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Grafschaft Cornwall, 1853

1. Kapitel

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Wie oft schon hatte ich mir vorgenommen, meine wenigen Habseligkeiten in den zerschlissenen Koffer zu packen, der mich schon auf meinem Weg hierher vor vielen Jahren begleitet hatte. Alles wäre schnell verstaut.

Dann musste ich mir nur noch einen Vorwand einfallen lassen, mit dem ich das Haus mit meinem Koffer verlassen konnte, ohne dass jemand meine wahren Absichten erahnte: nämlich nie wieder nach Ashwood Hall zurückzukehren.

Noch immer schwankte ich zwischen zwei Möglichkeiten für meine Zukunft.

Ich hatte in der Times gelesen, dass Miss Nightingale Krankenschwestern und Helferinnen suchte, die mit ihr in den Krimkrieg ziehen würden, der unmittelbar bevorstand. Der Gedanke, den verwundeten Soldaten dort helfen zu können, war für mich sehr reizvoll. Außerdem bewunderte ich diese Frau grenzenlos. Sie war sich für keine Auseinandersetzung mit den Behörden und den Politikern zu schade und wollte nicht einsehen, warum sie als Frau nicht genau so viel erreichen konnte wie ein Mann. Diese Berufung glaubte ich auch in mir zu spüren.

Die andere Möglichkeit hing zwar auch mit Miss Nightingale zusammen, würde sich aber in Deutschland abspielen. Sie hatte auf die katastrophalen Zustände in englischen Hospitälern aufmerksam gemacht und darauf hingewiesen, dass man in manchen deutschen Krankenhäusern Frauen bereits zu fähigen Krankenschwestern ausbilden würde. Da sie nach ihrer Rückkehr von der Krim die hiesigen Missstände in Angriff nehmen wollte, war sie dann auf ausgebildete Frauen angewiesen.

Zu denen wollte ich gehören.

Eine Zusammenarbeit mit Miss Nightingale erschien mir in dieser Zeit als die Erfüllung all meiner Träume und Sehnsüchte. Ich würde endlich einen Sinn in meinem Leben finden, mein Wissen weitergeben und kranken Menschen wirklich helfen können. Welches Ziel konnte für eine junge Frau hehrer sein als das?

Ich musste aber erst einmal nach London gelangen, um mich dort zu erkundigen, wie ich entweder mit Miss Nightingale auf die Krim gehen oder aber in welchem Ort in Deutschland ich die von mir so ersehnte Ausbildung bekommen konnte.

Da ich ein wenig Geld gespart hatte und ein paar Schmuckstücke meiner verstorbenen Mutter besaß, würde ich mein Ziel schon erreichen. Da hatte ich ein ganz gesundes Selbstvertrauen. Alles war bereits in die Säume meines einzigen Reisekleides eingenäht, sodass ich sofort aufbrechen konnte, sobald ich den richtigen Zeitpunkt für gekommen halten würde.

Hier in Ashwood Hall war ich nur die arme Verwandte, die nach dem Unfalltod ihrer Eltern von ihrem Onkel Henry und ihrer Tante Vita auf das Großzügigste aufgenommen worden war. Man suchte damals nach einer Art Schwester für meine Cousine Claire, die sonst hier ganz ohne Kontakt mit anderen Kindern aufgewachsen wäre, und da kam ich genau richtig.

Als dann später noch mein Cousin Peter als Nachzügler auf die Welt kam, war meine Tante Vita der Ansicht, man könne sich die Kosten für ein Kindermädchen sparen, da ich diese Aufgabe ja übernehmen könne. Ich kam als arme Verwandte erst ganz weit nach ihren Kindern, da wunderte mich ihr Ansinnen nicht. Denn ich wusste ganz genau, dass sie der Meinung war, dass ich so wenigstens zum Teil an den Kosten beteiligt werden konnte, die ich unweigerlich verursachte.

Mein Onkel Henry, ein sehr jovialer, gutmütiger älterer Herr, mochte mich von Beginn an und konnte seiner Frau in ihren Überlegungen, was mich betraf, nicht folgen, hatte aber nicht den Mumm, um sich gegen seine Frau durchzusetzen.

