Читать книгу Die Braut von Ashwood Hall - Sylvia Weill - Страница 8
4. Kapitel
ОглавлениеIch war mit Peter nach Bessingford gefahren, um für Tante Morvenna und mich einen Termin bei der Schneiderin zu vereinbaren und ein paar Besorgungen zu machen.
Lieber wäre ich allein gewesen, aber er drängelte jedes Mal so darauf mitzukommen, dass ich einfach nicht Nein sagen konnte.
So dauerte jedoch alles länger als geplant.
Denn Peter war ein sehr neugieriges Kind. Wenn ich nicht bei ihm war, dann war er sehr schüchtern und bekam kaum ein Wort heraus. War ich allerdings neben ihm, sodass er meine Hand halten konnte, dann plapperte er die ganze Zeit über und stellte mir eine Frage nach der anderen, auch wenn ich sie längst nicht alle beantworten konnte. Er ging unverbrüchlich davon aus, dass ich alles, einfach alles wusste. Und wenn ich ihm dann sagen musste, dass ich seine Frage nicht beantworten konnte, war er irritiert, hatte es im nächsten Moment aber schon wieder vergessen und stellte die nächste Frage.
Wir hatten uns in einer Teestube Tee bestellt, und Peter löcherte mich mit Fragen über den nächsten Jahrmarkt. Dort wollte er dann unbedingt die netten Tanten wieder besuchen, die er so lieb gewonnen hatte.
Innerlich verdrehte ich die Augen und versuchte, mir das Gesicht von Tante Vita vorzustellen, wenn sie erfahren würde, dass Peter sich für ältere Hübschlerinnen interessierte. Natürlich würde sie mich dafür verantwortlich machen, wie sie es ja mit nahezu allem tat, was in ihren Augen nicht richtig lief.
„Ich weiß es doch nicht, Schätzchen. Sie kommen, wie sie Lust haben. Vielleicht morgen, vielleicht auch erst im nächsten Jahr. Sie ziehen übers Land.“
„Oh, ja. Sie sollen morgen wiederkommen. Dann kann ich sie besuchen.“
Ich sah aus dem Augenwinkel, dass sich am Nachbartisch ein gut aussehender Mann hingesetzt hatte. Er schien etwas älter als ich zu sein. Ein wenig wunderte ich mich, denn es waren noch andere Tische frei. An seinem Grinsen sah ich, dass er Peter zugehört hatte.
„Liebling, ich glaube nicht, dass sie schon morgen wieder da sein werden. Lass ihnen ein wenig Zeit. Sie reisen gerne herum.“
„Aber sie haben mich doch auch lieb“, begann er zu schmollen.
Ich streichelte ihm übers Gesicht. „Aber natürlich haben sie das.“
„Können wir dann ein wenig mit ihnen herumreisen? Wird Mama das erlauben?“
Da musste ich dann doch sehr lachen und streichelte ihm wieder über sein Gesichtchen. „Das glaube ich nicht. Aber wenn du groß bist, dann kannst du mit ihnen losziehen.“
„Wirklich? Dann will ich ganz schnell groß werden.“
Da wandte sich der Mann am Nachbartisch an Peter. „Mit wem willst du denn losziehen, mein Kleiner?“
Peter sah ihn mit großen Augen an. „Na, mit den Tanten vom Jahrmarkt.“
Mir wurde etwas mulmig bei der Richtung, die dieses Gespräch nahm. Was sollte ich denn diesem Fremden erklären, wenn er herausfand, von was für Frauen Peter sprach. Aber er nahm mir meine Befürchtungen gleich.
„Ach so, ich verstehe. Und sie haben dich lieb?“
Peter nickte heftig mit seinem Kopf. „Ganz dolle. Sie haben mir Schokolade gegeben.“
„Oh, wie beneidenswert.“ Da wandte sich der Mann an mich. „Entschuldigen Sie, dass ich mich so aufdränge, aber ich musste ihr Gespräch mit anhören. Ihr kleiner Bruder ist einfach entzückend.“
Ich sah ihn einen Moment irritiert an und lachte dann los. „Oh, Peter ist mein Cousin.“
„Ah, verstehe!“, sagte er.
„Eigentlich ist Vicky ja meine Mom. Aber das darf ich nicht sagen, weil ich eine richtige Mom habe. Aber Vicky mag ich viel lieber“, warf Peter ein.
