Читать книгу Sex, Magie und Nusslikör - Sylvia Reim - Страница 7
ОглавлениеKapitel 2
Marius war das erste Wort, das mir einfiel, als ich am nächsten Morgen aufwachte, mich mühsam aus dem Bett quälte und schlaftrunken in die Küche schlurfte. Weil meine Augen noch verklebt waren und ich blind wie eine altersschwache Blindschleiche vor mich hin tapste, blieb ich mit meiner kleinen Zehe an einem Bein des Küchentisches hängen.
„Verflucht!“, schrie ich auf, zog hastig einen meiner beiden weißen Küchensessel unter dem Tisch hervor und ließ mich drauf plumpsen. Verdammt, tat das weh! Am liebsten hätte ich mich auf den Boden geworfen und laut aufgeheult, doch in Ermangelung eines Publikums schien mir diese melodramatische Einlage doch etwas übertrieben, und so blieb ich auf dem Sessel sitzen und wippte mit meinem Oberkörper vor und zurück, um mich von meinem Schmerz etwas abzulenken. Es tat unglaublich weh, und das hatte nun absolut nichts damit zu tun, dass ich vielleicht ein bisschen wehleidig war. Erst nach einiger Zeit war ich in der Lage, mit pochender Zehe zu meiner Kaffeemaschine zu humpeln und auf die Power-Taste zu drücken. Während mir göttlicher Kaffeegeruch in die Nase stieg, drehte ich das kleine Küchenradio auf, um zu lauschen, was meine werten Kollegen denn so verzapften, und blätterte dabei in der gestrigen Zeitung, die noch ungelesen auf dem Tisch lag. Plötzlich hielt ich inne, und zwar genau auf der Seite, die ich üblicherweise zügig überblätterte. Vor mir lag das Horoskop. Seit wann interessierte ich mich denn für diesen Hokuspokus? Gierig begann ich zu lesen, was denn den Löwen in dieser Woche in Sachen Liebe erwartete: Sie erleben ein interessantes Treffen, das ihr Herz völlig aus dem Takt bringen wird. Aber Vorsicht: Lassen Sie sich nicht zu schnell darauf ein, die Person spielt nicht mit offenen Karten!
So ein Blödsinn! Das mit dem Herz mochte ja stimmen – mein Herz zog sich augenblicklich bei dem Gedanken an Marius sehnsuchtsvoll zusammen –, aber warum sollte er nicht mit offenen Karten spielen? Wir spielten ja eigentlich noch gar nicht. Leider, wie ich zugeben musste. Ich klappte die Zeitung wieder zu, goss mir den frischen Kaffee ein und wollte mich gerade setzen, als mir die Tasse aus der Hand flutschte, scheppernd zu Boden fiel und der siedend heiße Inhalt auf meinem schönen Holzfußboden einen unschönen Fleck hinterließ. Was war denn heute nur los mit mir? Zuerst die Zehe und nun der Kaffee. Es konnte doch nicht sein, dass mich ein Mann derart verwirrte! Ärgerlich über mich selbst rannte ich um ein Tuch und wischte dann sorgfältig die heiße Flüssigkeit auf, damit sich mein geliebter Holzboden nicht verzog. Mein Papa hatte mir geholfen, das prächtige alte Parkett abzuschleifen und wieder neu zu versiegeln, und nun war ich ganz verschossen in meine Wohnung, so wie sie jetzt aussah! Nicht sehr groß, aber hell, und mit all den bunten Bildern war sie mindestens so fröhlich wie ein frisch geschlüpftes Gänseblümchen. Meine Eltern waren zwar zunächst alles andere als begeistert, als ich auszog, und hatten gemeint, ich wäre mit Anfang zwanzig noch zu jung für eine eigene Wohnung, aber wie das bei mir so war: Sobald ich mir etwas einbildete, setzte ich es auch durch.
Ich hatte mir eben vorsichtig frischen Kaffee eingeschenkt, als mein Handy läutete. „Kann man hier nicht einmal in Ruhe seinen Kaffee trinken?“, grummelte ich und hob ab.