Peter war ein sensibles Kind, ich liebte ihn über alles und er mich. Seine Mutter tat ihre Pflicht und sah ab und zu nach ihm, war ansonsten aber der Meinung, dass die Kinderschwester und das Personal für sein Wohl zuständig waren. Er war so ein lieber Junge, der ständig meine Nähe suchte, und wenn ich sie ihm gab, war er das glücklichste, anschmiegsamste Kind der Welt. Doch sobald er etwas angestellt hatte, wurde selbstverständlich ich dafür verantwortlich gemacht. Aber diesbezüglich hatte ich mir ein dickes Fell zugelegt. Die Maßregelungen meiner Tante ließen mich sehr schnell völlig unbeeindruckt, und Peter gab kaum Anlass zu Strafmaßnahmen. Er hatte Angst vor seiner Mutter.

Tante Vita war eine ältliche Matrone, die ihre besten Jahre längst hinter sich hatte. Sie kämpfte beständig gegen ihre immer üppiger werdende Figur, schminkte und kleidete sich von Jahr zu Jahr auffälliger, und ihre Hüte gerieten immer mehr zu bombastischen Gebilden.

Meine Cousine Claire war ein Jahr älter als ich und ähnelte ihrer Mutter sehr. Bald sollte sie in die Gesellschaft eingeführt werden, und das war das Einzige, was sie in ihrem Kopf hatte.

Ich habe nie ein ichbezogeneres Geschöpf kennengelernt als Claire. Es gab nur sie auf dem weiten Erdenrund, und jeder hatte das zu akzeptieren. Zusätzlich gab ihre Mutter ihr das Gefühl, das schönste und begehrenswerteste Mädchen der Welt zu sein, und dass bei den Bällen zu ihrer Einführung bei Hofe jeder Mann sich nach ihr verzehren würde.

Ich hatte da so meine Zweifel.

Der einzige Grund, wegen dem ich Ashwood Hall also nicht schon längst verlassen hatte, war Peter. Ohne mich würde man ein Kindermädchen nach dem anderen engagieren, und er würde ohne Ende leiden.

Aber was war mit mir?

Ich war nicht so ohne Weiteres bereit, für ihn mein Leben zu opfern. Niemand hatte das Recht, das von mir zu verlangen. Tante Vita schon gleich gar nicht, so geringschätzig wie sie mich behandelte. Und Peter war schließlich nicht mein leiblicher Sohn.

Gleichzeitig aber brach mir der Gedanke das Herz, ihn in der Obhut irgendwelcher Kinderschwestern zu wissen, denen es völlig gleichgültig war, was er empfand, weil sie es nur Tante Vita recht machen wollten.

Könnte ein Internat mich bei Peter ersetzen?

Bei vielen Kindern wirkte es wahre Wunder, aber ich vermutete, dass es für Peter Gift sein würde, denn er war ein schüchternes, liebebedürftiges Kind, das sich an eine erwachsene Person ganz eng anschloss. Das gab es in einem Internat nicht.

In wie vielen Nächten lag ich schlaflos in meinem Bett, ob nun Peter neben mir lag oder ob er in seinem eigenen Bett schlief, und kam zu keinem Ergebnis. Ich konnte ihn ja schlecht entführen und auf die Krim oder nach Deutschland mitnehmen.

Also verschob ich meine Flucht aus Ashwood Hall immer wieder.

Peter musste in seiner Feinfühligkeit schon länger etwas bemerkt haben. Manchmal sah er mich misstrauisch an und wollte wissen, ob ich auch ja bei ihm bleiben würde. Dann nahm ich ihn ganz fest in meine Arme, weil mein Herz wieder einmal vor Liebe zu ihm überfloss, und versprach ihm, ihn nie zu verlassen.

Ich musste eine Lösung finden, die Peter miteinschloss. Nur hatte ich keine blasse Ahnung, wie diese aussehen könnte.

Tante Vita und Onkel Henry hatten noch einen Sohn, den älteren Bruder von Claire und Peter: Edric.

Edric war ein ausgesprochen gut aussehender junger Mann, groß, breitschultrig mit blonden Locken. Seit seiner Geburt hatte er eine geistige Behinderung, die man ihm zwar nicht auf den ersten Blick anmerkte, aber sobald man näher mit ihm zu tun hatte, fiel auf, dass etwas mit ihm nicht stimmte.