„Noch lieber als die Tanten auf dem Jahrmarkt?“
Ganz ernsthaft nickte Peter und sah mich an. Ich musste ihm einfach einen Kuss auf den Scheitel geben vor lauter Liebe.
Da richtete sich der nette Herr auf und wandte sich wieder an mich. „Oh Verzeihung, wie unhöflich. Darf ich mich vorstellen: Ich bin Colin Everton.“ Dabei war er aufgestanden und reichte mir seine Hand.
Ich nahm sie und stellte fest, wie warm sein Händedruck war. „Ich bin Victoria Woolverton.“
„Sehr angenehm.“
Mir gefielen seine Manieren. Auch, dass er sich dann wieder an Peter wandte. Auch ihm streckte er seine Hand entgegen.
„Colin Everton, mein Herr. Mit wem habe ich das Vergnügen?“
Mit großen Augen starrte Peter ihn an, was Mr Everton mit einem Lächeln quittierte.
Da fiel Peter seine gute Erziehung wieder ein. Er gab Mr Everton sein kleines Händchen und antwortete altklug: „Ich bin Peter Woolverton, und wenn mein Vater tot ist, bin ich Lord Peter Woolverton.“
Mr Everton schüttelte ihm die Hand wie einem Erwachsenen. Das schien auch Peter sehr gut zu gefallen.
Als Mr Everton sich wieder gesetzt hatte und an seiner Teetasse nippte, entstand eine Gesprächspause, die unangenehm zu werden drohte, denn Peter starrte ihn die ganze Zeit über nur an. Er war auch wirklich ein attraktiver Mann mit einer offenen Art. Seine dunklen Augen blitzten vor Lebenslust, und sein schönes Gesicht wurde umrahmt von braunen Locken, die ihm immer wieder in die Stirn fielen.
Also begann ich, Konversation zu machen.
„Was führt sie hierher, Mr Everton? Ich habe Sie hier noch nie gesehen. Der Ort ist klein, und für gewöhnlich trifft man immer nur dieselben Leute.“
Er lachte. „Oh, ich bin tatsächlich das erste Mal hier. Ich bin Anwalt und muss für einen Klienten etwas erledigen.“
Da wurde Peter wieder lebendig. „Onkel?“
„Ja, kleiner Mann?“
„Hast du eine Frau?“
Mr Everton lachte schallend, sodass andere Besucher sich schon nach uns umsahen.
„Peter! Das fragt man nicht, wenn man jemanden erst kennengelernt hat“, insistierte ich leicht tadelnd und warf Mr Everton gleichzeitig einen entschuldigenden Blick zu.
„Oh nein, habe ich nicht.“
„Wieso nicht?“
So kannte ich Peter gar nicht. Normalerweise war er mit fremden Personen sehr schüchtern und versteckte sich hinter mir. Dieser Mr Everton hatte eine ganz andere Wirkung auf ihn.
„Ich habe die Richtige noch nicht gefunden.“
„Aber ich schon.“
„Und wer ist die Glückliche?“
„Na, Vicky natürlich. Wenn ich groß bin, heirate ich sie. Und wenn das nicht geht, weil mein großer Bruder sie unbedingt heiraten will, dann heirate ich eine Tante von dem Jahrmarkt.“
Mr Everton nickte verstehend. „Na, du Glücklicher.“
„Aber sie muss wohl Edric nehmen.“
Mich befiel langsam das blanke Entsetzen. Wir kannten Mr Everton doch gar nicht, und Peter breitete vor ihm in schönster Unbekümmertheit unsere familiären Geheimnisse aus.
„Und warum das?“
„Weil Vicky arm ist und Edric der Erbe. Er wird noch vor mir Lord Woolverton.“ Traurig sah er Mr Everton an.
„Das ist aber schade.“
„Ja. Das finde ich auch. Aber Edric ist krank, nicht wahr, Vicky? Er wird nicht lange leben, und dann kann ich dich heiraten.“
Jetzt wurde es mir zu mulmig. So hatte ich den kleinen Kerl ja noch nie erlebt. Was hatte dieser Mr Everton an sich, was Peter so das Herz öffnete, als würde er ihn schon ewig kennen?
„So, jetzt müssen wir aber gehen. Wir haben deiner Mom versprochen, rechtzeitig zum Dinner wieder in Ashwood Hall zu sein.“ Damit stand ich auf und suchte unsere Sachen zusammen.
