Читать книгу Die Braut von Ashwood Hall - Sylvia Weill - Страница 6
2. Kapitel
ОглавлениеAm nächsten Tag kränkelte Peter.
Das war nichts Ungewöhnliches. Peter war ein sehr sensibles, für alle Umwelteinflüsse anfälliges Kind, das schnell mit leichteren Krankheiten reagierte, wenn etwas nicht so war, wie er es kannte oder er Angstzustände bekam.
Als ich zu ihm ging, sagte mir Miss Evans gleich, dass er schon die ganze Zeit nach mir gerufen habe. Auch das war nichts Neues.
Wie er da so in seinem Bett lag, mit glänzenden Augen und leicht geröteten Wangen, floss mein Herz sofort wieder über vor lauter Liebe zu diesem kleinen verletzlichen Wesen.
„Mein Liebling, was ist mit dir? Hast du wieder Bauchschmerzen?“
Er nickte nur und deutete auf seinen Bauch.
Also schob ich die Decke beiseite und legte meine Hand auf seinen Bauch, wie ich es dann immer machte. Unruhig sah er mich an, und sein Blick flackerte. Ich wusste, dass er Angst hatte.
„Hast du schlecht geträumt, Darling? Willst du es mir erzählen?“
Er nickte heftig, also lächelte ich ihn aufmunternd an. Er brauchte ein paar Ansätze, aber dann kam es doch aus ihm herausgeplatzt.
„Ich habe wieder geträumt, dass du weggehst.“ Er sah mich mit großen, ängstlichen Augen an, wie ein kleines Rehkitz.
Mir gab es einen Stich in mein Herz.
Ich konnte einfach nicht anders: Ich hob den kleinen Jungen vorsichtig aus dem Bett und hielt ihn ganz fest in meinen Armen.
Er klammerte sich an mich und flüsterte immer wieder: „Du lässt mich doch nicht allein, oder?“
Ich hielt ihn so fest wie ich konnte, weil ich wusste, dass es ihn am schnellsten wieder beruhigte.
Immer wieder beteuerte ich ihm, dass ich ihn niemals allein lassen würde. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, denn am Abend zuvor hatte ich diese Möglichkeit in Erwägung gezogen. Ob er davon irgendwas gemerkt hatte? Es gab ja Menschen, die in der Lage waren, die Gedanken anderer zu erspüren. Ich gehörte nicht dazu, aber vielleicht mein kleiner Peter. Das würde ihm sein Leben sehr erschweren, und er würde schon mit seiner Feinfühligkeit genügend Probleme mit seiner Umwelt bekommen.
In diesem Moment war ich bereit, auf mein persönliches Glück zu verzichten, nur um Peter, solange ich konnte, die größeren Schwierigkeiten zu ersparen. Alles würde ich ihm nicht abnehmen können, aber allein, dass ich da war, bedeutete für ihn schon einen ungeheuren Halt. Den würde ich ihm niemals nehmen.
Also begrub ich meine Pläne mit Miss Nightingale. Mir war offensichtlich ein anderer Weg bestimmt. Vielleicht würde ich ja niemals eigene Kinder haben, nur um mich um dieses eine Kind zu kümmern. Ein Kind, das viel mehr mein Kind war als das von Tante Vita.
Zum Glück ließ sich Peter durch meine liebevolle Zuwendung immer schnell wieder beruhigen. Viel mehr brauchte er nicht.
„Willst du bis zum Lunch noch im Bett bleiben, kleiner Liebling? Miss Evans macht dir Tee, und dann sind deine Bauchschmerzen ganz schnell wieder weg. Vielleicht kannst du ja heute Mittag schon wieder etwas essen.“
Er nickte nur heftig, stimmte mir zu und sah sich direkt nach Miss Evans um. Also gab ich ihm noch einige Küsse auf sein kleines Gesicht und überließ ihn dann seiner Kinderfrau, die ihn auch sehr liebte.
Dadurch kam ich zu spät zum Frühstück. Alle waren schon versammelt, und sogar Tante Morvenna bedachte uns mit ihrer Anwesenheit. Als ich eintrat, war sie in eine heftige Diskussion mit Tante Vita verwickelt. Das wunderte mich überhaupt nicht, denn sobald die beiden Frauen aufeinandertrafen, flogen die Fetzen. Trotzdem sah Tante Vita auf, während ich mich auf meinen Platz setzte.
„Ah, Victoria. Jetzt mussten wir schon wieder auf dich warten. Ich weiß wirklich nicht, warum es so schwierig ist, pünktlich zu den Mahlzeiten zu erscheinen. Wo ist Peter?“
„Er hat Bauchschmerzen, und ich hielt es für das Beste, ihn im Bett zu lassen. Miss Evans kocht ihm Tee.“
Ein vernichtender Blick aus Tante Vitas Augen traf mich. „Ah, ja.“
Tante Morvenna hatte vor sich hin gegrinst und sich derweil ihrem Teller mit einer beachtlichen Menge Speck und Eiern gewidmet. Ein paar kleine Würstchen lagen auch noch dabei.