Alle mussten darauf achten, dass er sich nicht aufregte, denn tat er das, bestand die Gefahr eines Anfalls. Edric konnte dann sehr laut und aggressiv werden. In der Regel tat es ihm danach sehr leid, und er musste sich hinlegen, weil er nicht mehr ansprechbar war.

Meine Tante machte natürlich den Arzt dafür verantwortlich, der Edric mit der Zange auf die Welt befördert hatte. Zum Glück waren nach ihm noch Claire und Peter gekommen, die beide völlig gesund waren. Das veranlasste sie aber umso mehr, über Edrics Geburtshelfer zu schimpfen, denn das hatte ja bewiesen, dass es offenkundig an ihm gelegen hatte.

Edric war unsterblich in mich verliebt, jedenfalls glaubte er das. Immer wieder lauerte er mir irgendwo auf und wollte mich küssen.

„Sobald du nächstes Jahr deinen einundzwanzigsten Geburtstag feierst, können wir heiraten.“ Das sagte er alle paar Tage wieder.

Aber ich durfte nicht zu ablehnend sein, sonst bestand die Gefahr, dass er aggressiv wurde und sich nicht mehr unter Kontrolle hatte. Dann konnte ihn nur noch sein Kammerdiener bändigen, Mr Fullerton.

Auch die Nachstellungen von Edric waren mit ein Grund dafür, dass ich Ashwood Hall lieber heute als morgen verlassen wollte. Aber solange ich keine Lösung fand, die Peter miteinschloss, blieb mir keine andere Wahl. Ich musste bleiben.

Also klappte ich meinen alten schäbigen Koffer wieder zu, den ich gefühlt zum hundertsten Mal auf mein Bett gestellt und geöffnet hatte, und jedes Mal hoffte ich inständig, dass Peter nicht genau in diesem Moment in mein Zimmer geplatzt kam.

Auch dieses Mal wanderte der Koffer wieder zurück an seinen Platz auf dem alten Schrank.

Selbstverständlich gab es in meinem Zimmer nur das Nötigste, sodass es sich kaum von den Zimmern der Dienstboten unterschied.

Tante Vita wäre nicht im Traum auf die Idee gekommen, mir ein ähnlich luxuriöses Zimmer herrichten zu lassen wie das von Claire. In ihrem Zimmer fehlte es an nichts.

Ich jedoch war für Tante Vita nur eine Angestellte, die mit der Familie am Tisch aß. Mehr Gedanken machte sie sich nicht.

Ich wollte mich gerade auf den Weg zum Dinner machen, da platzte Claire in mein Zimmer. Sie warf sich, natürlich mit Schuhen, auf mein Bett und plapperte los.

„Wegen des Ballkleides sind Mama und ich uns immer noch nicht einig. Also auf jeden Fall muss es hell sein. Weiß oder Elfenbein? Was meinst du?“ Sie wartete meine Antwort gar nicht ab. „Ach, ich sehe mich jede Nacht tanzen in meinem traumhaften Kleid.“ Sie machte ein paar wiegende Bewegungen und summte einen Walzer. „Ich werde meinen zukünftigen Ehemann dort kennenlernen.“

Dann setzte sie sich auf. „Mama sagt, du wirst nicht in die Gesellschaft eingeführt. Mama hält das für überflüssig. Papa wird dir einen Ehemann suchen. Ach, du kennst sie ja.“

„Ich lege keinen Wert auf eine Einführung bei Hofe. Und wenn ich überhaupt einmal heirate, dann suche ich mir meinen Ehemann selbst aus.“

Claire lachte. „Bilde dir bloß nicht zu viel ein.“

Ich hatte wirklich Schwierigkeiten damit, mir Claire in einem wunderschönen Ballkleid vorzustellen. Ihre Figur war eher drall, was in den nächsten Jahren zum Problem werden würde. Ihr Hals war zu kurz, und ihre fleischigen Arme passten nicht zu ihrem Körper.

Mit ganz viel Wohlwollen konnte man sie bestenfalls als hübsch bezeichnen. Aber in ihrem Gesicht sah man schon das matronenhafte Äußere ihrer Mutter, und ihr Haar war viel zu widerspenstig, um es bändigen zu können.

