Читать книгу Zum Teufel mit Barbie! - Sylvia M. Dölger - Страница 7
3 »Thaischlampe!«
ОглавлениеSue blinzelte. Helles Morgenlicht blendete sie. Pa klopfte schon wieder an die Tür. Sie tastete nach Schachtel und Feuerzeug und zündete sich eine Kippe an. Sie zog daran, hustete. Nur noch nicht aufstehen. Ihr Vater klopfte stärker.
»Sue, aufstehen. Sag mal, ist das Rauch, der da unter der Tür durchkommt? Musst du denn schon am frühen Morgen rauchen? Sue?«
»Ich komme gleich.« Eigentlich konnte sie sich nicht beschweren. Sie hatte keine nervigen Eltern, die jeden Spaß verbieten. Ihr Pa war in Ordnung, und ihre Mom fast so etwas wie eine Freundin. Einige Geheimnisse teilte sie mit ihr, aber was wirklich in ihr vorging, wussten sie beide nicht. Manchmal wusste sie es ja selbst nicht.
Ihr Kopf dröhnte vom Bier. Sie sehnte sich nach frischer Luft, stolperte aus dem Bett und stieß das Fenster auf. Die kühle Herbstluft tat gut.
Der Main glänzte dunkel. Weiße Schaumkronen tanzten auf den Wellen. Ohne die Herbstsonne war es novemberkalt. Sie zitterte.
Nach der Dusche zog sie Rock und Leggins an, dazu einen warmen Pullover. Ihr Blick fiel auf das Handy-Display. So spät schon? Die Englisch-Hausaufgaben! Sie hetzte durchs Zimmer, raffte ihre Unterlagen für die Schule zusammen, lief die Treppe hinunter, schnappte ihr Pausenbrot, drückte ihrer Mutter einen Kuss auf die Wange und verließ die Wohnung. Mit ihrer Vespa, die sie in grellem Hellgrün lackiert hatte, erreichte sie die Schule in Windeseile, warf sich den Rucksack über die Schulter und rannte zum Gebäude. Hoffentlich konnte sie Englisch bei jemandem abschreiben. Plötzlich blieb sie wie angewurzelt stehen. Der Streber Kilian stand vor ihr. Sie bemühte sich, ihn nicht anzusehen.
»Hey, Sue«, sagte der und suchte ihren Blick.
»Hi.« Während sie an ihm vorbeiging, drehte sie den Helm mit beiden Händen. Schließlich warf sie den Rucksack auf ihren Platz in der zweiten Reihe und setzte sich. Mit einem Seufzer kramte sie ihr Englischheft aus der Tasche und kaute auf dem Stift herum.
»Hast du die Übersetzung etwa noch nicht? Du hast aber nicht mehr viel Zeit! In ein paar Minuten klingelt es!«
»Hast du keine anderen Probleme? Kümmer dich um deinen eigenen Kram, Kilian!« Sie dehnte das ›A‹, weil sie wusste, wie sehr ihn das ärgerte.
»Hey, hast wohl schlechte Laune, was!«
»Was geht dich das an?« Sie sah ihn nicht an, sondern schmierte schnell ein paar Worte aufs Blatt, ohne groß nachzudenken. Warum musste auch ausgerechnet Kilian so früh da sein? Der wohnte doch ganz in der Nähe der Schule. Die anderen schienen mal wieder Verspätung zu haben. Sie warf den Stift hin. So würde sie heute eben keine Hausaufgabe haben. War nicht das erste Mal.
Kurze Zeit später füllte sich der Raum allmählich. Der Klassenlehrer kam dazu und wollte mit dem Unterricht beginnen, als Christina, Sues Banknachbarin, in den Raum rauschte. Das Mädchen schleuderte die Jacke und ihre Handtasche mit den silbernen Nieten auf den Tisch und warf Herrn Mertens einen provozierenden Blick zu. Ihre langen aufgehellten Haare wirkten verfilzt. Der Pullover entblößte ihre linke Schulter. Wir Mädchen müssen ja zusammenhalten, dachte Sue, während die Stunde begann. Der softe Mertens verlor keinen Ton über Christinas verspätetes Erscheinen, sondern begann mit der Kontrolle der Hausaufgaben. Ausgerechnet heute ging er herum und kontrollierte alle Aufsätze! Er kam näher und näher. Sue warf einen fragenden Blick in die Runde. Christina flirtete mit Rick, eine kleine Gruppe spielte hinter dem Rücken des Lehrers Karten. Niemand beachtete den stillen Hilferuf.