Ich bemerkte im Augenwinkel, dass ihr Mieder nicht richtig geschnürt war. Aber es hätte mich eher gewundert, wenn Krinoline und Mieder einmal am rechten Fleck gesessen hätten.
„Ich hörte, es soll einen Ball geben?“
Listig lächelnd sah sie ihre Schwägerin an.
Die giftete sofort zurück: „Hauptsache, du bekommst wieder alles mit, was nicht für deine Ohren bestimmt ist.“
„Aber, meine Gute. Ich liebe Bälle. Was haben mein Mann und ich früher für Bälle gegeben. Darüber spricht man in London noch heute. Ich werde mir ein neues Ballkleid anfertigen lassen. Vielleicht bordeauxrot? Henry, du wirst dann hoffentlich mit einer alten Frau wie mir tanzen?“
Onkel Henry murmelte etwas vor sich hin, so als hätte er gar nicht zugehört. Doch Tante Vita giftete noch immer.
„Mach doch, was du willst.“
„Das werde ich wie immer tun, meine Liebe.“ Tante Morvenna war noch nicht bereit, den Kampf zu beenden. „Wird denn Victoria auch ein neues Ballkleid bekommen?“
Tante Vita fuhr auf wie von der Tarantel gestochen.
„Wie kommst du denn darauf? Wieso sollte Victoria ein neues Ballkleid bekommen? Es ist Claires Ball, falls du das nicht mitbekommen haben solltest.“
Während die beiden stritten, legte Edric mir seine Hand auf den Arm. „Du wirst die Schönste der Nacht sein.“ Das sagte er so verliebt und zärtlich, dass mir doch ein wenig anders wurde. Hätte er nicht seine Behinderung, was wäre er für ein Mann gewesen? Er sah so gut aus, und wenn er denn auch noch ein guter Mann sein könnte, wie lang wäre da die Schlange von Frauen gewesen, die ihn gerne als Ehemann hätten? Hätte ich ebenfalls angestanden?
„Edric!“
Beschämt zog er seine Hand wieder weg, flüsterte aber noch: „Niemand darf mit dir tanzen, nur ich.“
„Aber Victoria wird doch auf dem Ball auch anwesend sein“, nahm Tante Morvenna ihre Sticheleien wieder auf.
Da stieß Onkel Henry seinen Stuhl zurück und stand auf. „Ihr entschuldigt mich.“
Die beiden Frauen beachteten ihn gar nicht. Kalt erwiderte Tante Vita: „Morvenna, ich verstehe dich wirklich nicht. Natürlich wird sie anwesend sein. Sie muss ja Peter begleiten, wenn er kurz zusehen will, wie getanzt wird.“
„Ich dachte mir schon so etwas.“
„Was hast du dir gedacht?“
„Dass Victoria wieder das Aschenputtel geben muss.“
Ich mochte es überhaupt nicht, wenn ich zum Gegenstand der Streitereien zwischen den beiden Kampfhennen wurde. Aber leider war das nicht das erste Mal. Tante Morvenna brachte es immer wieder geschickt fertig, mich so ins Spiel zu bringen, dass Tante Vita fast explodierte. Das amüsierte mich zwar insgeheim, aber ich wusste auch, dass ich es wieder würde ausbaden müssen. Deshalb widmete ich mich meinem Essen und versuchte, unbeteiligt zu wirken, so wie es Claire und Edric auch taten, die beide einen großen Respekt vor Tante Morvenna hatten, auch wenn sie sie normalerweise als exzentrische alte Frau abtaten. Ich machte diesen Fehler nicht.
„Und warum sollte ich sie deiner Meinung nach mit einem teuren Abendkleid ausstaffieren? Damit sie damit für eine Viertelstunde mit Peter am Rand steht und zusieht?“
„So hatte ich es mir nicht gedacht.“ Jetzt schien Tante Morvenna den Spaß am Klingenkreuzen mit ihrer Schwägerin zu verlieren. Sie legte die Serviette neben ihren Teller und stand mühsam auf. „Wenn du ihr kein Ballkleid besorgst, werde ich das tun.“
Mit offenem Mund starrten sie zwei Frauen am Tisch an. Tante Vita und ich.
„Schließlich ist Victoria ein Mitglied der Familie.“ Damit rauschte sie hinaus.
Tante Vita sah zu mir. „Ich muss schon sagen, Victoria. Wir haben dich reinen Herzens und selbstlos hier aufgenommen, und jetzt gibt es wegen dir ständig Streit.“ Sie stieß ihren Stuhl polternd zurück und verließ ebenfalls den Raum.
Das nutzte Claire natürlich sofort aus.
„Oh prima, Vicky. Du bekommst auch ein Abendkleid. Da können wir zusammen zur Schneiderin gehen und die Anproben machen. Das wird ein Spaß. Die jungen Männer werden natürlich alle nur mit mir tanzen wollen, aber vielleicht findet sich ja der eine oder andere ältere Herr, der mit dir mal einen Walzer tanzt.“
„Sei still“, rief Edric aus. „Ich habe doch gesagt, dass sie nur mit mir tanzen wird. Ist das klar?“
Claire überging das einfach. „Reg dich nicht so auf, sonst bekommst du noch einen Anfall.“
Daraufhin nahm Edric seine beiden Hände und presste sie auf seine Ohren. „Ich habe solche Kopfschmerzen und mir ist übel.“
Claire und ich sahen uns nur an, beide wussten wir, dass er einen Anfall bekommen hatte.