Doch trotzdem Claire in ihrer Selbstbezogenheit sehr verletzend werden konnte, so hatte ich sie doch lieb, denn sie war kein schlechter Mensch, wofür ich allerdings ihre Mutter insgeheim hielt.

„Ach, Claire, ich habe jetzt keine Geduld für deine Schwärmereien. Ich habe Hunger und will zum Dinner hinuntergehen. du weißt, wie gereizt deine Mutter ist, wenn wir uns verspäten.“

Bei der Erwähnung ihrer Mutter stand sie vom Bett auf und strich ihr Kleid glatt. „Ja, ich habe auch Hunger, gehen wir.“

Draußen sagte ich: „Ich muss noch Peter holen. Wartest du?“

Sie sah mich mit ihren etwas zu kleinen Augen ungehalten an.

„Immer dieses Getue um Peter. Man könnte meinen, ich wäre dir nicht wichtig.“

Angedeutet stampfte sie mit einem Bein auf den Boden.

Ich musste mir ein Grinsen verkneifen. „Ach, Claire. Du weißt, dass das nicht stimmt.“ Ich gab ihr einen Kuss auf die Wange und drehte mich um.

Da hörte ich nur noch, wie eine selbstverliebte Claire den Gang entlanghüpfte, als wäre gar nichts gewesen.

Peter wartete schon auf mich. „Vicky, Vicky. Schau mal, was ich gemalt habe!“ Er nahm meine Hand und führte mich zu seinem Kinderschreibtisch.

Wieder einmal musste ich feststellen, dass er ein wirkliches Talent hatte zu zeichnen. Für einen Fünfjährigen konnte man Ashwood Hall auf der Zeichnung erstaunlich gut erkennen.

„Liebling, das ist ja wunderschön. Du bist ein wirkliches Talent!“

Ich nahm ihn hoch, obwohl er mir eigentlich schon zu schwer wurde, und drückte ihn ganz fest, nicht ohne ihm viele Küsse auf sein kleines Gesicht zu geben.

Im Hintergrund war Miss Evans am Werkeln, die Kammerzofe, die für Peter und Claire zuständig war. Sie war nur ein paar Jahre älter als ich, und wir verstanden uns zum Glück gut. Ab und zu tranken wir hier in Peters Zimmer Tee zusammen.

Als wir ins Esszimmer kamen, saßen schon alle um den Tisch versammelt und schienen auf uns zu warten.

Tante Vita sah mich tadelnd an. „Also wirklich, Victoria. Warum bringst du es eigentlich nicht fertig, pünktlich zum Essen zu erscheinen? Welches Vorbild du damit dem Kind wieder gibst.“

Sie warf mir noch einen kalten Blick zu und gab dann Elinor ein Zeichen, dass sie mit dem Auftragen beginnen konnte.

Ich scherte mich kein bisschen an ihren Worten, denn ich war es gewohnt, von ihr getadelt zu werden.

Claire riss sogleich das Gespräch an sich. „Mummy, wann bestellen wir denn jetzt endlich mein Kleid? Vicky und ich sind uns immer noch nicht über die Farbe einig.“

„Liebling, du weißt genau, dass wir den Termin bei der Schneiderin nächste Woche haben.“

Claire hörte gar nicht hin. „Vielleicht sollte ich doch elfenbeinfarben nehmen. Das passt am besten zu meinen Haaren.“

Aufgeräumt antwortete ihre Mutter: „Ich tendiere auch dazu. Aber wir werden die Meinung der Schneiderin abwarten. Sie hat die meiste Erfahrung und weiß, was die Debütantinnen in diesem Jahr tragen.“

Claire nickte, da meldete sich Edric zu Wort.

„Was bekommt denn Vicky für ein Kleid?“

Mir blieb fast das Essen im Hals stecken. Verständnislos sah Tante Vita ihren Sohn an.

„Was meinst du damit?“

„Vicky geht doch auch auf den Ball, sie braucht ein Kleid.“

Ein tadelnder Blick traf Edric.

