Читать книгу Küss mich, bis ich Sterne seh - Sylvia Reim - Страница 6

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Kapitel 1

Nimm eine Einladung an, geh aus und genieße das Leben! Wer weiß, vielleicht wartet die große Liebe auf dich. Die Sterne stehen gut dafür!

„Sex macht mir einfach keinen Spaß mehr!“, sagte Leo. Noch bevor er sich rechtzeitig auf die Zunge beißen konnte, platzte dieser Satz so explosiv aus ihm heraus, als ob er seit Wochen darauf gelauert hatte, im denkbar ungeeignetsten Moment zu detonieren.

Niklas war von dieser unerwarteten Beichte so überrascht, dass er einen Sprung nach hinten machte und dabei mit der Spitze seines Ellenbogens die rote Notfalltaste drückte. Mit beängstigendem Knirschen kam der altersschwache Aufzug zum Stillstand und ein schriller Heulton setzte ein. Nur kurz ließ sich Niklas von der jaulenden Sirene irritieren. Entgeistert starrte er Leo an. „Hast du sie noch alle? Gerade du, der echt jede haben kann?“

„Das ist ja das Problem!“

„Das ist ein Problem? Sag, tickst du noch richtig?“

Leo drückte wahllos ein paar Tasten, um den Aufzug wieder in Bewegung zu setzen, doch der rührte sich keinen Zentimeter. „Glaubst du, das macht Spaß? Wo bleibt denn da das Spiel?“

Niklas’ Mund klappte auf, und er brauchte ein paar Sekunden, bis er antworten konnte. „Das kann doch nicht wahr sein. Bitte sag, dass das ein Scherz ist! Alle Frauen wollen nur mit mir ins Gespräch kommen, um an dich ranzukommen. Alle säuseln sie mir vor, wie gut du aussiehst und wie schnuckelig dein sportlicher Body ist und wie süß deine widerspenstigen dunklen Haare sind und deine graugrünen Augen erst und wie groß du bist und so weiter. Das muss ich mir stundenlang anhören! Und du jammerst, weil du sie alle haben kannst? Mach dich nicht lächerlich!“ Er hatte sich in Rage geredet und seine Stimme überschlug sich. Mit dem Handrücken wischte er sich über die verschwitzte Stirn; die Hitze in der engen Kabine malte feuchte Flecken auf sein verwaschenes „White Stripes“-Shirt.

„Und was ist mit meiner Nase?“, fragte Leo unbeeindruckt.

„Die Narbe meinst du? Die ist das Allerschlimmste, die macht dich erst so richtig männlich. Wo hast du die eigentlich her?“

„Ellenbogencheck während eines Fußballspiels.“

Leo fuhr sich gedankenverloren über die dünne Narbe quer über seine Nase. Hatte er eben allen Ernstes behauptet, er habe keine Lust mehr auf Sex? Ihm wurde ganz schlecht bei dem Gedanken, dass das tatsächlich jemand gehört hatte. Natürlich wusste er, dass Niklas sich lieber den linken kleinen Finger absägen ließe, als das irgendjemandem zu verraten. Was ihn aber schreckte, war, wie sehr er bereits frustriert war. Sonst wäre das nicht einfach so aus ihm herausgeplatzt. Er hatte Niklas erzählt, wie hohl er sich in letzter Zeit fühlte und dass nicht einmal sein Job diese Leere füllen konnte. Und plötzlich war ihm dieser Satz herausgerutscht.

„Schau, Niklas“, setzte Leo erneut an und musste dabei gegen den immer lauter werdenden Heulton anschreien. Irgendwie hatte er das Gefühl, sich rechtfertigen zu müssen, um nicht als arroganter Scheißkerl vor seinem Freund dazustehen. „Ich hatte offenbar ziemliches Pech in letzter Zeit. Irgendwie haben sich mir meine letzten Freundinnen sofort an den Hals geworfen … Es war überhaupt keine Anstrengung, sie rumzukriegen. Es verliert vollständig seinen Reiz, verstehst du, was ich meine? Es ist doch auch ein Spiel!“

„Dein Pech wünsch ich mir zum Geburtstag! Wozu stecke ich denn dann in diesem klapprigen Lift fest? Ich dachte, wir sind auf dem Weg zur Party deiner Schwester, um dort ein paar Mädels kennenzulernen!“

Leo versuchte gar nicht erst, sein Grinsen zu verbergen. Er wusste, warum Niklas mitgegangen war. „Ich dachte, du stehst auf meine Schwester und gehst deshalb hin?“

„Auf Lissa?“

„Hab ich noch eine?“, fragte Leo und war froh darüber, dass das Thema von seinem Anti-Sexlust-Geständnis wegging.