„Na, kann man schon mit dir reden oder hast du noch keinen Kaffee getrunken?“, rief jemand ins Telefon, dessen Stimme meine Laune schlagartig in weitaus bessere Dimensionen katapultierte. Am Telefon war meine Busenfreundin Ina, die seit rund einem halben Jahr in München wohnte.
„Mit mir kann man auch ohne Kaffee reden“, sagte ich gespielt ärgerlich. „Was ist los bei dir? Was gibt’s Neues?“
Ina überlegte kurz, bevor sie antwortete. „Eigentlich nicht viel. Nur, dass Christoph und ich momentan permanent lernen müssen und kaum Zeit für etwas anderes haben, aber sonst passt alles!“
Ina und ich waren gemeinsam aufgewachsen, gemeinsam in die Schule gegangen und hatten eigentlich auch vor gehabt, gemeinsam eine Wohnung zu mieten und zu studieren. Dieser Plan wurde allerdings gründlich von Christoph aus München durchkreuzt. Ina hatte ihn im Skiurlaub kennengelernt und die beiden hatten sich augenblicklich unsterblich ineinander verliebt, sodass Ina nach nur wenigen Wochen zu ihm nach München zog. Was hatte ich mit ihr diskutiert, dass sie nicht gleich ihr ganzes Leben ändern solle, dass es noch viel zu früh sei, um gemeinsam zu wohnen, viel zu früh, um sagen zu können, ob das hält. Alles, was ich sagte, war ihr egal. Sie wollte ihn, er wollte sie. Ich blieb draußen. Seit gestern verstand ich sie besser.
„Marius“, flüsterte ich.
„Was?“ Ina kannte sich offenbar nicht aus.
Ich überlegte kurz, ob ich ihr von Marius erzählen sollte. Eigentlich gab es da ja noch gar nicht viel zu sagen, außer dass ich mich unsterblich in ihn verliebt hatte und er unglücklicherweise noch gar nichts davon wusste. Aber ich wollte unbedingt über ihn reden.
„Er heißt Marius, ich bin in ihn verliebt und er weiß es nicht!“, platzte es aus mir heraus, und es war nur Inas Cleverness zu verdanken, dass sie so einigermaßen verstand, wovon ich sprach.
„Soll das heißen, meine immer coole Freundin Helena hat ihre Vernunft über Bord geworfen und sich einfach so mir nichts dir nichts verliebt? Soll ich das tatsächlich glauben?“
„Ja“, wisperte ich leicht verlegen in den Hörer.
Was danach folgte, war ein ungefähr zehnminütiger Lachanfall. Ina lachte und lachte, bis auch ich mich nicht mehr halten konnte und einfach mit ihr lachte. Es war ja auch wirklich zu komisch: Fräulein Helena Herz hatte sich auf den ersten Blick verliebt. Wirklich sehr witzig!
Als wir uns wieder so einigermaßen eingekriegt hatten, erzählte ich ein bisschen von ihm, wie gut er aussah und wie toll seine Stimme klang und wie cool sein Gang war und dass er so gut aussah – hatte ich das vielleicht schon erwähnt? –, bis mir schließlich selbst auffiel, dass ich mich anhörte wie Ina, als sie mir damals von Christoph erzählte und ich nur geätzt hatte.
Schließlich verabschiedeten wir uns überschwänglich, allerdings nicht ohne uns vorher zu versprechen, uns so bald wie möglich wiederzuhören.
„Ich will ja mitbekommen, wie das mit Marius und dir weitergeht“, kicherte Ina und war knapp davor, abermals einen Lachanfall zu bekommen.
Diesmal kam ich nicht zu spät in den Sender, pünktlich zur Redaktionssitzung war ich da. Der Nachrichtenredakteur vom Dienst verlas die News und unsere Chefredakteurin verteilte wieder die Aufgaben, die gleiche Prozedur wie jeden Tag.