Verdammt! Gleich würde er bei ihr sein! Was sollte sie tun? In dem Moment wurde ihr unter dem Tisch ein Heft zugeschoben. Unauffällig nahm sie es, sah auf und traf Kilians Sommersprossen. So nah, dass sie sie zählen könnte. Scheiße! Er half ihr! Wenn das die anderen merkten! Aber sie hatte keine Wahl, nahm das Heft. Hoffentlich fiel die Schrift nicht auf. Sie war fast so krakelig wie ihre eigene. Es könnte klappen.
»Gut gemacht, Sue«, sagte Herr Mertens einen Augenblick später und hakte sie in seinem Notenbuch ab. Er hatte den Trick nicht bemerkt. Im Raum wurde es lauter. Einige kicherten. Natürlich hatten die Klassenkameraden mitbekommen, was passiert war. Würde sie jemand verraten? Sue rutschte auf ihrem Stuhl hin und her und spürte, wie sie langsam rot anlief. Jetzt hob auch noch Christina die Hand und schnipste mit dem Finger.
»Herr Mertens, kann ich mich eine Reihe nach vorne setzen?«
»Warum denn, Christina?«
»Hier stinkt´s!«
Sue rutschte ein Stückchen tiefer in ihren Stuhl. Sie musste jetzt die Farbe einer überreifen Tomate haben. Was sollte sie tun?
»Was ist denn das Problem, Chrissi?«
Die anderen kicherten hysterisch. Der Lehrer bewegte sich in Richtung des gemeinsamen Pults und schnupperte tatsächlich in der Luft herum. »Also, ich rieche nichts. Du bleibst mal schön hier bei Sue sitzen und beginnst mit der Übersetzung!«
Obwohl Sue vor Wut kochte, konzentrierte sie sich auf das Schulbuch. Diese Zicke! Irgendwann würde sie es der heimzahlen. Wenn hier jemand stank, dann die! Von Anfang an hatten sie sich nicht verstanden und seitdem Christina mit Rick ging, war es fast unerträglich geworden.
Endlich war die Stunde zu Ende. Nun mussten sie über den Hof zum Werkraum laufen. Sue schlenderte neben Kilian her und sagte leise: »Danke.« Das war sie ihm schuldig. Keine Antwort. Die schmalen Schultern zog er hoch. Schnell wollte sie weiterlaufen, als Rick dazu kam.
»Na, ihr Turteltäubchen!« Der Klassensprecher grinste böse.
»Ist irgendwas, oder starrst du immer so?«, konterte Sue. Kilian sagte nichts.
»Hast du mal ‘ne Kippe, Sue?« Christina war natürlich auch da. Die olle Schnorrerin hing an Rick dran wie Efeu an einer Wand.
»Nicht für dich.«
Rick drängte Sue zur Seite. Sie beobachtete, wie die Zicke mit einem ebenso zuckersüßen wie falschen Lächeln auf Kilian zuging. Mehr konnte sie nicht sehen, da Rick sie ruppig am Ärmel zog. Er schrie beinahe. »Was sollte denn das heute in Englisch?«
»Keine Ahnung, was du meinst!« Sie sah an ihm vorbei.
»Ich dachte, wir waren uns einig.«
»Werken hat schon angefangen. Das findet der Klopp gar nicht cool.« Sie wollte an ihm vorbeigehen, aber er hielt sie am Arm fest.
»Du kennst doch die Abmachung! Kilian wird geschnitten. Mindestens zwei Wochen.«
»Eure Kinderspielchen gehen mich nichts an!« Sue wollte weiter, aber Rick stellte sich ihr in den Weg. Seine blauen Augen stierten sie an.
»Kinderspielchen? Du glaubst wohl, du bist was Besseres!« Er spuckte wieder rum. »Ich habe nicht umsonst die fünf in Mathe kassiert. Wenn Kilian mich abschreiben gelassen hätte, dann …. Hat er aber nicht. Das hat er jetzt davon.« Er ballte die Hand zur Faust. »Und wenn du nicht mitmachst, dann bist du auch dran!« Seine Stimme klang kälter als Frost.
»Was gehen mich deine Noten an? Verpiss dich und lass mich in Frieden!« Sue stieß ihn energisch von sich weg und rannte zum Unterricht.
»Du bist wohl genauso bescheuert wie der. Das mit der Party nächste Woche kannst du vergessen. Eine Thaischlampe will ich sowieso nicht dabei haben!«
Der letzte Satz schmerzte mehr als eine Ohrfeige.