Niklas begann zu zwinkern. „Ist es so offensichtlich? Ich hab dir doch gar nichts davon erzählt!“ Sein Zwinkern wurde schneller.

Leo legte ihm den Arm um die Schulter. „Brauchst du nicht, mein Freund! So, wie du dich in ihrer Nähe benimmst, bleibt das keinem verborgen!“

„Shit! Glaubst du, sie hat es auch schon gemerkt?“

„Ich glaube, sie ist die Einzige, die es noch nicht gemerkt hat. Aber du hast jetzt gleich den ganzen Abend Zeit, es sie merken zu lassen!“, erwiderte Leo feixend. Mit der Handkante platzierte er einen gezielten Schlag auf die Rufknöpfe, sodass der Aufzug prompt weiter nach oben ruckelte und der nervenzermürbende Heulton ein Ende hatte.

Carolina war so entsetzlich heiß, dass sie sich am liebsten kopfüber in einen mit Eiswürfel gefüllten Pool gestürzt hätte. Die Klimaanlage im Studio war wieder einmal ausgefallen gewesen und nun klebte alles unangenehm feucht an ihr. Ihre Lust, jetzt noch auf Lissas Party zu gehen, war weit unter Null. Sie war müde, und ihre Sendung war alles andere als gut gelaufen. Wieso hatte sie überhaupt zugesagt? Missmutig zog sie sich die drückenden High Heels von den Füßen. Eigentlich brauchte sie gar nicht lange darüber nachzugrübeln. Wie ein Perpetuum mobile schwirrte das Horoskop von heute in ihrem Kopf herum: Nimm eine Einladung an, geh aus und genieße das Leben! Wer weiß, vielleicht wartet die große Liebe auf dich. Die Sterne stehen gut dafür!

Außerdem war Lissa nicht nur ihre Lieblingsvisagistin, sondern mittlerweile auch ihre beste Freundin, ein nicht zu verachtender Grund, um nicht auf der Stelle zum Handy zu greifen und unter einem dubiosen Vorwand abzusagen. Mir ist ein Spot auf den Kopf gefallen oder ich hab mir mit dem Mikro den Vorderzahn ausgeschlagen – irgendetwas wäre ihr schon eingefallen.

Carolina seufzte erschöpft.

Unglaubliche drei Mal hatte sie sich während der Sendung versprochen, das passierte ihr sonst nie. Nachdenklich kaute sie an ihren Lippen. Warum war sie so verdammt unkonzentriert gewesen? Das konnte doch nichts mit diesem albernen Horoskop zu tun gehabt haben? Das wäre ja geradezu lächerlich, selbst für ihre Verhältnisse.

Britta hatte ganz recht gehabt, als sie ihr, sofort als das Rotlicht aus war, erklärt hatte, dass sie beim Wort „Arbeit“ das „r“ zu wenig deutlich ausgesprochen hatte. Nach einem „a“ spricht man das „ r“ immer, aber das weißt du als Profi sicher, hatte sie in ihrer speziellen Art gesagt, so nett und freundlich, dass man ihr kaum widersprechen konnte.

„Was soll’s“, murmelte Carolina und betrachtete kritisch ihr Gesicht im hell erleuchteten Spiegel. Sollte sie so bleiben, in voller TV-Kriegsbemalung? Sie würde viel zu spät kommen, wenn sie sich jetzt noch abschminkte. Spontan entschied sie sich dafür, die bunte Maskerade zu belassen, auch wenn sie es im Privatleben deutlich dezenter bevorzugte. Vorsichtig schlüpfte sie wieder in die hochhackigen violetten Pumps, worauf ihre Füße prompt mit dermaßen stechenden Schmerzen reagierten, dass ihr die Tränen beinahe waagrecht aus den Augen schossen. Fest presste sie die Lippen zusammen. Sie musste sich mächtig zusammenreißen, um die Schuhe nicht von ihren Füßen zu zerren und sie in hohem Bogen in die nächstbeste Ecke zu werfen. Wer allerdings von Mutter Natur mit nur 158 Zentimetern ausgestattet war, der musste für ein paar Zentimeter mehr ein bisschen leiden. An Gehen war mit diesen Schuhen natürlich nicht zu denken, das höchste der Gefühle war der kurze Weg zum Taxistand, gleich vis-à-vis vom Sender.