„Ich gehe“, sagte ich und lief los, um Mr Fullerton zu holen, der Abhilfe schaffen würde. Nur er konnte Edric in diesem Zustand beruhigen.
Als ich mit Claire dann später allein war, ging es weiterhin nur um ihr Kleid und wie gut ihr zukünftiger Ehemann aussehen würde. Selbstverständlich würde sie ihn auf dem Ball kennenlernen, und er wie auch alle anderen jungen Männer, die zu dem Ball eingeladen waren, würden sich sofort bis über beide Ohren in sie verlieben.
„Was mache ich denn nur, wenn ich mich nicht entscheiden kann, wen ich heiraten soll? Du hast es gut, für dich sucht Papa einen Ehemann aus. Da musst du gar nichts machen. Aber so eine Schönheit wie ich hat es da bei Weitem schwerer.“
Ich sagte dazu nichts, weil sie es auch gar nicht erwartete.
In meinem Zimmer ging mir die Ankündigung von Tante Morvenna nicht aus dem Kopf. Sie wollte mir ein Ballkleid besorgen, und das hieße ja, sie würde es auch bezahlen.
Was führte sie damit nur im Schilde? So etwas hatte es bisher noch nicht gegeben. Wollte sie damit nur Punkte im Krieg mit Tante Vita machen, weil sie wusste, dass die sich darüber mordsmäßig aufregen würde? Oder hatte sie ihre eigenen Gründe?
Ich wusste, dass Tante Morvenna eine sehr reiche Frau war, denn sie war die Alleinerbin des Besitzes ihres verstorbenen Ehemanns gewesen. Kinder hatten sie nicht gehabt.
Was ich auch wusste, war, dass sie einen großen Teil dieses riesigen Vermögens an Onkel Henry überschrieben hatte, als sie wieder hierher zurückkam. Wahrscheinlich hatte Tante Vita darauf bestanden. Denn irgendwie brauchte Onkel Henry immer Geld. Ich weiß nicht genau, warum, aber ich vermutete, dass er heimlich spielte. In der Küche hatte ich ab und zu ein paar Brocken aufgeschnappt. Aber da in Ashwood Hall keine Armut herrschte, hatte ich mich nicht weiter damit beschäftigt.
Ich beschloss, Tante Morvenna bei passender Gelegenheit danach zu fragen.
Irgendwie war mir immer klar gewesen, dass ich in Ashwood Hall keine Zukunft haben würde. Ich war nur eine arme Nichte, die man uneigennützig als Mündel aufgenommen hatte, nachdem die Eltern bei einem Zugunglück ums Leben gekommen waren. Schließlich gehörte ich weitläufig zur Familie, und man konnte mich schlecht in ein Waisenhaus stecken. Tante Vita hatte mir immer unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass dieser selbstlose Zustand nur bis zu meiner Volljährigkeit andauern würde. Deshalb hatte ich mir schon früh darüber Gedanken gemacht, was ich dann tun sollte.
Es gab konventionell gesehen nur zwei Wege. Lehrerin oder Gesellschafterin.
Beides lag mir nicht.
Also blieb nur Miss Nightingale, der ich liebend gerne gefolgt wäre.
Aber auch dieser Weg blieb wegen Peter verschlossen.
Zu meinen zwei Möglichkeiten für meine Zukunft musste ich mich wohl mit dem dritten möglichen Weg anfreunden: einer arrangierten Ehe. Und wer weiß, vielleicht war das gar nicht einmal der schlechteste Weg. Es gab so viele Fälle, wo sich die Eheleute gar nicht kannten, heirateten und sich alsbald die Liebe einstellte. Immer wieder war davon zu hören. Warum also sollte nicht auch ich so ein Glück haben?
Allerdings gab es auch genügend gegenteilige Berichte.
Edric würde mich sofort heiraten. Diese Ehe jedoch wäre mein Untergang. Für das Leben in einem Kloster war ich nicht gemacht.
Und was sollte aus Peter werden, wenn ich tatsächlich den Mann heiraten sollte, den Onkel Henry mir aussuchen würde? Tante Vita würde niemals zustimmen, dass ich ihn mitnahm. Dazu war ihr die Meinung der Leute viel zu wichtig.
Wie ich es also auch betrachtete, ich lief nur gegen eine Wand.
Dieser Gedanke war mir nicht fremd, doch ich tat ihn wieder einmal damit ab, dass ich mir sagte, ich müsse es nehmen, wie es kommen würde. Welche Wahl hatte ich denn?
Ohne Peter wäre ich längst in London bei Miss Nightingale oder in Deutschland in einem Ausbildungskrankenhaus. Und ganz sicherlich nicht verheiratet.