Ich musste am Vormittag in der Redaktion bleiben, um meine Bücherreportage fertig zu stellen. Nach der Sitzung holte ich mir schnell eine weitere Portion überlebenswichtigen Kaffee und setzte mich dann an den Computer. Ich steckte das Aufnahmegerät an, um das Interview zu überspielen, und wartete einige Sekunden, denn das ging normalerweise sehr schnell; das Gerät überspielte und der Computer zeigte in geschwungenen Wellen an, dass die Stimme aufgenommen war. Doch diesmal sah ich nur eine gerade Linie. Nichts drauf. Hastig steckte ich alles nochmals ab und begann mit dem Prozedere von vorne. Wieder nichts. Vielleicht hatte ich das Gerät während der Aufnahme nicht aufgedreht? Das konnte nicht sein, ich hatte immer wieder auf die Aussteuerung geachtet. Vielleicht funktioniert der Computer nicht? Ich drehte das Mikro auf und sprach ein paar Sätze. Alles aufgenommen, funktionierte tadellos. Ich merkte, wie bittere Verzweiflung in mir aufstieg. Verzweiflung, weil Dora einen Anfall bekommen würde, und auch deshalb, weil ich unbedingt Marius’ Stimme wiederhören wollte. Wie hatte mir das nur passieren können?
Ich atmete tief durch, raffte meinen ganzen Mut zusammen und ging zur Chefredakteurin.
„Dora? Hast du kurz Zeit für mich?“, fragte ich und spielte dabei mit meinen mühsam geglätteten Haaren.
„Was gibt es?“ Fragend sah sie zu mir.
„Also“, stammelte ich, „ich war doch gestern Abend bei dem Interviewtermin, und es hat auch alles toll geklappt und das Gespräch war super. Doch jetzt ist nichts auf dem Gerät drauf.“ Die letzten Worte waren nur noch geflüstert.
Ich merkte ihr an, dass sie mich am liebsten angeschrien hätte, aber sie beherrschte sich, indem sie ein paar Mal laut schnaufte. „Helena, soll ich dir das Gerät vielleicht nochmals erklären? Du musst vor dem Gespräch immer auf Aufnahme drücken.“
Mein Gott, war das peinlich! Jeder neue Praktikant konnte das nach einem Tag.
„Ich verstehe es ja auch nicht. Es muss am Gerät liegen“, versuchte ich eine vage Ausrede.
Genervt sah sie mich an. „Ich werde es einer Praktikantin geben, vielleicht kann die das ja besser als du“, sagte sie spitz und schüttelte dabei fortwährend ihren roten Pagenkopf, was ein bisschen so aussah, als würde sie damit einen Schwarm Fliegen verscheuchen.
Nun war ich zornig. Ich hatte gleich nach dem Abschluss der Schule hier als Praktikantin begonnen, und da ich mich so geschickt angestellt hatte, wurde mir nach ein paar Monaten eine fixe Anstellung als Reporterin angeboten. Was meinen ursprünglichen Plan, mein Studium zügig durchzuziehen, doch arg ins Wanken brachte, da ich neben meinem Job nur noch selten dazu kam, die eine oder andere Prüfung abzulegen. Jedenfalls war ich hier im Sender immer sehr bemüht, das Beste aus meinen Aufgaben zu machen, und viele meinten, ich hätte großes Talent, Menschen zu interviewen. Wahrscheinlich war ich einfach neugierig genug, um die richtigen Fragen zu stellen. Und jetzt sollte eine Praktikantin meine verunglückte Aufgabe übernehmen? Ich war peinlich berührt und gleichzeitig zornig auf mich selbst.
Den restlichen Arbeitstag über konnte ich mich kaum mehr auf etwas konzentrieren, lustlos erledigte ich meine Aufgaben, bis er endlich zu Ende war.
Als ich zu meinem Auto lief, schüttete es wie aus Eimern. Da ich wunderbarerweise offenbar zu den Frauen gehörte, die nichts aus ihren Fehlern lernten, hatte ich natürlich wieder keinen Regenschirm mit. Entsetzt über das Ausmaß meiner Dummheit hielt ich meine Handtasche über den Kopf, um nicht wieder komplett nass zu werden. Ich wollte nur noch nach Hause, mir eine heiße, fette Schokolade machen und mich unter der Decke verkriechen. Irgendwie war heute alles nicht so gelaufen, wie ich es gerne gehabt hätte. Aus meiner Reportage war nichts geworden und insgeheim hatte ich den ganzen Tag darauf gehofft, dass Marius mich anrufen würde. Es wäre nicht so schwer gewesen, mich zu erreichen, ich hatte ihm immerhin den ganzen Abend lang unser Mikro mit dem unübersehbaren Senderlogo drauf unter die Nase gehalten. Er hätte leicht die Telefonnummer dazu finden können, und meinen Namen wusste er auch. Aber nichts, er hatte nicht angerufen. Warum traf mich das so? Hatte ich mir wirklich in meiner naiven, romantischen Klein-Fräulein-Fantasie vorgestellt, er würde genauso empfinden wie ich? Ich wusste, wie sehr ich es gehofft hatte.