„Wohin geht’s denn?“, fragte der Fahrer und verströmte dabei das betörende Aroma von Zwiebeln, was Carolina darauf schließen ließ, dass er vor Kurzem ein deftiges Abendessen zu sich genommen hatte.

Kurz war sie versucht, sich die Nase zuzuhalten, entschloss sich dann aber dazu, einfach weniger zu atmen. Wer brauchte schon Sauerstoff? Sie nannte ihm die Adresse.

„Sind Sie nicht die …?“, fragte der Taximann und sah sie dabei vielsagend an, wobei er mit den Augenbrauen auf und ab wippte.

Ein Schwall Zwiebelaroma wirbelte zu Carolina. Aus purem Überlebensinstinkt hielt sie sich nun doch die Nase zu, was den Fahrer nicht weiter zu stören schien.

„Ja, die bin ich“, näselte sie und versuchte dabei trotz zusammengepresster Nase freundlich zu klingen.

Der Fahrer hatte zwar keine konkrete Frage gestellt, aber sie kannte das. Also, ich kenn sie doch, sind sie nicht die aus dem Fernsehen? So oder so ähnlich wurde sie immer wieder angesprochen, egal, ob sie nur schnell zum Bäcker hüpfte, um frisches Brot zu holen, oder ob sie einfach nur an der Supermarktkasse anstand. Aber es machte ihr nichts aus, das war einfach ein Teil des Jobs. Sie arbeitete beim Fernsehen und damit kannten einen die Leute, Punkt aus. Außerdem waren die meisten nett.

„Ich find sie super“, rief der Fahrer begeistert, während er den Kopf von der Straße abwandte, nach hinten blickte und seinen prominenten Fahrgast mit so breitem Grinsen anstrahlte, als wäre sie Penélope Cruz höchstpersönlich.

Langsam ließ Carolina ihre Nase los. Der Mann war ein Fan, da durfte man sich die Nase nicht zuhalten, Zwiebel-Odeur hin oder her. Als er sie schließlich absetzte, wünschte er ihr den unvergesslichsten Abend ihres Lebens.

„Aber sicher doch“, murmelte Carolina, nickte aber zustimmend, um ihm eine Freude zu machen, und versprach, ihm gleich morgen ein Autogramm zu schicken.

Kaum hatte sie die Tür des Taxis geöffnet, blies hochsommerlich heißer Wind durch ihr langes Haar und brachte es in Unordnung.

Leo umarmte seine Schwester und drückte sie an sich, als sie die Wohnungstür öffnete. Lissas blondes Haar stand wild in alle Richtungen ab und ihre Wangen waren so gerötet, dass sie aussahen wie zwei überreife Granatäpfel. „Na, hast du Stress, Schwesterherz? Soll ich dir helfen?“

„Etwas spät für diese Frage, oder? Die meisten Gäste sind schon da. Aber fürs nächste Mal merke ich’s mir gerne“, kicherte sie fröhlich und schmatze ihm einen dicken Kuss auf die Nase, wobei sie haargenau wusste, dass sie die Einzige war, die das ungestraft durfte. Darum genoss sie es umso mehr.

Niklas war in Leos Windschatten stehen geblieben. „Hallo Lissa! Vielen Dank für die Einladung“, wisperte er so leise, dass selbst ein junger Luchs mit Hörgerät Probleme damit gehabt hätte, ihn zu verstehen. Seine zwinkernden Augen hielt er hinter einer dunkelblonden Haarsträhne versteckt.

Leo seufzte leise. Das konnte es doch nicht geben, dass sein sonst so selbstsicherer Freund zum Nervenbündel wurde, sobald seine Schwester am Horizont erschien. Wenn er sich nicht bald zusammenriss und endlich über seinen Schatten sprang, würde das mit den beiden leider nichts werden. Aber seine Angelegenheit war das nicht, er hatte andere Sorgen: Hoffentlich würde er heute Abend nicht neben einer einfältigen Tussi sitzen müssen! Er hatte so was von keinen Bock darauf, stundenlang mühsam Konversation machen zu müssen, zu irgendwelchen sinnlosen Themen, über die er nicht einmal würde reden wollen, wenn er eben ein hunderttägiges Schweigegelübde in einem Männerkloster beendet hätte. Lieber war ihm da schon ein Typ als Tischnachbar, mit dem er vielleicht über das diese Woche noch anstehende Spiel quatschen konnte.