In den nächsten Tagen kam Peter ganz aufgeregt zu mir gerannt. „Vicky, Vicky. Im Dorf ist ein Jahrmarkt. Gehst du mit mir hin? Bitte, bitte.“
Erstaunt sah ich ihn an. Davon hatte ich gar nichts gehört.
„Woher weißt du das denn?“
„Gaynor hat es mir in der Küche erzählt. Sie war schon da. Es gibt dort Zuckerwatte und gebrannte Mandeln. Oh Vicky, bitte lass uns hingehen.“ Er hielt meine Beine umklammert und sah flehentlich zu mir hoch.
Diesen Blick kannte ich nur zu gut. Er legte ihn immer dann auf, wenn er etwas wirklich wollte, und er wusste, dass ich ihm dann nicht widerstehen konnte.
„Ein Affe ist auch da“, beteuerte er noch.
Ich lachte auf. „Na gut, aber wir müssen deine Mutter fragen.
Sofort fiel jede Begeisterung von ihm ab. Er kannte die Launenhaftigkeit seiner Mutter und war auf alles gefasst.
Leider konnte ich in diesem Punkt nur mit ihm mitleiden. Schließlich traf es mich genauso wie ihn und alle Bewohner von Ashwood Hall.
Tante Vita traf ihre Entscheidungen ausschließlich aus der Laune heraus, in der sie gerade war. Und meistens hatte sie schlechte Laune.
Also konnte ich nur hoffen, sie in einem milderen Moment anzutreffen. Am besten machte man so etwas nach dem Essen. Wenn es ihr geschmeckt und sie vielleicht schon das eine oder andere Glas Portwein getrunken hatte, konnte man unter Umständen bekommen, was man wollte. Peter wusste, dass er sich dabei völlig passiv verhalten musste. Also machte ich nach dem wirklich ausgezeichneten Dinner einen Anlauf.
„Tante Vita?“
„Was ist denn?“, wollte sie aufgeräumt wissen. Das war ein gutes Zeichen.
„Ich würde gerne mit Peter auf den Jahrmarkt gehen, der gerade im Ort ist.“
Sie sah mich nur fragend an. „Jahrmarkt?“
Das kannte ich. Jetzt nur nichts erwidern. Ich nickte lächelnd.
„Von mir aus. Wann denn?“
„Oh, morgen nach dem Lunch.“
„Zum Tee müsst ihr aber zurück sein.“
„Selbstverständlich“, murmelte ich.“
„Ach, und Victoria, sorg bitte dafür, dass Peter sich nicht wieder zu viel Süßes einverleibt. Letztes Mal hast du ja wirklich nicht achtgegeben.“
„Natürlich, das tue ich, Tante Vita.“
Damit verlor sie das Interesse an diesem Gespräch.
Peter hatte zugehört und konnte seine Freude kaum verbergen. Aber da er seine Mutter genau kannte, machte er keinesfalls den Fehler, mir um den Hals zu fallen oder ähnliches, denn es bestand immer die Gefahr, dass sie es sich plötzlich wieder anders überlegte. Vor allen Dingen, wenn es mit mir zu tun hatte.
Ich betrachtete den Besuch auf dem Jahrmarkt am nächsten Tag als eine willkommene Abwechslung vom ewig gleichen Ablauf der Tage auf Ashwood Hall.
Was gab es denn schon an Unterhaltung hier?
Wenn der Scherenschleifer oder die Weißnäherin kamen, brachte das schon ein wenig Abwechslung in den Alltag.
Es war schönes Wetter, und ich hatte Miss Evans gebeten, Peter schon zum Lunch fertig zu machen, sodass wir gleich losgehen konnten. Wir hatten besprochen, nicht so viel zu essen, um auf dem Jahrmarkt ein paar Sachen zu probieren.
Zum Glück war Tante Vita zum Lunch nicht anwesend. Sie hatte Kopfschmerzen und ließ sich das Essen auf ihr Zimmer bringen. So konnten wir ganz in Ruhe essen. Fast wäre ich noch ein wenig länger sitzen geblieben, um den Frieden zu genießen, aber Peter drängte zum Aufbruch.
„Los, Vicky. Wir müssen doch zum Tee wieder hier sein. Ich will unbedingt den Affen streicheln. Glaubst du, es ist auch ein Elefant da?“
Ich strich ihm übers Haar. „Das glaube ich nicht. Dazu ist der zu groß.“
„Aber beim Zirkus letztes Jahr war doch auch einer.“
„Na ja, Liebling. Ein Zirkus ist eingerichtet auf so große Tiere.“
„Ein Jahrmarkt nicht?“
„Dieser bestimmt nicht. Lass dich mal überraschen.“
Also zogen wir los. Tante Vita hatte darauf bestanden, dass uns Gaynor aus der Küche begleitete. Warum auch immer. Vielleicht wollte sie sie anschließend aushorchen. Aber Peter und ich mochten Gaynor, und deshalb freuten wir uns, dass sie mitkam.
Der Weg in den Ort war nicht weit, und man konnte schon bald erkennen, dass auf dem Dorfanger ein munteres Treiben herrschte.
Ein Duft von gebratenen Köstlichkeiten empfing uns. Mehrere Wagen waren zu einer Wagenburg aufgestellt.
