten Salto schlug und akkurat, direkt im die Fahrbahn begrenzenden Schneehaufen, stecken blieb.

Während das Gefährt an mir vorbei rauschte, hörte ich Ivos verzweifeltes Stöhnen, ihm sei furchtbar schlecht und ich zuckte nur die Schultern, machte mich auf den Rückweg, um zu schauen, wer denn nun alles heil unten angekommen sei.

Joe folgte mir, bis zum Bauch weiß, wie ein Yeti.

An diesem Tag hatte ich genug Zeit – während man mich vergaß – mich umzuschauen und den Geist des Volksrodeln zu erkennen. Väter und Mütter luden ihre Kinder auf Rodel, zwinkerten den am Straßenrand Stehenden zu, während sie beteuerten, dass sie nur mitführen, weil das sicherer für das Kind sei und versicherten, das Kind schreie auch nicht aus Angst, sondern vor Wut, weil es allein fahren wollte.

Die meisten der Kinder müssen verdammt wütend gewesen sein. Sie kreischten hysterisch, versuchten während der Fahrt sogar den Vater oder die Mutter zu überrumpeln und panisch über sie hinweg zu klettern, um sich hinten vom Rodel zu stürzen, doch die Eltern hielten sie fest. So manch eine Bewertung für die besten Akrobatikeinlagen beim hinunter rodeln, war in Wirklichkeit ein Kind, beim Fluchtversuch, in den Krallen seines Erziehungsberechtigten, der mit irrem Grinsen johlte: „Nun stell Dich doch nicht so an, das macht doch Spaß!“

Und während ich dies im Hochsommer nieder schreibe, wandern meine Gedanken hoffnungsvoll zum kommenden Winter. Wird es im nächsten Februar wieder ein Volksrodeln geben? Ich überlege weiter. Wie lange war ich eigentlich nicht mehr im Winter rodeln? Und schon ertappe ich mich, wie ich gedanklich durchgehe, welches meiner Kinder ich mir als Alibi auf den Rodel ziehe.

Moppelchens Chaosbande ... Jugend frei!

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