Ohne sich irgendwelche Hoffnungen zu machen, dass dieser Partyabend seine miese Laune ändern könnte, trat Leo ins Wohnzimmer. Seit Wochen marterte ihn seine ständig gereizte Stimmung, die ihn beinahe zu Boden drückte und die Niklas, diesen Hirni, dazu veranlasst hatte, ihn zu fragen, ob er denn vielleicht an einer stark verfrühten Midlife-Crisis litt.

Doch plötzlich musste er wider Erwarten schmunzeln. Er war jedes Mal aufs Neue fasziniert vom schrägen Stilempfinden seiner Schwester; augenblicklich fühlte er sich wie in einer Sonderausstellung des schlechten Geschmacks. Lissa sammelte alles, was schrill, grell, kitschig und in jedem Fall abartig hässlich war. Bunt im Raum verteilt stand ein Sammelsurium an Abscheulichkeiten. Als Gipfel des schlechten Geschmacks lehnte ein rund ein Meter großes, aufblasbares Bambi in einer Ecke.

Mit dem Ansatz eines Lächelns stopfte Leo die Hände in die Taschen seiner Jeans und schaute sich nach etwas Essbarem um. Auf dem langen Holztisch, an dem bereits ein buntes Grüppchen sich laut unterhaltender Gäste saß, entdeckte er große Glasteller, bedeckt mit etwas, das er nicht näher identifizieren konnte.

„Was soll das sein?“, fragte er Lissa und beugte sich tief über die Platten, um genauer erkennen zu können, was seine Schwester da fabriziert hatte.

„Siehst du doch! Selbst gemachte Maki; ich bin dafür drei Stunden in der Küche gestanden!“ Ihre Stimme klang begeistert. „Hab ich zum ersten Mal selbst probiert, und dafür sind sie doch super geworden. Könnte ich glatt verkaufen, oder?“

Leo fand, dass die Begeisterung, die sie an den Tag legte, in keinem direkten Zusammenhang mit den unregelmäßigen Reishäufchen stehen konnte, die da vor ihm lagen. Es sah aus, als hätten Schulkinder eine Reisschlacht veranstaltet! „Und was ist in den Schalen?“ Eine schlammbraune Paste mit kleinen grünen Knötchen war mit einer dünnen Zitronenscheibe dekoriert.

„Das ist Fischaufstrich gemischt mit würziger Auberginenpaste.“

Jetzt konnte er sich auch den eigenartigen Fischduft erklären, der ihm bereits an der Wohnungstür entgegengewallt war. Wie war sie nur auf die unglückliche Idee mit der Fischpaste gekommen? Er wusste, dass Lissa viele Talente hatte, doch Kochen lag ungefähr auf Platz 98 auf einer Liste mit 100 Möglichkeiten.

„Gut gemacht, Schwesterchen!“, sagte er mit bemüht anerkennendem Nicken, als er merkte, wie erwartungsvoll sie ihn ansah und sehnsüchtig auf Bestätigung für ihr gelungenes Werk wartete. Verzweifelt starrte er auf den mit bunten Wiesenblumen sommerlich dekorierten Tisch und fragte sich, was er heute Abend essen würde. Warum hatte sie nicht einfach einen stinknormalen Rindfleischsalat gemacht? In der Redaktion war es so stressig gewesen, dass er zu Mittag keine Zeit zum Essen gefunden hatte, und nun fühlte er sich wie ein Löwe, der seit Tagen kein frisches Fleisch mehr zwischen die Zähne bekommen hatte. Wäre nicht seine Schwester die Gastgeberin gewesen, hätte er auf der Stelle umgedreht und wäre in das nächste argentinische Steakhouse geflüchtet, um dort ein Rib-Eye-Steak von mindestens 500 Gramm zu verschlingen.

Er sah sich weiter um. „Wie viele Leute kommen denn noch?“, fragte er Lissa und versuchte dabei nicht zu sabbern, da vor seinem geistigen Auge nach wie vor ein saftiges Steak schwebte.