Ich startete meinen Mini, setzte den Blinker und fädelte mich in den dichten Abendverkehr ein. Es regnete unaufhörlich und meine Windschutzscheibe lief permanent an, sodass ich die Straße vor mir nur noch wie mit einem Weichzeichner unterlegt erkennen konnte. Plötzlich begann der Motor zu stottern.
„Oh, nein. Bitte nicht, nicht bei diesem Wetter“, murmelte ich. Konnte dieser Tag denn noch schlimmer werden?
Panisch sah ich mich nach einer Haltemöglichkeit um. Zu meinem großen Glück war genau vor mir auf der rechten Seite eine große Parklücke, dort hinein ließ ich mein Auto rollen, dann starb der Motor mit einem finalen Blubbern endgültig ab.
Wieso? Wieso heute? Wieso mir? Was sollte ich denn nun tun? Ich wischte mit meiner Handfläche über die angelaufenen Fenster und sah nach draußen. Mein Blick blieb an einem Schild mit verschlungenen Lettern hängen.
„Das kann nicht sein, das kann einfach nicht sein“, flüsterte ich.
Ich stand vor dem Antiquariat „Mertenburg und Sohn“. Wieso war ich hier? Mein Heimweg führte hier überhaupt nicht vorbei. Hatte mein Unterbewusstsein mir einen Streich gespielt? Was sollte ich nun tun?
Ich saß eine Weile im Auto, ohne mich entscheiden zu können. War es nicht zu aufdringlich, einfach reinzugehen? Womöglich würde er mich für eine Klette halten und mit mir dann gar nichts mehr zu tun haben wollen. Mitten in meinen Überlegungen wurde mir klar, dass ich nichts lieber tun würde, als Marius wiederzusehen. Also gut, das Schicksal hat es offenbar so gewollt! Was konnte ich dafür? Rein gar nichts, eben.
Ich nahm meine Handtasche – die mittlerweile schon etwas mitgenommen aussah von all den missbräuchlichen Verwendungen als Regenschirm; das Leder kräuselte sich an den Rändern, als wäre es Petersilie –, hielt sie mir in altbewährter Manier über den Kopf und lief so schnell ich konnte zur Eingangstür. Mit einem lauten Knall schleuderte ich sie auf und warf mich buchstäblich in das Geschäft hinein.
Drinnen herrschte wieder absolute Ruhe, von draußen fiel nur dämmriges Licht herein. Die einzige Lichtquelle war die kleine Lampe am Schreibtisch an der hinteren Wand. Und dort saß er wieder. Erstaunt blickte er mich an.
Wieso sah er nur so übermäßig gut aus? Ich sah verstohlen an mir herab. Von meinen Haaren bis zu meinen Sohlen war ich nass, was garantiert einen tollen Anblick bot. Warum schaffte ich es eigentlich nie, einigermaßen gestylt vor ihm zu stehen? Es konnte doch zur Abwechslung vielleicht auch einmal ihm die Luft weg bleiben. Aber wie mir schien, waren wir weit davon entfernt.
„Hallo Helena! Könnte es sein, dass du direkt aus der Dusche kommst?“, fragte er mit unüberhörbar belustigtem Unterton.
„Nun, äh, ja“, begann ich zu stammeln, „es ist nur so, dass ich … und ich weiß, das klingt jetzt etwas unglaubwürdig … nach Hause unterwegs war, und genau vor eurem Antiquariat hat mein Mini seinen Geist aufgegeben. Also wirklich genau vis-à-vis. So ein Zufall, oder? Jedenfalls dachte ich, du bist meine einzige Rettung!“ Ich versuchte ein zaghaftes Lächeln.