„Och, können wir nicht noch ein wenig bei dem Herrn bleiben?“
„Nein, Schätzchen, leider nicht. Er hat sicher auch noch zu tun.“
Mr Everton war aufgestanden und verabschiedete sich ganz freundschaftlich von Peter. Mir gab er die Hand und sah mir in die Augen. „Vielleicht sehen wir uns ja einmal wieder. Ich habe noch länger hier zu tun.“
Ich nickte, verabschiedete mich freundlich und nahm Peter an die Hand. Er zog ein Gesicht, als hätte man ihm sein liebstes Spielzeug weggenommen. Bis wir das Teehaus verlassen hatten, sah er sich nach Mr Everton um, der ihm nachwinkte.
Den Termin bei der Schneiderin hatte ich schnell gemacht. Sie freute sich darauf, Tante Morvenna endlich einmal wiederzusehen, die wohl ewig nicht mehr bei ihr gewesen war. Das konnte man an ihrer Garderobe unschwer erkennen.
Peter erzählte die ganze Zeit nur von Mr Everton.
„Vicky, fandest du ihn nett?”
„Ja, Schatz. Ich fand ihn sympathisch.“
Und während Peter weitersprach, überlegte ich, wie ich ihn wirklich gefunden hatte. So ganz war ich mir da nicht im Klaren. Es war so überraschend gekommen. Aber seine offene, unkomplizierte Art und vor allen Dingen, wie unbeschwert er mit Peter umgegangen war, hatten mir schon gefallen. Sein attraktives Äußeres natürlich auch.
Aber ich vergaß Mr Everton schnell wieder, denn zu Hause wartete ein unangenehmes Gespräch auf mich.
Elinor ließ mir ausrichten, dass Tante Vita gleich mit mir sprechen wolle. Also übergab ich Peter an sie und ging zu den Räumen meiner Tante.
Da fiel mir ein, dass ich Tante Morvenna versprochen hatte, ihr Bescheid zu geben, wenn dieses Gespräch stattfinden sollte. Ein wenig war ich hin und her gerissen von meinem Pflichtgefühl und der Liebe zu meiner Tante. Dann entschied ich mich aber, schnell zu ihr zu gehen und sie zu informieren.
Ich fand sie eingeschlafen über einem Buch. „Tante Morvenna!“ Ich rüttelte sie leicht am Arm.
Sie fuhr hoch. „Wer ist gestorben?“
Ich lachte. „Niemand. Ich habe nicht viel Zeit. Tante Vita will gleich mit mir sprechen. Ich wollte dir nur Bescheid geben. Ich bringe meine Jacke in mein Zimmer und geh dann gleich.“
Da wurde sie wach. „Vergiss ja nicht, die Tür einen Spaltbreit offen zu lassen. Das wird ein Spaß!“ Sie rieb sich die Hände.
Ich lief, so schnell ich konnte, denn ich wusste, was mich erwartete. Als ich eintrat, tat ich so, als würde ich die Tür leise schließen, ließ sie aber wie abgesprochen ein wenig offen.
„Victoria. Das wird aber langsam Zeit. Ich bat Elinor, dich sofort zu mir zu schicken. Aber das kennt man ja von dir.“ Sie stand von ihrem zierlichen Schreibtisch auf, der so gar nicht zu ihrer voluminösen Erscheinung passte. „Setz dich“, befahl sie und deutete auf einen Stuhl.
Sie setzte sich mir gegenüber und ordnete ihre Bluse, was nicht notwendig war, aber sie sammelte sich so zum Angriff. Und dann hieß es: En Garde.
„Onkel Henry berichtete mir von eurem Gespräch“, begann sie kalt. „Du scheinst dich wieder einmal ungezogen aufgeführt zu haben.“
Ich sah sie erstaunt an. Aber ich wusste, dass sie von mir keine Antwort erwartete. Schließlich war das nicht das erste Gespräch dieser Art, das ich mit ihr führte.
„Nun, wir sind dir sehr dankbar für die Arbeit, die du mit Peter hast. Er liebt dich, und wir haben so wenig Arbeit mit ihm. Aber dein Verhalten in diesem Haus lässt zu wünschen übrig.“
Sie nestelte an ihrer Bluse herum. Das bedeutete, dass sie sich erst langsam warmlief. Ich wusste, wie es jetzt weitergehen würde. Und ich wusste auch, dass ich nur ungeschoren davonkam, wenn ich es einfach über mich ergehen lassen würde. Jede Erwiderung brachte sie nur noch mehr gegen mich auf.