„Insgesamt sind wir dreizehn. Ich weiß, keine gute Zahl, aber du bist doch nicht abergläubisch, oder?“ Sie kicherte bei dem Gedanken, ihr Bruder könnte irgendwelchen mystischen Aberglauben ernst nehmen. „Schau, es sind noch einige Plätze frei, dort könnt ihr euch hinsetzen.“ Lissa deutete quer über den Tisch auf die freien Stühle. Sie klatschte ein paar Mal in die Hände. „Das sind Leo und Niklas“, stellte sie die beiden kurz den anderen Gästen vor, bevor sie in die Küche lief. „Wir brauchen noch frische Gläser!“, rief sie entschuldigend und wirbelte davon.

Leo atmete erleichtert auf. Er nickte grüßend und zog Niklas sofort auf den Stuhl neben sich, der Platz auf seiner anderen Seite blieb leer; eine Konstellation, die ihm ausnehmend gut gefiel. Zufrieden nahm er einen kräftigen Schluck von seinem Bier – Gott sei Dank hatte Lissa das wenigstens ordentlich gekühlt –, als es läutete. Seine Schwester zischte blitzschnell an ihm vorbei und gleich darauf hörte er auch schon, wie sie überraschte Begeisterungsschreie ausstieß. Sorgenvoll sah er auf den freien Platz an seiner Seite.

„Meine Lieben“, rief Lissa, deren hektische rote Flecken nun den kompletten Hals überzogen und sie aussehen ließen, als hätte sie ihren Kopf erst vor Kurzem aus dem aufgeheizten Backofen gezogen, „das ist meine Kollegin Carolina. Sie moderiert bei uns das Vorabendmagazin. Vielleicht kennt ihr sie ja!“

„Oh, mein Gott!“, hörte er plötzlich Niklas neben sich raunen. „Sie ist es, Carolina, die aus dem Fernsehen!“

Leo war es völlig egal, wer da erschien, solange er kurze Haare hatte, flache Schuhe trug und außerdem ein Mann war. Was in diesem Fall definitiv auszuschließen war. Er seufzte hörbar, denn er wusste, dass der Traum eines sorglosen Abends vorbei war. Natürlich steuerte seine Schwester direkt auf ihn zu.

„Ich setz dich neben Leo und Niklas“, sagte Lissa fröhlich, deutete auf den noch freien Platz gleich neben Leo. In einem Affentempo hetzte sie zurück in die Küche, wobei sie mit ihren nackten Sohlen ins Schleudern kam, sekundenlang in eine beachtliche Schräglage geriet und nur mit einer beeindruckenden akrobatischen Einlage, die den Artisten des Chinesischen Nationalzirkus’ alle Ehre gemacht hätte, einen Sturz verhindern konnte. Ohne mit der Wimper zu zucken hastete sie weiter.

„Hallo!“ Carolina nickte beiden freundlich zu und setzte sich.

„Darf ich dir etwas zu trinken anbieten, vielleicht ein kleines Gläschen Prosecco? Eisgekühlten Champagner haben wir leider im Moment nicht vorrätig“, sagte Leo und gab sich dabei überhaupt keine Mühe, seinen ätzenden Unterton zu verbergen. Er hatte Hunger, und er war einfach verärgert, weil jetzt doch eine Frau neben ihm saß; außerdem saß ihm das Anti-Sex-Gespräch mit Niklas immer noch unangenehm im Nacken. Alles in allem eine Mischung, die seinen knurrigen Allgemeinzustand definitiv nicht verbesserte.

Carolina musterte ihn irritiert. „Mir wäre ein Glas Rotwein lieber, wenn das möglich ist.“

„Aber gerne doch. Südhang, Nordhang, was wäre recht?“

Niklas knuffte ihn unmerklich in die Rippen. „Entschuldige“, sagte er in Carolinas Richtung, „aber ich glaube, der Rotwein steht noch in der Küche. Komm Leo, wir holen ihn schnell.“

Nur widerwillig stand Leo auf und ließ sich von Niklas in die Küche schleifen. Kaum waren sie um die Ecke verschwunden, fuhr ihn sein Freund auch schon an: „Was sollte denn das gerade? Hast du sie noch alle? Vor dir steht die Göttin des Fernsehens und du benimmst dich wie der Oberzyniker.“

„Ich bin der Oberzyniker. Deshalb lieben mich meine Leser, schon vergessen?“

„Ja, aber sie ist etwas Besonderes“, begann er und starrte dabei gedankenverloren in den Ausguss. „Ihr Haar ist wie dunkelbrauner Nugat, ihre Augen sind wie flüssige Schokolade.“