„Leider muss ich dir sagen, dass ich nicht unbedingt der geborene Mechaniker bin. Oder was hattest du dir unter Rettung vorgestellt?“
„Also, nein. Ich dachte nicht, dass du dich jetzt unter mein Auto werfen sollst, um es zu reparieren. Sondern eher daran, dass du mir vielleicht einen Regenschirm leihen könntest. Ich würde mir auch gerne ein Taxi rufen und hier im Trockenen warten, wenn es keine Umstände macht.“
Nachdenklich sah er mich an und schüttelte dann ein wenig den Kopf. Irgendwie schien er sich über etwas nicht im Klaren zu sein. Schließlich stand er auf und kam auf mich zu. Ungefähr zeitgleich wurde mein Pulsschlag dramatisch schneller. Wieder Anzug, wieder perfekt, wieder umwerfend.
„Also, Helena, ich wollte gerade schließen. Wenn es dir recht ist, kann ich dich auch nach Hause bringen.“ Fragend sah er mich an.
Seine dunklen Augen hatten eine eigentümliche Wirkung auf meine Knie. Irgendwie wurden die weich, wenn er mich so ansah. Warum konnte ich das nicht? Ich würde bei ihm auch gerne weiche Knie erzeugen können, aber wie es aussah, hatte ich da keine Chance. Wie es schien, hatte er sich komplett unter Kontrolle. Kein Anzeichen, dass auch er irgendwie nervös war.
„Das wäre ganz entzückend, danke!“, hauchte ich. Warum redete ich eigentlich solchen Blödsinn in seiner Gegenwart? Wer verwendete schon so Ausdrücke wie „entzückend“? Offensichtlich tat er meinem Gehirn ganz und gar nicht gut.
Er nickte und blickte in Richtung Tür. „Ich muss nur noch abschließen und alles abdrehen, dann können wir fahren.“
Schnell hatte er alles erledigt, nahm seine Jacke und wir gingen durch eine kleine Seitentür in einen hell erleuchteten Gang.
„Wir nehmen den Lift nach unten, das Auto steht in der Tiefgarage“, sagte er.
Irgendwie stand er viel zu dicht neben mir; ich konnte ihn riechen. Ich tat so, als müsste ich dringend meinen linken Schuh kontrollieren – klebte da nicht ein lästiger Grashalm? – und lehnte mich dabei ein Stück auf seine Seite, um besser an ihm schnuppern zu können. Wie ein Kaninchen wackelte ich mit meiner Nase und war ganz fasziniert davon, was ich da roch. Was war das bloß, wonach Marius da so betörend duftete?
In der Tiefgarage gingen wir direkt zu seinem Auto.
„Wow“, entfuhr es mir, als ich es sah; vor mir stand ein schwarzer Alfa Romeo, der garantiert mein Jahresgehalt gekostet hatte. Interessanterweise schien ihm meine Reaktion peinlich zu sein.
„Hab ich von meinem Vater bekommen, wollte ich eigentlich gar nicht“, murmelte er.
Na, so ein Auto würde ich mir doch auch gerne schenken lassen! Mir schenkte keiner Autos. Für meinen Mini hatte ich einen kleinen Kredit aufgenommen und mir dafür einen Rüffel meiner Eltern eingehandelt, die von so etwas gar nichts hielten. Für Autos nahm man keine Kredite auf, und mit Anfang 20 kaufte man sich gefälligst auch kein funkelnagelneues Auto, sondern, wenn es ging, ein gutes, praktisches, gebrauchtes. Aber ein bisschen dickköpfig war ich immer schon und daher hatte ich darauf bestanden und mir das Auto einfach gekauft. Seither fuhr ich stolz damit herum, auch wenn meine Eltern nach wie vor die Augen verdrehten, wenn ich damit zu ihnen düste. Jedenfalls hätte ich diesen Alfa mit Handkuss geschenkt genommen.
Wir stiegen ein, Marius ließ den Motor an und wir fuhren aus der Garage.