Kaum betraten wir den Kreis, da hüpften schon bunt gekleidete Clowns um uns herum. Manche schlugen Purzelbäume und stellten sich auf ihre Hände.
An einem Wagen rief jemand: „Die Dame ohne Unterleib. Hier könnt ihr sie betrachten, Leute. Kommt und lasst euch überraschen. Die Dame ohne Unterleib.“
Daran gingen wir natürlich vorbei. Zum Glück zeigte Peter keinerlei Interesse.
Es gab mehr Stände mit Essen und Süßigkeiten, als ich dachte. Vor dem Zuckerwattestand bekam Peter leuchtende Augen, und er bekam einen Stab in seine Hand. Selig versuchte er, die Zuckerwatte in den Mund zu bekommen.
Gaynor lehnte ab. Sie wollte später lieber eine der köstlich duftenden Bratwürste essen.
An einem weiteren Stand konnte man Bälle auf Dosen werfen. Dafür war Peter noch zu klein. Als wir weitergingen, kamen wir zu einigen Ponys, auf denen die Kinder reiten konnten.
„Oh bitte, Vicky, darf ich?“
Liebevoll streichelte ich ihn. „Aber ja, Darling. Gib mir die Zuckerwatte. Ich halte sie für dich.“
Eifrig nickte er und gab sie mir. „Aber nicht aufessen.“
Ich musste lachen. „Keine Angst. Das ist mir viel zu süß.“
Und schon hatte ihn jemand auf eines der Ponys gesetzt! Das Pony setzte sich von allein in Bewegung, um eine Runde im Kreis zu gehen. Sehr gemächlich tat es das, sodass ich überhaupt keine Angst haben musste, dass Peter vielleicht herunterfallen könnte.
Er machte ein so stolzes Gesicht, dass mir fast das Herz im Leib zersprang.
Natürlich gab es auch Stände, an denen Gebrauchsgegenstände verkauft wurden, die es sonst nicht ohne Weiteres zu kaufen gab. Das hätte mich mehr interessiert, aber ich wusste, dass es Peter die Laune verderben würde, wenn ich mich damit länger aufhielte.
Als ich mich umsah, konnte ich einen Wagen erkennen, der etwas zurückgesetzt stand. Davor saßen grell geschminkte und provozierend angezogene Frauen, der Wagen der Hübschlerinnen. Auch sie waren auf jedem Jahrmarkt zu Gast. Und ich sah aus dem Augenwinkel, dass Männer sich auf sie zu bewegten. Ältere und junge.
Von diesen Dingen hatte ich noch keine Ahnung, was ich aber wusste, war, dass dies das älteste Gewerbe der Welt war und es deshalb seine Berechtigung hatte.
Das hatte mir Tante Morvenna einmal erzählt, als ich sie anlässlich eines früheren Jahrmarktes darauf angesprochen hatte.
„Aber sag es besser nicht deiner Tante“, hatte sie gegrinst. „Vita ist da etwas altjüngferlich.“
Ich warf einen Blick auf Peter, er hatte den Wagen nicht bemerkt, worüber ich erleichtert war. Was hätte ich ihm denn sagen sollen, was diese auffälligen Frauen dort taten?
Und als ich so mit Peter an der Hand und Gaynor an meiner anderen Seite weiterlief, immer noch umgeben von Rad schlagenden Clowns und Jungen, die auf hohen Stelzen liefen, stieß Peter plötzlich einen Schrei aus und zog an meiner Hand. „Oh Vicky, sieh doch. Gehen wir hin?“
Ich sah in die Richtung, in die er zeigte.
Dort saß auf einem Podest der Affe, den er unbedingt sehen wollte. Es gab noch andere Tiere dort, die von den Kindern, die schon reichlich versammelt waren, gestreichelt werden konnten. Gegen ein paar Pennys konnte man auch Futter kaufen und sie damit füttern.
Peter war völlig euphorisch und kaum noch zu halten. Da kam mir eine Idee, und ich beugte mich zu ihm hinunter.
„Schätzchen, was hältst du davon, wenn du mit Gaynor vorausgehst und ich später zu euch komme? Dann kann ich mir die Hüte dort vorne einmal in Ruhe betrachten.“
Mit großen Augen sah er mich an. Aber dann überwog die Vorfreude.
„Ja, ist gut. Komm schon, Gaynor.“
Dann wandte ich mich an Gaynor. „Bitte lass ihn nicht aus den Augen und nimm ihn an die Hand, wo immer es geht. Versprichst du das?“ Dabei drückte ich ihr genügend Geld in die Hand.
Sie knickste kurz. „Selbstverständlich.“ Sie nahm seine Hand, und Peter zog sie mit sich fort.
„Gaynor, beißen eigentlich Affen?“
Ich war erleichtert, dass ich nun ein wenig Zeit für mich hatte. Meine Tierliebe ging nicht so weit, dass ich diesen Affen stundenlang streicheln musste.
Also besah ich mir die Hüte, bemerkte aber schnell, dass sie nichts für mich waren.