„Hast du Hunger? Du solltest dir etwas vom Dessert nehmen. Klingt, als ob du unterzuckert wärst.“

„Aber wie kann man denn bei ihrem Anblick nicht beinahe zerschmelzen? Und ihre niedliche kleine Nase und dieses zuckersüße Lächeln … sie ist einfach die schönste Frau, die ich kenne!“

Leo sah ihn etwas erstaunt an. „Ich dachte, du stehst auf meine Schwester.“

„Ja, natürlich“, antwortete Niklas und machte dabei ein Gesicht, als ob man ihn beim Kaugummiklauen ertappt hätte. „Aber Carolina ist halt so eine Traumfrau aus weiter Ferne. Und das Unglaubliche ist: Sie sitzt heute tatsächlich neben uns, also verhalte dich nicht wie ein kompletter Idiot. Bitte!“

Leo knurrte nur etwas Unverständliches, was so ähnlich klang wie „darauf würd’ ich nicht wetten“.

Mit der Flasche bewaffnet kamen sie aus der Küche zurück und Niklas schenkte Carolina den Rotwein ein, wobei ein dermaßen entrücktes Lächeln sein Gesicht zierte, dass Leo schlagartig wieder verärgert war.

„Danke“, sagte Carolina und hielt ihre Hand über das Glas, „das reicht, sonst bin ich ja auf der Stelle betrunken.“ Sie nickte Niklas dankend zu und probierte einen kleinen Schluck. „Und, was arbeitet ihr?“, fragte sie, als sie das Glas wieder absetzte.

„Wir sind Sportjournalisten und schreiben für die Allgemeine Zeitung“, antwortete Niklas ein wenig zu eifrig, dankbar dafür, dass sie das Gespräch suchte und sich nach Leos Anfangsvorstellung nicht gleich beleidigt abwandte.

Ein paar Sekunden sagte Carolina nichts darauf, sondern schaute Leo nur mit einer hochgezogenen Braue fragend an, so als ob sie über irgendetwas nachgrübeln würde. „Du bist aber nicht zufällig Leo Nordbeck, der diese zynischen Sportkommentare schreibt, bei denen ich mir immer denke, ich bin froh, dass der nicht über mich schreibt? Der bist du nicht, oder?“

„Meine Texte sind dir also zu hart? Du hättest sie gerne mit einem Schuss Weichspüler? Soll ich vielleicht etwas Lyrik darin verpacken?“ Leo merkte, wie es in seinen Fingerspitzen zu Kribbeln anfing. Er mochte das, es war meist der Startschuss für ein heftiges Scharmützel, und dem war er noch nie abgeneigt gewesen, weder auf dem Spielfeld noch im Leben. Das konnte das kleine Häschen neben ihm gerne haben, sie sollte nur rechtzeitig in Deckung gehen, bevor sie schließlich heulend neben ihm saß. „Und du moderierst das Vorabendmagazin? Bekommst du da alle Texte mundgerecht vorgeschrieben und liest sie dann brav runter?“, hakte er bissig nach.

Carolina schoss das Blut in die Wangen. „Nein, ich recherchiere und schreibe meine Texte selbst!“, stammelte sie. Sie war so verblüfft über die kaum verhohlene Frechheit, dass sie für ein paar Sekunden vergaß, ihren Mund zu schließen. Überrascht stellte sie fest, wie eine unbändige Zornwelle in ihr heranrollte. Seit wann wurde sie so schnell zornig?

„Die Texte zu den aktuellen Rocklängen?“ Leo nahm einen Schluck von seinem Bier und genoss ihre verdatterte Miene. Geh in Deckung, Nugathäschen!

Niklas sprang so schnell auf, dass er seinen Stuhl polternd umwarf. „Ich glaube, wir sollten dann gehen!“, sagte er und zog Leo dabei hoch.

„Ich habe aber noch nicht ausgetrunken“, protestierte Leo und fuhr mit dem Daumen über den Rand seines Bierglases. Er wollte nicht gehen, jetzt, wo er in Fahrt kam.

„Das ist egal. Wir müssen heute noch einiges erledigen, hast du das vergessen?“ Niklas fuchtelte in der Luft herum und deutete dabei irgendetwas, was Leo nicht verstand. Was war mit dem los? Hatte er Bauchweh oder warum wollte er so schnell aufbrechen? Eigentlich war es ihm egal, er hatte seinen kurzen Schlagabtausch gehabt und fühlte sich bestens.