Vor mir saß eine dicke Matrone an der Schwelle zum Altwerden. Ihre graue Bluse und der Rock in derselben Farbe wirkten wie eine Kleidergröße zu klein. Sie schminkte sich etwas zu stark, was jedoch ihren Typ betonte. Ihre Haare hatten schon deutliche graue Strähnen. Sie ließ sie sich zu einem Dutt am Hinterkopf legen. Und der Schmuck, den sie trug, war zu aufgedonnert für ihre Gestalt. Trotzdem strahlte sie Würde aus, und sie wurde respektiert. Vor allen Dingen von den Dienstboten. Peter hatte ja sogar Angst vor ihr.
Und ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, welche Angst ich anfangs vor ihr hatte, als ich nach Ashwood Hall kam. Sie gab sich damals keinerlei Mühe, mich herzlich aufzunehmen. Im Gegenteil, sie tat alles, um mir das Leben schwer zu machen. Hätte ich nicht Onkel Henry und Tante Morvenna gehabt, die mir immer wieder liebenswürdig gegenübertraten, ich weiß nicht, was aus mir geworden wäre.
„Wir haben dich damals selbstlos und großherzig als unser Mündel aufgenommen. Das hätten wir nicht tun müssen, gerade weil dein Vater sich der Familie gegenüber nicht sehr freundlich gezeigt hat. Na ja, wie er mir gegenüber war, wollen wir jetzt nicht weiter erörtern.“
Sie begann, ihre Haare zu betasten. Das war ein Zeichen von Nervosität, was mich ein wenig verwunderte. Denn sonst war sie mir gegenüber absolut souverän.
„Es war für uns keine Frage, dich arme Waise hier aufzunehmen, trotz der enormen Kosten, die das verursacht hat. Und wir haben dein aufsässiges Verhalten immer toleriert, was du übrigens von deinem Vater hast. Aber langsam überschreitet das jedes Maß. Dein Onkel ist verpflichtet, hörst du: verpflichtet, dir einen passenden Ehemann zu suchen. Das ist in unseren Kreisen üblich. Und von dir kommen wie üblich nur freche Antworten. Was glaubst du denn, wer du bist?“
Wenn ich jetzt etwas antworten würde, egal was, würde sie anfangen zu schreien. Also hielt ich meinen Mund und ließ es über mich ergehen, etwas anderes war nicht möglich. Ich hoffte nur, dass Tante Morvenna draußen stand und alles mit anhören würde.
„Mit Beginn deiner Volljährigkeit haben wir unsere Pflicht erfüllt. Entweder du heiratest den Mann, den dein Onkel für dich aussucht, oder du musst deinen Lebensunterhalt selbst bestreiten. Das siehst du doch ein, oder nicht?“
„Ja, Tante Vita“, antwortete ich gespielt zerknirscht.
„Selbstlos, wie wir nun einmal sind, haben dein Onkel und ich schon überlegt, falls du dann nichts findest, und davon gehe ich aus, dass wir dich als Peters Kindermädchen einstellen. Du wirst in diesem Fall natürlich in den Dienstbotentrakt ziehen. Du bist dann kein Mitglied der Familie mehr. Also überleg dir das gut. Und wenn du weiterhin so frech bist, kommt auch das nicht infrage. Dann musst du Ashwood Hall verlassen.“
Demütig schlug ich die Augen nieder. Innerlich jedoch jubilierte ich, dass ich dann endlich gehen konnte, Peter hin oder her. Ich stand auf, froh, ihr endlich entrinnen zu können.
„Setz dich wieder“, befahl sie mit eisigem Unterton. „Ich bin noch nicht fertig.“ Sie fuhr fort. Voller Hass sah sie mir in die Augen.
„Du wirst damit aufhören, Edric ständig mit deinen Reizen“, dabei sah sie mich verächtlich von oben bis unten an, „zu provozieren. Ich dulde es nicht in meinem Haus, dass sich ein Familienmitglied“, sie spuckte mir das Wort voller Verachtung vor die Füße, „so schamlos verhält. Du weißt genau, dass er krank ist und deshalb nicht genau weiß, was er tut. Und das nutzt du schamlos aus. Wie deine Mutter, kann ich da nur sagen. Du wirst dich von Edric fernhalten, oder du verlässt Ashwood Hall noch vor deinem Geburtstag. Glaubst du vielleicht, ich merke nicht, was du vorhast?“
Kämpferisch sah sie mir in die Augen.