Herr Klopp erklärte gerade in der Werkstatt, wie der große Holzklotz vor ihr bearbeitet werden sollte. Er zeigte ihnen eine spiegelglatte Kugel in der Größe eines Apfels. Durch die Klasse ging ein Stöhnen. Trotzdem legten sie los. In Sues Kopf schwirrten verschiedene Gedanken. Würde sie in Zukunft genauso gemieden werden wie Kilian? Was sollte sie nur tun? Der Klotz klemmte im Schraubstock. Mit der rechten Hand umfasste sie den Griff der Raspel, mit der linken das andere Ende. Sie legte los. Härter als beabsichtigt, bearbeitete sie den Klotz. Richtig heftig stieß sie auf ihn ein, sodass die Späne flogen. Ihre Hände wurden taub vor Schmerz.
»Na, na, ganz ruhig, junge Dame! Stellen Sie sich vor, der Klotz hätte Gefühle. Ganz sachte.« Herr Klopp legte seine große Hand auf ihre kleine und führte die Bewegungen. Langsam wurde sie ruhiger.
Als es nach der sechsten Stunde klingelte, entwischte Sue durch den hinteren Ausgang und zündete sich eine Zigarette an. Sie beeilte sich, auf einen weiteren Zusammenstoß mit Rick oder seinen Kumpels konnte sie verzichten.
Stattdessen freute sie sich auf das Shopping mit Vanessa. Zeit, die Idioten aus ihrem Kopf zu bekommen. Sie schlenderte durch den Kaufhof, betrachtete die Auswahl an Piercings und plante einen tollen Ring für ihren achtzehnten Geburtstag. Er sollte an ihrer rechten Augenbraue funkeln. Sie ging weiter, drehte die dritte Runde. Noch keine Spur von Vanessa. Das Handy piepste dreimal. Eine SMS. Klar, von ihr. Sie musste arbeiten. Sues Stimmung sank sofort gegen null. Missmutig lief sie durch die Klamottenabteilung, bis sie auf ein knallgrünes Longshirt stieß. Sie zog es über. Es betonte ihre Hüfte lässig, dazu passte eine kurze schwarze Lederjacke. Vor dem Spiegel drehte sie sich darin.
Doch später ließ sie die Kleidungsstücke in der Kabine liegen. Die Party würde ohne sie steigen. Lustlos stöberte sie weiter durchs Kaufhaus, dachte an Fritz, den Obdachlosen. Ihre Eltern erlaubten ihr zwar alles, verstanden aber nichts. Nur Fritz wusste, was in ihr vorging. Zum Glück hatte sie ihn kennengelernt, natürlich während einer Zigarettenpause am Mainufer. Er hatte um einen Euro gebettelt. Sie erinnerte sich noch gut, wie sie nach der kleinen Spende ins Gespräch gekommen waren.
Bei den Lebensmitteln in der untersten Etage blieb sie zwischen den Regalen stehen. Eine alte Frau bückte sich mühsam, um an die billigen Nudeln zu kommen.
»Möchten Sie diese hier?« Sue griff ins Regal, hielt der Omi die Packung vor die Nase.
»Danke, sehr freundlich von dir!«
Die Alte humpelte weiter. Sue stand unschlüssig da. Sie wollte Fritz etwas zu essen mitbringen. Der Euro reichte aber nicht, um die Tütensuppen und Futter für Fritz‘ Mischling Goethe zu bezahlen. Sie trat von einem Bein aufs andere, sah sich verstohlen um. Was war los mir ihr? Sie hatte nichts mehr mitgehen lassen, seit sie mit dreizehn beim Diebstahl erwischt worden war.
Schnell rutschten drei Beutel Tütensuppe in ihre Jackentasche, während sie die Kochanleitung auf der Rückseite einer Nudelpackung las. Sie schlenderte weiter, als wäre nichts geschehen. »This used to be a funhouse«, summte sie mit Pink im Ohr, als sie in die Abteilung mit Tiernahrung gelangte.
Unentschlossen blieb sie vor dem Regal mit dem Hundefutter stehen. Sollte sie? Klar! Goethe kriegt auch was!, dachte sie und steckte zwei Alu-Schalen mit Hundefutter in die andere Jackentasche. Mehr ging nicht. Sie durften nicht zu sehr ausbeulen!
An der Kasse legte sie einen Schokoriegel auf das Band. Ihr Herz schlug schneller. Sie fühlte sich lebendiger. Würde die Kassiererin etwas merken?
Bald war sie an der Reihe. Nur noch wenige Sekunden. Ihr Puls raste.
Jetzt! Sue war dran. Sie knallte ihre Münzen auf die Ablagefläche und ging an der Kasse vorbei.
»Moment, junge Dame«, hörte sie die Angestellte rufen und wollte schon losrennen. Irgendetwas im Ton der blonden Frau machte sie stutzig, doch sie riss sich zusammen und drehte sich um.