„Ich wüsste nicht, dass Victoria bei Hofe eingeführt wird. Also braucht sie auch kein Kleid. Sie wird natürlich mit Peter hierbleiben, wenn wir nach London fahren.“

Edric sah sie verärgert an. „Das weiß ich doch. Ich meine doch den Ball, den du vor London hier geben wirst, damit Claire der Königin vorgestellt wird.“

Tante Vita musste husten und bedachte Edric mit einem noch strengeren Blick, der mich innerlich grinsen ließ, denn ich wusste genau, was jetzt kommen würde.

„Ach, der Ball. Den hatte ich ja ganz vergessen. Nun ja, da finden wir sicher ein abgelegtes Kleid von Claire. Vielleicht muss es ein wenig umgeändert werden, aber das wird schon gehen.“ Ihr abschätziger Blick traf mich, als wäre ich fett wie eine Kuh und ein Kleid aus Claires Schrank müsse für mich erheblich geweitet werden. Dabei war meine Taille um einiges schlanker als die nicht vorhandene Taille von Claire.

„Warum wird Vicky nicht der Königin vorgestellt?“, wollte Peter schüchtern wissen.

Tante Vita wurde zornig. „Also, jetzt reicht es aber. Vicky bekommt ein schönes Kleid von Claire und wird auf dem Ball gut aussehen. Alle heiratsfähigen Männer werden sich sowieso nur nach Claire umdrehen.“ Sie griff über den Tisch und tätschelte ihre Tochter liebevoll. „Nicht wahr, mein Liebling? Die Heiratskandidaten werden Schlange stehen. Ach, wenn ich doch noch mal jung wäre. Wie würde ich die Saison genießen.“

Onkel Henry hatte sich an diesem Geplänkel bisher nicht beteiligt, jetzt nahm er seine Serviette hoch, putzte sich den Bart sauber und hüstelte.

„Also. Ich habe beschlossen, da Vicky nicht mit zur Saison nach London fährt, dass wir ihr als Entschädigung ein Kleid für den Ball anfertigen lassen werden.“

Tante Vita fiel der Dessertlöffel aus der Hand. Mit verständnislosen Augen starrte sie Onkel Henry an.

„Bitte was?“

„Du hast mich sehr gut verstanden, meine Liebe. Wir werden keine Kosten scheuen. Schließlich ist Vicky ein Mitglied der Familie, und das schulden wir ihr.“

Damit stand er auf, legte seine Serviette ab und verließ das Esszimmer. So konnte er nicht mehr sehen, dass seine Frau rot anlief vor Zorn. Giftig sah sie mich an.

„Wie hast du das denn wieder geschafft? Also, ob da das letzte Wort schon gesprochen ist, weiß ich noch nicht. Was so ein Kleid kostet. Was ist nur in ihn gefahren?“ Damit widmete sie sich wieder ihrem Dessert.

Claire freute sich. „Wunderbar. Da können wir zusammen Stoff aussuchen. Vicky, weißt du schon, welchen du nehmen wirst?“

Edric nahm meine Hand und sah mich wie immer völlig verliebt an. „Vicky, du wirst die schönste Frau auf dem Ball sein. Alle werden mit dir tanzen wollen. Aber ich werde dafür sorgen, dass du nur mit mir tanzt. Du gehörst zu mir.“

Edric!“

Alle Anwesenden am Esstisch zuckten zusammen, Edric ließ sofort meine Hand los.

„Ob du zum Ball gehen darfst, hängt von deinem Benehmen ab. Und damit ist die Tafel aufgehoben.“

Eine völlig verärgerte Tante Vita schob ihren Stuhl zurück, sodass er fast umkippte, und rauschte hinaus.

Sofort packte mich Edric noch einmal am Arm. „Vicky, vergiss nie: Du gehörst zu mir, und ich werde dich heiraten. Ob du es nun willst oder nicht.“

Ich sah ihm ins Gesicht und wurde übermütig. Das wurde ich jedes Mal, wenn Tante Vita wegen mir so verärgert war, dass sie fast platzte. Kaum etwas machte mir mehr Spaß.

„Das habe ja wohl nicht ich zu entscheiden, sondern offenbar deine Mutter.“ Damit schob ich seinen Arm weg.

„Vergiss es ja nicht“, raunte er mir völlig ernsthaft zu.

Manchmal bekam ich doch ein wenig Angst vor ihm.