Ich schlenderte herum und kaufte mir eine Tasse Tee und einen süßen Pfannkuchen, dem ich einfach nicht widerstehen konnte. Er schmeckte so köstlich.
Von Weitem beobachtete ich Gaynor mit Peter bei dem Wagen mit den Tieren. Noch während ich dort stand und den gerollten Pfannkuchen verspeiste, sah ich einen Wagen am Ende der Reihe.
Zunächst konnte ich nicht ausmachen, was es dort zu erkunden gab.
Aber kurz darauf sah ich, dass die Tür aufging und eine Frau mit einem verstörten Gesichtsausdruck herauskam. Gleich hinter ihr verließ eine etwas ältere Frau den Wagen und setzte sich davor auf einen Stuhl.
Sie war unzweifelhaft eine Zigeunerin. Sie hatte ihre langen schwarzen Haare zu einem Zopf gebunden, war deutlich geschminkt und mit einem langen rot-schwarzen Kaftan bekleidet. Dazu trug sie auffallenden Schmuck. Eine Wahrsagerin, wie sie auf jedem Jahrmarkt anzutreffen war.
Viele waren nur auf ein gutes Geschäft aus, aber andere besaßen wirklich das Dritte Auge, mit dem sie das Schicksal von Menschen voraussagen konnten.
Normalerweise kam ich nicht auf die Idee, mir die Zukunft aus der Hand lesen zu lassen, aber plötzlich überlegte ich, ob ich ihr nicht einen Besuch abstatten sollte. Was hatte ich schon zu verlieren? Und wer weiß, vielleicht würde sie mich ja auf eine Idee bringen, was aus mir werden sollte.
Versonnen aß ich die letzten Reste von meinem Pfannkuchen und sah zu ihr herüber. Sie saß völlig gleichmütig in ihrem Sessel und beobachtete das Treiben um sie herum.
Mein Entschluss war gefasst. Tante Morvenna hatte mir nach dem Lunch noch ein wenig Geld zugesteckt, das ich dankbar angenommen hatte. Tante Vitas Beitrag war da wesentlich schmaler gewesen, und das reichte gerade für Zuckerwatte und ein paar Kleinigkeiten. Gaynor wäre davon selbstverständlich völlig leer ausgegangen. So weit ging die Liebe bei Tante Vita ganz bestimmt nicht.
Ich gab die Teetasse zurück und ging langsam auf den Wagen der Zigeunerin zu. Kurz schaute ich noch einmal zu Peter, der ganz aufgeregt den Affen streichelte, was der sich aus langer Gewohnheit gutmütig gefallen ließ.
„Sieh da, eine neugierige junge Dame. Will wohl wissen, wer der Ehemann sein wird und ob sie Liebe zu erwarten hat, was?“
Das interessierte mich im Moment eigentlich weniger. Ich lachte sie an und begrüßte sie. Sie nannte mir ihren Preis, und ich kramte die Münzen hervor. Dabei musterte sie mich abschätzig von oben bis unten.
„Na, du kommst wohl aus dem Schloss, schönes Kind? Nun, auch dort gibt es Schicksale. Gute und weniger gute. Dann komm mal mit.“ Sie ging voraus in den Wagen und wies mir einen Platz an einem kleinen Tisch mit zwei Stühlen zu. Dann zog sie die Tür zu und setzte sich mir gegenüber.
Es roch eigenartig, als hätte sie fremdländische Kräuter verbrannt. Ich fand den Geruch gar nicht mal so schlecht. Noch nie hatte ich das irgendwo gerochen.
Den Wagen hatte sie mit Tüchern ausgekleidet. Dazwischen hingen Lampions mit seltsamen Figuren. Durch das kleine Fenster fiel nur noch schummeriges Licht hinein.
„Na, dann wollen wir doch mal sehen“, sagte sie.
Da berührte mich etwas an meinem Bein, und ich fuhr zusammen. Im gleichen Moment sprang ihr eine schwarze Katze auf den Schoß und rollte sich zusammen.
„Ach, das ist nur Althea. Vor ihr musst du keine Angst haben. Althea weiß alles.“ Jetzt nahm die Frau vorsichtig meine rechte Hand und drehte sie mit der Handfläche nach oben herum. Ihre Berührung war weich und anschmiegsam. Besonnen erkundete sie die Linien und fuhr mit dem Zeigefinger darüber.
„Nun, mein Kind, dir ist ein langes Leben beschieden. Wirklich krank wirst du auch nicht werden.“
Sie ließ meine Hand los und nahm die andere. Auch diese drehte sie zu sich herum und fuhr mit dem Finger die Linien entlang.
„Kindchen, du musst etwas Besonderes sein. Ich sehe ein Netz über dir. Aber ich kann es nicht genau erkennen. Ist es gut oder schlecht? Wer weiß das schon. Sieh dich vor.“ Sie brummelte weiter vor sich hin, doch plötzlich fuhr sie hoch.
„So kommen wir nicht weiter. Bei euch jungen Dingern steht in der Hand einfach noch nicht genug. Wir müssen die Karten legen.“
Sie gab mir einen Stapel sehr abgegriffene Karten in die Hand und wies mich an, sie siebenmal zu mischen. Dann musste ich drei Häuflein hin zu meinem Herzen legen. Sie nahm die Karten auf und begann damit, sie zu legen.