Lissa brachte sie zur Tür. „Warum geht ihr denn schon so früh? Ich dachte, der Abend würde etwas Besonderes für dich werden.“

Leo sah seine Schwester verständnislos an. „Wie kommst du denn auf die Idee?“

„Na, ich dachte, deine Tischnachbarin gefällt dir!“

„Das kleine Häschen, das jeder Windhauch umwirft? Da kennst du mich aber schlecht, Schwesterchen.“ Er drückte ihr einen Kuss auf die Wange und umarmte sie. „War trotzdem ein netter Abend!“

„Schade!“ Sichtlich enttäuscht sah Lissa ihn an. „Ich habe mir eigentlich gedacht, ihr würdet ein gutes Paar abgeben.“

„Kümmere dich lieber um deine Liebesangelegenheiten“, erwiderte er und deutete dabei vielsagend auf Niklas, der prompt zu zwinkern begann.

„Ach, lass deinen armen Freund in Ruh’“, sagte sie und schmatzte Niklas einen kleinen Kuss auf die Wange. „Der kann sich vor Frauen doch sicher kaum retten, oder? Also dann, kommt gut heim!“ Winkend schloss sie die Tür.

Kaum waren sie auf der Straße, schnauzte Niklas Leo an: „Sag, was sollte das denn? Kann man mit dir jetzt nirgends mehr hingehen, wo sich Frauen befinden? Knurrst du die in Zukunft jetzt alle so an?“ Sein Zwinkern wurde weniger.

„Nein, nur wenn sie so ein hohles Köpfchen haben wie diese!“

„Die einzige hohle Nuss hier bist du!“ Niklas deutete eine Kopfnuss an. „Sag, hast du sie nicht wenigstens wunderschön gefunden?“, fragte er nach einer kurzen Pause mit seltsam verklärtem Blick.

„Aber natürlich, ich bin doch nicht völlig blind. Sie ist unglaublich schön, das macht es aber auch nicht besser. Hohl bleibt hohl.“ Leo merkte, wie seine schöne gute Laune von vorhin langsam wieder flöten ging.

Niklas sah ihn von der Seite skeptisch an. Plötzlich hellte sich seine Miene merklich auf: „Jetzt weiß ich es. Du bist nur sauer, weil sie sich dir nicht sofort an den Hals geworfen hat. Deine These, du könntest sie alle haben, stimmt nicht!“ Er lachte laut auf und wirkte sehr zufrieden mit seiner Erkenntnis.

„Blödsinn, das hat damit überhaupt nichts zu tun! Außerdem, mein Freund“, Leo blieb stehen und stemmte die Arme in die Hüften, „kann ich sie natürlich jederzeit haben. Dazu muss ich mich nicht einmal besonders anstrengen!“

Niklas lachte immer noch. „Und ich sage dir: Bei Carolina, der schönen Nugatsünde, beißt du dir deine so gepflegten Zähne aus! In der Zeitung hab ich gelesen, dass ihre Eltern Spanier sind. Die hat südländisches Temperament, die wird so richtig Widerstand leisten!“

Leo spürte sofort, wie sein Kampfgeist geweckt war, das altbekannte Kribbeln in seinen Fingerspitzen tauchte wieder auf. Dieses kleine hübsche Minihäschen rumzukriegen war zwar nicht unbedingt die Champions League, aber gegen ein kleines Regionalligaspiel hatte er auch nichts einzuwenden. „Also gut, abgemacht. Ich werde Carolina dazu bringen, mich mit ihren Schokoaugen anzuschmachten und mir Liebesschwüre ins Ohr zu säuseln!“

„Und wie willst du das schaffen?“

„Das lass meine Sorge sein!“, antwortete Leo, und seinen Mund umspielte jenes ironisch charmante Lächeln, das Niklas auf der Stelle verstehen ließ, warum Frauen allein wegen dieses Lächelns in Scharen an ihm klebten. Aber Carolina würde es ihm nicht leicht machen, da war er sich ganz sicher, und er freute sich insgeheim schon darauf, dass Leo eine Lektion erteilt bekam; dafür war es höchste Zeit.