Claire und ihr Bruder verschwanden zum Glück sofort, sodass ich nur noch Peter ins Bett bringen musste. Er war ein wenig beunruhigt, wie jedes Mal, wenn seine Mutter mich so herablassend behandelte, aber da er das nun schon so oft erlebt hatte und ich immer noch bei ihm war, vergaß er es auch schnell wieder.

Ich las ihm noch eine Gutenachtgeschichte vor, und er war schon eingeschlafen, bevor ich fertig war. Also gab ich ihm noch einen Kuss auf die Stirn und überließ ihn Miss Evans.

Auf dem Weg in mein Zimmer beschloss ich, mir nach dem Dinner noch ein wenig die Beine zu vertreten. Ich nahm mein Cape und ging hinaus auf den Gang.

Irgendwie hatte ich mich nie daran gewöhnen können, dass es auf Ashwood Hall so viele lange Gänge gab. Man konnte nicht einfach so mal vor die Tür gehen und einen kurzen Spaziergang machen. Immer musste man eine erhebliche Strecke bis zum Ausgang mit einberechnen. Aber was half es. Ich machte mich auf den Weg.

Als ich vor vielen Jahren hierhergekommen war, nachdem meine Eltern bei einem Zugunglück in China tödlich verunglückt waren, war ich der festen Überzeugung gewesen, dass ich mich bis an das Ende meines Lebens niemals in Ashwood Hall zurechtfinden würde. Immer wieder verlief ich mich und landete in Zimmern, die ich niemals zuvor gesehen hatte. Viele Tränen waren deshalb geflossen, weil ich Angst hatte, nicht mehr zurückfinden zu können. Tante Vita hatte das als Überspanntheit abgetan. Schließlich hätte sie nach der Hochzeit mit meinem Onkel auch schnell gelernt, sich im Schloss zurechtzufinden. Ich sollte also gefälligst nicht so ein Getue machen.

Ob nun deshalb oder weil Claire mir alles zeigte und mich sehr oft begleitete, lernte ich Ashwood Hall dann doch wie meine Westentasche kennen. Es gab jedoch immer noch viele Zimmer, die ich nie betreten hatte. Aber das ging auch Claire so.

Als ich jetzt an den Privaträumen von Onkel Henry und Tante Vita vorbeikam, bemerkte ich, dass die Tür zu ihrem Salon einen Spaltbreit offen stand. Ich konnte sie reden hören, was auch keine große Kunst war, denn beide hatten sie ein ziemliches Organ.

Ich gestehe, dass ich es schon immer genossen habe, andere Menschen zu belauschen. Natürlich tadelte ich mich selbst jedes Mal dafür, und wenn ich es bei anderen Menschen mitbekam, verurteilte ich es. Aber ich konnte einfach nicht anders. Wenn sich mir die Gelegenheit bot, lauschte ich.

Und hier gab es so eine Gelegenheit.

Ich sah mich flüchtig um. Niemand war zu sehen. Der Gang lag in Dunkelheit. Die winzige Gaslampe konnte ihn nicht wirklich erhellen und verhinderte nur, dass man überhaupt ein bisschen etwas sah. Tante Vita sparte am Gas.

Also schlich ich vorsichtig zu der geöffneten Türe.

Sollte einer der beiden herauskommen oder ein Dienstbote auftauchen, würde ich überrascht tun und wahrheitsgemäß behaupten, dass ich auf dem Weg zu einem Spaziergang sei.

Vor der Tür blieb ich stehen.

„Das mit dem Kleid finde ich absolut unangebracht. Was sollte das?“

„Wir können sie nicht so geringschätzig behandeln. Schließlich ist sie meine Nichte und gehört zur Familie.“

Als Antwort kam nur ein typisches “Pff“.

„Dafür fährt sie nicht mit nach London.“

„Na, das wäre ja wohl auch noch schöner“, giftete Tante Vita übellaunig.