Es waren Tarotkarten. So was hatte ich schon ab und zu bei Tante Morvenna gesehen. Manchmal versuchte sie sich als Kartenlegerin, aber es wurde nichts daraus. Sie wusste einfach nicht genug darüber, aber es gab immer was zu lachen bei diesen Spielereien.
„Deine Eltern leben nicht mehr. Du wächst bei einem Mann und einer Frau auf, die es nicht gut mit dir meinen.“
Erschrocken sah ich sie an. Woher konnte sie das wissen?
„Aber es gibt eine gute alte Frau. Sie beschützt dich.“ Ihre Finger deuteten auf eine Karte mit einer Frau. Sie nahm weitere Karten und legte sie zu den anderen. „Gefahr“ murmelte sie. „Die Spinne legt ein Netz auf dich, und das bedeutet Gefahr ... ein vermeintlicher Bräutigam, der aber ein Betrüger ist.“ Sie wies auf eine weitere Karte. „Nichts ist so, wie es zu sein scheint. Viele wollen dir nichts Gutes, kleine Prinzessin.“
Ich konnte sie nur sprachlos anstarren, während sie weitere Karten zog und hinlegte.
„Eine Schwester und ein Bruder. Beide gutartig. Obwohl“, sie deutete auf die Frau, die wohl Claire sein sollte, „sehr einfältig und dumm. Er hingegen“, sie tippte auf die Karte, die wohl Peter sein sollte, „wird dich dein Leben lang begleiten. Aber da gibt es noch einen Bruder. Einen, der Böses im Schilde führt. Sei vorsichtig.“
Nachdem sie weitere Karten aufgedeckt hatte, wurde sie unruhig. „Von ihm aber geht die Gefahr nicht aus. Da kommt noch jemand. Ich kann nicht erkennen, wer das ist, aber du schwebst in Gefahr, Schätzchen. Sei vorsichtig. Und denk an die alte Ruthelma. Gerne würde ich dir mehr sagen, aber die Schicksalsgöttin offenbart nichts weiter. Mehr kann ich nicht tun.“ Damit schob sie die Karten zusammen und ordnete sie wieder zu einem Stapel. Sie legte sie beiseite und nahm noch einmal meine Hände.
„Tse tse tse. So jung und schon so interessant für das Schicksal. Mögen dich alle Göttinnen beschützen, mein Kind. Leicht wird es nicht werden. Wenn die alte Ruthelma wieder einmal hier ist, komm zu mir. Vielleicht kann ich dann mehr offenbaren.“ Damit stand sie auf und öffnete die Tür.
Sonnenlicht schlug mir entgegen, und ich war völlig verwirrt. Alles drehte sich in meinem Kopf. Mit all dem konnte ich zunächst nichts anfangen.
War es ein Fehler gewesen, zu ihr in den Wagen zu gehen?
Jeder einzelne ihrer Sätze spukte mir im Kopf herum. Aber sie ergaben keinen Sinn für mich. Wollte sie mir irgendetwas sagen damit?
Ich musste einer Rad schlagenden Fee ausweichen, und das brachte mich in die Gegenwart zurück. Ich wollte Peter und Gaynor suchen. Über Ruthelmas seltsame Äußerungen konnte ich später noch in Ruhe nachdenken. Also machte ich mich auf den Weg zurück in die Wagenburg und schaute mich um. Ich ging an jedem Wagen vorbei und sah mir die Besucher an.
Von Peter und Gaynor war nichts zu sehen. Auch bei den Tieren, bei denen ich sie zuletzt gesehen hatte, waren sie nicht mehr.
Langsam stieg Panik in mir hoch.
Was konnte denn nur passiert sein? Sie konnten sich doch nicht so einfach in Luft aufgelöst haben.
Am Ende war ich länger bei Ruthelma im Wagen gewesen, als ich dachte. Irgendwie hatte ich sowieso das Gefühl gehabt, dass Zeit im Wagen keine Rolle mehr spielte. Auf irgendeine Art und Weise hatte ich eine andere Dimension betreten.
Nur jetzt war alles wieder normal, und ich musste die beiden finden. Ich wollte gar nicht daran denken, welche Szenen mir Tante Vita machen würde, wenn sie jetzt verschwunden blieben. Ganz bestimmt würde sie mich sofort vor die Tür setzen, weil ich zu überhaupt gar nichts taugte.
Also lief ich in immer größerer Panik jeden Stand an, fragte auch nach den beiden, aber keiner konnte mir etwas sagen, so viele Kinder wie hier herumliefen. Dann kam ich wieder einmal an der Stelle vorbei, wo etwas versetzt der Wagen der Hübschlerinnen stand. Vielleicht sollte ich sie mal fragen. Eventuell hatten sie ja etwas mitbekommen. Ich hatte nichts zu verlieren.
Doch als ich auf den Wagen zulief, traute ich meinen Augen nicht. Erst wollte ich es gar nicht wahrhaben, so absurd erschien es mir. Gleichzeitig aber war ich auch so erleichtert, als hätte man mir einen schweren Fels von den Schultern genommen.