Verstohlen versuchte ich ihn von der Seite zu betrachten. Sein Profil war fein und männlich, seine Nase perfekt und seine Lippen nicht zu voll, aber dennoch sinnlich. Gekonnt fuhr er durch den dichten Abendverkehr. Irgendwie strahlte er eine unglaubliche Sicherheit aus, als ob er immer Herr der Lage sei. Ich versuchte mir vorzustellen, was ihn aus der Ruhe bringen würde. Vielleicht sollte ich mir einfach die Bluse aufreißen und schauen, ob ihn das zumindest eine Millisekunde aus seiner Kontrolle reißen würde. Aber ich nahm an, dass ich nicht einmal damit eine Chance hatte. Ich saß also nur stocksteif neben ihm und überlegte krampfhaft, wie ich ihm denn zeigen konnte, dass ich intelligent war und auch witzig, wenn nicht gerade er so knapp neben mir saß.
„Mistwetter heute, oder?“, hörte ich mich sagen. So viel zu einem souveränen Anfang. Meine alte Tante Rosi hatte mehr Eloquenz, innerlich stöhnte ich über mich selbst.
„Ja, wirklich. Schön langsam könnte es aufhören zu regnen.“
Netterweise stieg er auf meinen missglückten Smalltalkbeginn ein. So, jetzt aber, feuerte ich mich an, zeig ihm, was du kannst.
„Hast du eigentlich eine Freundin?“ Hoppla, da war ich doch wohl einen Hauch über mein Ziel hinausgeschossen. Ich merkte, wie mir die Röte ins Gesicht stieg.
Er lächelte. „Ich mag Frauen, die direkt sind, da spart man viele Umwege. Zu deiner Frage: Nein, ich habe keine Freundin.“
Ich begann innerlich zu jubilieren. Keine Freundin! Vielleicht hatte ich ja doch eine winzig kleine Chance, bei ihm zu landen. Ich sah nochmals zu ihm hinüber, doch sein makelloses Profil ließ meinen Glauben an meine Chancen rasch wieder schwinden.
Sein Handy läutete.
„Entschuldige“, sagte er und hob ab.
Offenbar war sein Vater dran. Er diskutierte kurz mit ihm, erklärte, dass ich im Auto sei und dass es jetzt eher ungünstig wäre, aber sein Vater bestand auf irgendetwas. Nach kurzer Zeit legte er auf.
„Es tut mir leid, Helena. Aber ich muss kurz bei meiner Tante Edwina vorbeischauen. Sie ist schon sehr alt und wir versuchen, dass sie jeden Tag jemand aus der Familie kurz besucht. Du weißt schon, einfach schauen, ob alles in Ordnung ist. Bei so alten Leuten weiß man nie. Sie ist sechsundneunzig, also wirklich schon … sagen wir … alt.“
Er wollte mich zu seinen Verwandten mitnehmen, was mich begeisterte. War das nicht das erste Anzeichen, dass er es ernst meinte? Ich schimpfte mich selbst eine dumme Kuh.
„Kein Problem, ich habe keinen dringenden Termin, außer den mit meinem Föhn.“ Ich deutete auf meine pitschnassen, kringeligen Haare.
Die Andeutung eines Lächelns umspielte seinen Mund. „Sieht aber ganz … wie soll ich sagen … entzückend aus an dir.“
„Du magst meine Haare?“, entfuhr es mir.
Sein Lächeln wurde breiter. „Aber ja! Besonders die Locken, die du offensichtlich so gar nicht magst“.
Wozu stand ich bitte stundenlang im Badezimmer und versuchte verzweifelt meine Haare glatt zu bekommen, wenn mein Traummann meine Locken liebte? Die Welt war verkehrt.
Bereits nach wenigen Minuten parkten wir ein. Wir befanden uns in einer überaus gepflegten Gasse, links und rechts sah man, halb verdeckt durch hohe Hecken, alte Villen, und in einer solchen Villa wohnte auch Tante Edwina. Durch ein schmiedeeisernes Tor traten wir ein und gingen einen geschwungenen Kiesweg entlang Richtung Eingangstür. Dort erwartete uns bereits eine kleine, gebeugte Person.