Carolina hatte noch immer eine steile Zornfalte auf der Stirn, als die Party zu Ende war und sie sich von Lissa verabschiedete. Sie hatte ihr noch schnell geholfen, das schmutzige Geschirr in die Küche zu räumen, und obwohl sie vorgehabt hatte, ihr nichts zu sagen, um ihr nicht das Gefühl zu geben, es wäre ein verdorbener Abend für sie gewesen, platzte es einfach so aus ihr heraus: „Wer um Gottes Willen war denn dieser Leo? Das ist doch wohl der größte Esel, der mir in letzter Zeit untergekommen ist.“

Lissas Augen wurden groß. „Es tut mir leid“, stotterte sie. „Ich hatte eigentlich gedacht, ihr würdet euch mögen.“

„Wie kann man so jemanden mögen! Er war beleidigend, zynisch, eingebildet und jedenfalls völlig unerzogen. Hat dem niemand beigebracht, wie man sich Fremden gegenüber verhält? Woher kennst du den überhaupt?“

„Er ist … ein Freund.“ Eigenartigerweise traute sich Lissa in diesem Moment nicht zu sagen, dass er ihr Bruder war. Sie kannte ihre Kollegin als eher zurückhaltenden Menschen, die immer bemüht und freundlich war, doch jetzt schimmerte deutlich ihr Temperament durch. Was hatte ihr Bruder da nur angerichtet? Üblicherweise schmolzen all ihre Freundinnen dahin, wenn sie von ihrem Bruder erzählte. Doch irgendetwas war heute Abend anders gewesen, und sie hatte nicht den leisesten Dunst, was das um Gottes willen gewesen sein konnte.

Als Carolina auf der Straße stand, zog sie sich eilig die hohen Schuhe von den Füßen, die mittlerweile so weh taten, dass sie sie am liebsten in Eiswasser gesteckt hätte, um den Schmerz abzutöten. Sie bekam ihre Schuhe gratis vom Sender zur Verfügung gestellt, und diesmal trug sie ein abartig cooles Prada-Modell aus der aktuellen Kollektion, für das sie gerne etwas litt, doch ihre Schmerzgrenze war überschritten, Prada hin oder her. Kurz überlegte sie, ein Taxi zu rufen, doch dann entschied sie sich, zu Fuß nach Hause zu gehen. Sie würde einfach barfuß gehen und ihren Füßen etwas Luft gönnen. Vorsichtig bewegte sie ihre gequetschten Zehen hin und her; der Asphalt fühlte sich angenehm warm unter ihren nackten Sohlen an. Trotzdem konnte sie die beinahe tropisch heiße Sommernacht nicht genießen, viel zu sehr ärgerte sie sich über Leo.

Sie stieß einen tiefen, unglücklichen Seufzer aus und ging langsam weiter.

In ihren allergeheimsten Träumen hatte sie eigentlich einen Plan für den heutigen Abend gehabt: Ich lerne heute den Mann meines Lebens kennen! So sicher war sie sich gewesen, den ganzen Tag über hatte sie dieses ganz bestimmte Gefühl gehabt, es würde heute passieren. Vielleicht wartet die Liebe deines Lebens auf dich. Hatte das nicht in ihrem heutigen Horoskop gestanden? Warum las sie das überhaupt jeden Tag, wenn es dann ohnehin nicht eintraf?

Sie hatte einen Job, um den sie absolut jeder beneidete, und eine Familie, für die sie quer durch alle Ozeane schwimmen würde. Auch rundherum passte alles, sie wollte sich ja auch gar nicht beklagen. Doch ihr fehlte einfach ein Seelenpartner; keine Freundin, keine Familie, keine Kollegin. Sie wollte endlich einen Mann an ihrer Seite. Punkt. Aus. Schluss. War das denn zu viel verlangt? So große Hoffnungen hatte sie in diesen Abend gesetzt, als ihr Lissa vorgeschwärmt hatte, es würde jemand kommen, der ihr garantiert gefallen würde. Wie hatte Lissa nur annehmen können, dass sie auf diesen Leo stehen könnte?

Stunden hatten Lissa und sie schon damit verbracht, über ihre Traummänner zu quatschen. Wie hatte sie sich nur so verschätzen können? Das Einzige, was sie jetzt noch trösten konnte, war die köstliche Crema catalana, die in ihrem Kühlschrank stand. Davon würde sie heute Nacht noch ausgiebig löffeln, so viel stand jedenfalls fest.

Küss mich, bis ich Sterne seh

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