Peter saß bei einer älteren Hübschlerin auf dem Schoß und schäkerte mit ihr herum. Ihr Ausschnitt war beängstigend tief, und Peter nestelte immer wieder daran herum, was sie zu Lachsalven hinriss. Auch ihre hell gefärbten Locken wollte er anfassen. Aber sie entwand sie ihm. Gaynor stand verschüchtert daneben.
„Peter“, rief ich. „Hier steckt ihr also.“
Gaynor sah mir schuldbewusst entgegen.
„Vicky, die Tante ist noch kitzliger als du. Schau mal.“ Er kitzelte sie mit beiden Händen in den Hüften, und sie fing lauthals an zu lachen.
„Oh, hör auf, kleiner Spatz. Das halte ich nicht aus. Oder soll ich dich auch mal ein wenig kitzeln?“ Prompt tat sie es, und Peter kreischte vergnügt.
„Aufhören.“
Ich blieb stehen und betrachtete diese Szene. Was sollte ich denn davon halten? Peter war doch wirklich immer wieder für eine Überraschung gut.
„Er wollte unbedingt zu ihr hin“, flüsterte Gaynor. „Sie waren ja nirgendwo zu sehen, und ich konnte ihn nicht aufhalten.“
Inzwischen wollte Peter der Tante unbedingt einen Kuss geben. Das ging mir dann doch zu weit. Also ging ich rasch zu den beiden hin und nahm ihn auf.
„Entschuldigen Sie bitte. Hoffentlich war er nicht zu aufdringlich.“
„Ach, woher denn. So ein süßes Kind. Ist er Ihrer?“
„Nein, nein. Ich bin seine Cousine.“
Sie richtete ihr Kleid wieder und zupfte an ihrem Ausschnitt. „Na, auf den müssen Sie aber später gut aufpassen. Mit dem Charme kriegt der jede rum. Das wird noch was werden.“ Sie lachte gutmütig und winkte Peter zum Abschied.
Er winkte lachend zurück. „Wollen wir die Tante morgen noch einmal besuchen? Ich habe sie so gerne.“
Ich strich ihm übers Haar. „Darling. Morgen ist sie nicht mehr hier. Morgen früh reisen sie weiter. Dann ist im Nachbarort Jahrmarkt.“
Ich stellte ihn wieder auf den Boden und nahm seine Hand.
„Och, schade.“ Er steckte den Daumen seiner freien Hand in den Mund und trottete neben mir her, ein untrügliches Zeichen dafür, dass er müde war und ihn die ganzen neuen Eindrücke mitgenommen hatten.
Gaynor lief schuldbewusst an meiner anderen Seite.
„Gaynor?“
„Ja, Miss?“
„Was hältst du davon, wenn wir meiner Tante nichts von diesem letzten Besuch erzählen? Peter hört sie sowieso nicht zu, und uns beide würde sie nur ausschelten.“
Gaynor nickte heftig. „Ja, Miss. Das ist das Beste. Sie können sich auf mich verlassen.“
„Danke, Gaynor.“ Sie strahlte mich erleichtert an.
Zu Hause steckte ich Peter dann gleich ins Bett. Miss Evans hatte damit schon gerechnet und war gleich wieder zu Claire gegangen.
Hunger hatte Peter sowieso nicht mehr bei all den Sachen, die er verdrückt hatte. Auf dem Heimweg hatte er mir gestanden, dass er mit Gaynor noch eine Bratwurst gegessen und einen Kinderpunsch getrunken hatte.
Als ich ganz in Gedanken in mein Zimmer ging, wurde ich plötzlich von hinten gepackt.
„Vicky. Du warst auf dem Jahrmarkt“, sagte eine mir vertraute Stimme in einem verärgerten Ton.
„Lass mich los, Edric. Was willst du denn von mir?“ Ich versuchte, mich von ihm loszumachen, was mir aber nicht gelang.
„Mit wem hast du gesprochen?“
„Was soll das denn? Du weißt doch, dass du dich nicht aufregen darfst.“
Er packte mich noch ein wenig fester. „Ist mir egal. Ich liebe dich so sehr, Vicky. Ich halte es kaum aus. Wenn du mit einem anderen etwas anfängst, bringe ich ihn um. Denk immer daran. Du gehörst mir.“
„Edric, du tust mir weh“, fauchte ich ihn an.
Da sah er mich voller Begehren an und ließ mich los.
Ich ging in mein Zimmer. Doch die Tür schloss ich sorgfältig ab. Ich hatte gerade noch Zeit, mich zum Dinner umzuziehen, da hörte ich auch schon den Gong. Beherzt machte ich mich auf den Weg, bereit, das Donnerwetter über mich ergehen zu lassen, denn wir hätten ja eigentlich schon zum Tee zurück sein sollen.
Aber ich hatte Glück. Tante Vita hatte noch immer Kopfschmerzen und aß auf ihrem Zimmer, und von den anderen interessierte sich niemand dafür, was wir auf dem Jahrmarkt erlebt hatten.