„Hallo Marius“, rief sie mit einer erstaunlich klaren, lauten Stimme. „Du hast dich also heute für den Pflichtbesuch geopfert.“ Ihre Augen blitzten ihn schalkhaft an. „Und Besuch hast du auch mitgebracht.“
Marius drehte sich ein Stück zu mir und schob mich sanft nach vorne. „Du weißt, Besuche bei dir sind niemals Pflichtbesuche, du bist meine Lieblingstante“, sagte er und setzte ein Lächeln auf, das – wie es aussah – Tante Edwinas und auch mein Herz synchron zum Schmelzen brachte. „Und das hier ist Helena. Sie ist Reporterin und ich wollte sie gerade nach Hause führen.“
„Wo wart ihr beiden Hübschen denn? Ich hoffe, ich habe euch bei nichts gestört“, sagte sie mit einem gewissen Unterton. Sie lächelte vielsagend und ließ ihre Augen hinter den schmalen Brillengläsern hervorblitzen.
Ich merkte, wie ich schon wieder rot anlief.
„Doch, du hast uns gestört“, sagte Marius und zwinkerte mir zu. „Wir wollten eben zu Helena fahren, um ein bisschen ungestört zu sein.“
Meine Knie wurden wieder gummiähnlich. Alleine dass er sich ein Alleinsein mit mir in seiner Fantasie vorstellen konnte, ließ meine ohnehin reichlich vorhandene Nervosität in ungeahnte Dimensionen schnellen.
Edwina nickte mir verschwörerisch zu und ich war gerade dabei, mich von „höllisch“ aufgeregt in Richtung „geht gerade so“-aufgeregt zu entspannen, als sich plötzlich etwas änderte. Es war nur eine kaum wahrnehmbare Nuance in ihrem Blick. Sie betrachtete mich einige Sekunden, neigte dann den Kopf und murmelte ein paar Worte, die ich nicht verstand. Plötzlich war sie ernst, jede Freundlichkeit war aus ihrem Gesicht verschwunden. Sie blickte Marius an und irgendwie schien dieser Blick vorwurfsvoll zu sein.
Was hatten wir getan? Das war doch nur eine lustige Anspielung gewesen, es war doch überhaupt nichts passiert! Wie ich zugeben musste: leider. Ich überlegte, dass Tante Edwina doch schon eine sehr alte Dame war, deren Moralvorstellungen vielleicht nicht ganz in die heutige Zeit passten. Wahrscheinlich war ihr der Gedanke, dass ihr heiß geliebter Neffe vor der Ehe Sex haben könnte, zuwider. Ich sah Marius an. Arme Tante Edwina! So wie er aussah, konnte sie sich leider von dem Gedanken an einen enthaltsamen Neffen verabschieden.
„Alles in Ordnung, Tante Edwina. Mach dir keine Sorgen.“ Ernst sah er sie an und schob mich an ihr vorbei in das Haus hinein.
Nach einigen Minuten war die Stimmung wieder so ungezwungen wie zur Begrüßung und ich vergaß die kurze Missstimmung.
Marius ging in die Küche, um Tee zu kochen, während Tante Edwina und ich im Wohnzimmer auf einem schönen, moosgrünen Diwan mit einer großzügig geschwungenen Rückenlehne Platz nahmen. Ich drückte mir eines der zahlreichen Kissen mit kunstvoller Kreuzstickerei und Quasten in den Rücken und sah mich neugierig um. Der hohe Raum wirkte alt, aber sehr edel, die oberen Kanten waren mit feinster Stuckatur umrandet, auf dem knarzenden Einlegeparkett lagen etwas abgetretene, aber wunderschöne Perserteppiche, und die bernsteinfarbenen Biedermeiermöbel hatten jede Menge Holzverzierungen und glänzten, als ob sie heute erst mit Möbelpolitur eingelassen worden wären. Wenn ich es genau betrachtete, roch es sogar nach Politur; ich lag mit meiner Einschätzung offensichtlich gar nicht so falsch. Es war eine unglaubliche Leistung für eine Dame ihres Alters, den Haushalt so gründlich alleine zu führen. An meine staubbedeckten Möbel wollte ich lieber gar nicht denken. Voll Ehrfurcht dachte ich daran, dass Edwina bald hundert Jahre alt werden würde, ein wahrhaft biblisches Alter, dennoch wirkte sie unglaublich rüstig. Ihre dunkelbraunen Augen – die denen von Marius verdammt ähnlich sahen – sahen wach in die Welt, und obwohl ihr Gesicht von Tausenden Falten übersät war, wirkte sie mit ihrem fröhlichen Zug um den Mund jung wie ein Schulmädchen. Sie benutzte zwar einen Stock als Gehhilfe, aber irgendwie schien es mir, als verwendete sie ihn nur, um einen Hauch gebrechlich zu wirken. Vielleicht liebte sie es, wenn man sich ein bisschen um sie sorgte.