Was ich gehört hatte, war mir nicht neu. Tante Vita rieb mir meine Stellung in diesem Haus tagtäglich unter die Nase. Sie war der Überzeugung, dass ich nur Kosten verursachen würde, die durch die Betreuung von Peter in keiner Weise abgedeckt wären. Sie hasste mich, und ich wusste auch genau, warum. Ihr war nicht entgangen, dass ich im Lauf der letzten Jahre zu einer Schönheit herangewachsen war, die von den Männern umschwärmt wurde. Sobald ich auftauchte, war Claire abgeschrieben. Nicht dass ich das gewollt oder genossen hätte, keinesfalls. Aber sie legte es mir als Böswilligkeit aus, um ihrer geliebten Claire die Männer abspenstig zu machen.

In gewisser Weise konnte ich sie sogar verstehen. Wäre nicht jede Mutter so?

Die Unterhaltung ging weiter.

Nachdenklich sagte Onkel Henry: „Edrics Besessenheit von ihr macht mir ein wenig Sorge.“

„Das merkst du ja nun früh. Sie ermuntert ihn doch auch die ganze Zeit. Der arme Junge kann ja gar nicht anders bei diesen Avancen.“

„Vita, bitte! Du übertreibst wieder einmal.“

„Und du bist wieder einmal viel zu blauäugig. Merkst du denn nicht, was sie vorhat? Wenn sie sich Edric angeln kann, dann ist sie die Herrin von Ashwood Hall, und wir haben schnell nichts mehr zu melden. Diese kleine Schlange.“

„Meinst du wirklich?“, fragte Onkel Henry zweifelnd.

Ich habe ja Augen im Kopf und kann eins und eins zusammenzählen. Mir macht das kleine Biest nichts vor.“

Das empörte mich nun doch. Zwar hatte ich mir schon gedacht, dass Tante Vitas Gedanken in so eine Richtung gehen würden, aber es nun aus ihrem Mund so bösartig zu hören, war eine andere Sache. Mir machten Edrics Nachstellungen Angst, und nun musste ich mir anhören, dass ich sie aus niederen Motiven heraus provozieren würde, um mir Ashwood Hall unter den Nagel zu reißen. Wahrscheinlich waren das damals ihre eigenen Motive gewesen, als sie sich Onkel Henry geangelt hatte.

Wütend biss ich die Zähne aufeinander.

Ich überlegte, ob ich weitergehen sollte, denn ich war inzwischen so wütend, dass ich nur noch schwer ruhig bleiben konnte.

Aber es ging noch weiter.

Ich sah Onkel Henry richtiggehend sehr nachdenklich vor dem Kamin sitzen, sich immer wieder durch den Bart streichend, um dann etwas zu sagen, was mich sehr schockierte.

„Dann wird es wohl langsam Zeit, dass ich ihr einen Ehemann suche.“

Das schien sogar Tante Vita für einen Moment sprachlos zu machen.

„Das ist eine ganz ausgezeichnete Idee, mein Lieber. Hast du schon jemanden im Auge?“

Onkel Henrys Antwort bekam ich nicht mehr mit, denn im selben Moment hörte ich hinter mir ein Geräusch. Erschrocken fuhr ich herum.

Grinsend kam Tante Morvenna auf mich zu.

Ihr durch eine Krinoline aufgebauschter Rock hing etwas schief um sie herum. Ihre Haare waren wie immer zu einem Dutt am Hinterkopf gelegt, der ebenso schief wie die Krinoline saß und aus dem sich Haarsträhnen gelöst hatten.

Sie musste schon die ganze Zeit über auf der kleinen Bank am Ende des Flurs gesessen und mich beim Lauschen beobachtet haben. Warum hatte ich auch nicht ganz genau nachgesehen? Ich wusste doch, dass sie lautlos und unaufgefordert an den unmöglichsten Stellen auftauchte, und mehr als einmal hatte sie mich schon dabei beobachtet, wie ich gelauscht hatte.

Sie war im höchsten Maße amüsiert. „Darling, ich habe mein ganzes Leben lang an Türen gelauscht. Glaub einer alten Frau, es bringt nichts.“ Dabei legte sie einen Zeigefinger auf den Mund und signalisierte mir, dass sie mich nicht verraten würde.

Tante Vita und Onkel Henry sprachen inzwischen über etwas anderes, sodass sie den leisen Tumult vor ihrer Tür wohl nicht bemerkt hatten.

Tante Morvenna und ich gingen ein Stück zusammen über die Gänge, ehe wir in verschiedene Richtungen abbogen.