Ich konnte mir ein Lachen kaum verkneifen, denn ich musste die ganze Zeit über nur an Tante Morvenna denken, die draußen lauschte.
„Dein aufsässiges Grinsen wird dir schon noch vergehen. Ach ja, und noch eins. Was die verrückte Morvenna plant, weiß ich nicht. Aber wenn du schon unbedingt auf diesen Ball mitkommen musst, erwarte ich von dir absolute Diskretion. Du wirst erst mit Peter hingehen und bei ihm bleiben und anschließend ... ähm, anschließend wirst du mit deinem Onkel tanzen und dich dann diskret zurückziehen. Ist das klar?“ Diese Frage kam mit gebieterischer Kälte.
„Ja, Tante Vita“, sagte ich leise und sah nur auf meine Schuhspitzen.
„Dann geh jetzt.“
Folgsam verließ ich den Audienzraum. Draußen konnte ich gerade noch erkennen, dass Tante Morvenna um eine Ecke lief. Also hatte sie alles mitbekommen.
Am liebsten wäre ich gleich zu ihr gelaufen, aber dafür fehlte jetzt die Zeit. Ich musste Peter für das Dinner abholen.
Also ging ich in mein Zimmer, um mich umzukleiden.
Ich merkte, dass der Auftritt bei meiner Tante mich völlig unbeeindruckt gelassen hatte. Früher, als ich noch ein Kind war, hatten mich solche Gespräche erschüttert, und ich fühlte mich tagelang wie ein nichtsnutziger Parasit. Nächtelang weinte ich mir die Augen aus dem Kopf. Heutzutage schaffte sie das nicht mehr. Ich empfand ihre Beschimpfungen nur als Boshaftigkeit. Aber dagegen konnte ich mich letztendlich wehren, wenn ich wollte.
Peter wollte mir unbedingt von seinen Erlebnissen im Stall erzählen. Einer der Stallburschen hatte ihn auf ein gutmütiges Pony gesetzt und war ein wenig mit den beiden auf der Koppel gelaufen. Er war begeistert und musste es mir haarklein erzählen. Sein kleines Gesichtchen bekam richtig rote Flecken davon, und ich hörte ihm gerne zu. Es lenkte mich ab.
Das Dinner war wie immer. Peter war eigentlich der Einzige, der fast die ganze Zeit redete. Alle anderen waren in Gedanken versunken oder hatten einfach keine Lust, sich zu unterhalten.
Bei Claire war das allerdings immer ein Zeichen dafür, dass sie etwas ausbrütete. Ansonsten konnte nichts und niemand ihren Redefluss stoppen. Ihre Mutter hing ihr entzückt an den Lippen und ihr Vater hörte ihr auf eine sehr wohlwollende Art nicht zu. Genau, wie er es in der Regel mit seiner Frau machte. Wobei er aber ganz genau wusste, wann er seine Ohren aufmachen musste. Sonst bekam er genau solche Schwierigkeiten wie wir alle.
Edric brütete genau wie seine Schwester vor sich hin, sah mich nur manchmal anklagend an. Ich beachtete es nicht.
Tante Morvenna war nicht zum Essen erschienen, sie aß also in ihrem Zimmer. Hoffentlich konnte ich später noch für ein paar Minuten zu ihr gehen.
Diese Gelegenheit ergab sich tatsächlich, weil Peter schon während des Dinners sehr müde wurde und sogar schon vor dem Dessert seinen Kopf auf meinen Schoß legte und einschlief. Also bat ich Edric, seinen Bruder mit mir zusammen in sein Zimmer zu tragen. Denn mir war er inzwischen einfach zu schwer.
Edric tat mir den Gefallen, und ich musste wieder einmal feststellen, wie stark er war.
Bestimmt war er auch deshalb für kurze Zeit in die Armee Ihrer Majestät aufgenommen worden, zur größten Freude seiner Eltern. Aber die Behinderung ließ eine weitere Karriere bei den Streitkräften dann doch nicht zu. Für ihn war das eine fulminante Niederlage gewesen und hatte letztendlich seine Beschwerden verschlimmert.