Während wir tratschten, als würden wir uns schon seit Ewigkeiten kennen, knabberte ich an einer von Edwina frisch gebackenen Biskuitroulade, die so köstlich war, dass ich mich beherrschen musste, um nicht auch noch den Teller abzuschlecken. Noch nie hatte ich so etwas Feines gegessen, so weich, so flaumig, so unglaublich! Erst nach der dritten Schnitte lehnte ich ein weiteres Stück dankend ab, und das auch nur, weil es mir peinlich war und ich nicht als verfressen dastehen wollte. Heimlich lutsche ich meine Fingerspitzen ab, auf denen noch Rouladenreste klebten.
Nach rund einer Stunde – ich hatte mir schließlich doch noch eine vierte Schnitte von der Roulade geben lassen, verfressen hin oder her – fuhren wir wieder. Marius war unglaublich fürsorglich gewesen und ich brauchte keinerlei hellseherische Fähigkeiten, um zu erkennen, dass Tante Edwina ihren Neffen vergötterte.
Marius hielt mit seinem Wagen genau vor meinem Wohnhaus. Schon die ganze Fahrt über waren wir still gewesen. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, und wollte auch nicht die nette Schwingung, die noch vom Besuch bei seiner Tante herrschte, verderben. Er stellte den Motor ab und sah mich aufmerksam an. Als sich unsere Blicke trafen, kaute ich ein bisschen an meinen Lippen und hielt meine Hände verkrampft im Schoß. Wie gerne wäre ich jetzt sprühend vor Witz gewesen und hätte fröhlich lachend für den ungemein netten Abend gedankt, doch ich saß einfach nur still da und wartete angespannt. Ich wünschte mir, er würde irgendetwas tun oder sagen, das mir zeigte, dass ich ihm nicht ganz egal war.
Lange schauten wir uns so an. Auch wenn ich gewollt hätte, hätte ich meinen Blick nicht abwenden können. Vor mir saß der Mann meiner Träume, mit seinem geheimnisvollen Lächeln und schaute mich an. Mich.
Marius lächelte zaghaft. Plötzlich beugte er sich zu mir herüber und küsste mich sanft auf die Wange.
„Das wird ganz schön kompliziert“, murmelte er.
Ich hatte keine Ahnung, was er damit meinte, ich spürte nur ein Kribbeln an der Stelle, an der er mich geküsst hatte. Überhaupt kribbelte jetzt mein ganzer Körper. Ich kam mir vor wie eine Zwölfjährige nach ihrem allerersten keuschen Kuss.
„Gute Nacht, schöne Helena“, sagte er.
Ich konnte mir in diesem Moment problemlos vorstellen, für den Rest meiner Tage hier in diesem Auto sitzen zu bleiben. Neben ihm. Leider fiel mir partout kein einigermaßen glaubhafter Vorwand ein, warum ich nicht aussteigen sollte.
„Gute Nacht, Marius“, sagte ich etwas krächzend, hievte mich aus dem Wagen, schloss die Autotür und er fuhr davon.
Benommen taumelte ich zum Aufzug, um zu meiner Wohnung im dritten Stock hochzufahren. Ich fuhr mir mit der Hand über die Stelle, an der er mich eben geküsst hatte. Er mochte mich, er fand mich schön. Winzige Babyschmetterlinge begannen in meinem Körper zu flattern, sogar in meiner blauen kleinen Zehe herrschte Unruhe. Plötzlich fiel mir wieder ein, was er gesagt hatte: Das wird kompliziert. Was in aller Welt wird kompliziert? Er hatte keine Freundin, ich hatte keinen Freund. Was konnte da schon kompliziert sein? Ich grübelte noch eine Weile darüber nach, bevor ich mich schließlich ganz und gar meinen Schmetterlingsgefühlen überließ und auf ihnen davonflatterte.