Als ich endlich den Park erreichte, war ich sehr aufgebracht.

Onkel Henrys wollte mir einen Ehemann suchen.

Natürlich wusste ich, dass es in unseren Kreisen gang und gäbe war, dass für die heiratsfähigen Töchter ein passender Ehemann gesucht wurde. Aber es gab auch genügend Beispiele, wo diese Töchter sich den Ehemann selbst gesucht hatten. Das beste Beispiel war unsere Queen.

Als sie Albert von Sachsen-Coburg und Gotha zum ersten Mal sah, verliebte sie sich sofort in ihn, und es gab fortan keinen anderen Mann mehr für sie. Natürlich hatte sie es in dieser Hinsicht leicht. Sie war immerhin schon Königin. Aber trotzdem. Schließlich hätte auch ihre Mutter oder ihr Onkel Leopold ihr einen Mann suchen können.

Ich beschloss, mir keinen Mann aufschwatzen zu lassen, den ich nicht selbst für mich ausgewählt hatte. Eher würde ich in ein Kloster oder hoffentlich mit Miss Nightingale auf die Krim gehen. Sie war schließlich auch nicht verheiratet.

Außerdem würde ich im nächsten Jahr einundzwanzig Jahre alt werden und somit volljährig sein. Dann konnte Onkel Henry mir sowieso keine Vorschriften mehr machen.

Vielleicht hätte ich doch schon früher mutig genug sein sollen, Peter hin oder her, um Ashwood Hall für immer zu verlassen.

Aber auch jetzt in diesem wütenden Zustand wusste ich, dass ich Peter niemals den Klauen seiner Mutter und wechselnden Kindermädchen überlassen würde.

Am Ende würde ich sogar die Wahl Onkel Henrys akzeptieren, nur um weiterhin bei Peter sein zu können.

Damals hatte Onkel Henry die Pflegschaft bis zu meiner Volljährigkeit übernommen, was beinhaltete, dass er sich auch um die finanziellen Belange kümmerte.

„Davon verstehen Frauen sowieso nichts“, war seine ständige Redensart, der Tante Vita sogar zustimmte.

Ich ging davon aus, dass meine Eltern mir kein großes Erbe hinterlassen hatten, denn sonst hätte Onkel Henry mir ja etwas davon gesagt. Wenn ich in einem Jahr meine Volljährigkeit erreicht haben würde, müsste ich mir meinen Lebensunterhalt selbst verdienen.

Das würde ich bei Miss Nightingale tun, davon war ich überzeugt, und wenn ich dafür auf Peter verzichten müsste. Denn Tante Vita würde mich eh keinen Tag länger in ihrem Haus dulden als unbedingt notwendig.

Leider war Tante Morvenna diesbezüglich überhaupt keine Hilfe.

Sie war die ältere Schwester von Onkel Henry, und als ihr Mann vor sehr vielen Jahren verstarb, tauchte sie plötzlich in Ashwood Hall auf, wo sie aufgewachsen war. Onkel Henry blieb nichts anderes übrig, als sie aufzunehmen, obwohl Tante Vita ihm furchtbare Szenen gemacht haben musste, denn die beiden Frauen konnten sich auf den Tod nicht ausstehen. Deshalb tauchte Tante Morvenna auch nur selten bei den Mahlzeiten auf. Meistens aß sie in ihren Räumen, um ihre Schwägerin nicht sehen zu müssen.

Aber sie spazierte sehr oft im Haus herum, und keiner bemerkte sie, weil sie sich nahezu unsichtbar machen konnte. Dadurch bekam sie viel von den Begebenheiten im Haus mit, was sie manchmal geheimnisvoll andeutete.

Obwohl, überlegte ich, wenn ich mir ihren Hass auf Tante Vita zunutze machen würde, vielleicht konnte sie mir dann ja doch helfen. Nur hatte ich keinen blassen Schimmer, wie das funktionieren sollte.

Ich hatte noch ein Jahr Zeit, beruhigte ich mich selbst. Und in diesem konnte so viel geschehen.

Wenn ich damals gewusst hätte, wie recht ich mit dieser Annahme hatte, wäre ich dann doch geflohen?

Die Braut von Ashwood Hall

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