Seither umrundete er jeden Tag mindestens einmal den See im Park von Ashwood Hall, um fit zu bleiben, und er machte regelmäßig Schießübungen. Das wurde nicht gerne gesehen, denn jeder machte sich so seine Gedanken darüber, was passieren würde, wenn er währenddessen einen Anfall bekam. Also hielt sich jeder möglichst weit weg von seinen Schießständen, die er meistens am See aufbaute.
Als Edric Peter auf sein Bett gelegt hatte, wartete er, während ich den Kleinen umgezogen und zugedeckt hatte.
Mir schwante das Schlimmste. Die Gänge waren am Abend nur äußerst spärlich beleuchtet, und niemand hatte noch dort zu tun. Aber meine Angst war unbegründet. Edric wünschte mir eine gute Nacht und verließ mein Zimmer.
Wenn Edric so friedlich war, konnte er eine Liebenswürdigkeit zur Schau stellen, die ansonsten nicht vorhanden war.
Ich ging zu Tante Morvenna, obwohl es langsam spät wurde.
„Kind, ich hatte gehofft, dass du noch vorbeikommst. Setz dich. Willst du einen Gin Tonic?“
„Nein, danke“, winkte ich ab.
„Aber ich brauch einen.“ Sie holte Eiswürfel aus einem Behältnis und machte sich einen Drink. Zufrieden sank sie auf den Sessel mir gegenüber und nippte genießerisch daran. „War sie nicht göttlich?“ Sie sah mich lachend an.
„Na ja. Du musstest es dir ja nicht gefallen lassen.“
„Da hast du recht. Ich hätte es ihr zurückgegeben, mit dem größten Vergnügen.“
„Ja, weil du ihr ebenbürtig bist. Aber ich habe diese Stärke nicht.“
Nach einem weiteren Schluck Gin Tonic bemerkte sie: „Ach, papperlapapp. Vita ist eigentlich gar nicht so übel. Sie meint halt, weil mein Bruder so ein Waschlappen ist, müsste sie das Regiment führen.“
„Ah ja.“
„Das klappt doch gut, oder? Wie ein Feldwebel. Einfach göttlich. Ich freue mich schon auf den nächsten Streit mit ihr. Auch deshalb bin ich schließlich hierher zurückgekommen.“
Entgeistert sah ich sie an.
„Du brauchst gar nicht so zu gucken. Was habe ich denn noch für Freuden, seit mein Mann gestorben ist? Vielleicht Bridge spielen? Oder die Wände anstarren? Irgendwann habe ich mich dann eben nach den Streitereien mit meiner Schwägerin gesehnt. Und den Rest kennst du.“
Ich brach in ein haltloses Lachen aus. „Das ist nicht dein Ernst.“
„Natürlich. Aber sag es ihr bloß nicht. Ich würde alles leugnen.“ Jetzt lachte sie auch.
„Na, du bist Peter und mir ja ein schönes Vorbild.“
„Nicht wahr?“
Nach einer Weile hatten wir uns beide wieder beruhigt.
„Aber warum hasst sie mich nur so?“, wollte ich wissen, nicht zum ersten Mal.
Ausweichend winkte Tante Morvenna ab. „Mich hasst sie auch.“
„Das ist Hassliebe.“
Ihre Augen blitzten auf. „Meinst du? Ach, das wäre schön. Hoffentlich kann ich mich noch lange mit ihr streiten.“
„Du bist unmöglich.“
Wie ich sie so vor mir sitzen sah mit ihrem Gin Tonic in der Hand, hatte ich gar nicht das Gefühl, bei einer älteren englischen Lady zu sitzen, sondern eher bei einem übermütigen großen Mädchen. Ihre Züge waren faltig und ihre Haare grau. Aber die Augen blitzten wie bei einem jungen Mädchen, und ich erkannte, dass sie glücklich hier war.
Über ihr Leben in ihrem Schloss erzählte sie nie viel. Es war für sie ein abgeschlossener Lebensabschnitt. Die Entscheidung, in das Haus ihrer Kindheit zurückzukehren, war die richtige gewesen. Darum beneidete ich sie. Von mir konnte ich nicht behaupten, dass ich glücklich hier war. Nur in Gegenwart von Peter konnte ich so was wie Glück und Heimat empfinden. Aber was würde sein, wenn er erwachsen wurde? Hatte er am Ende Edrics Krankheit in sich, die irgendwann ausbrechen würde? Es gab in der Familie nämlich solche Fälle.
„Warum erzählst du mir eigentlich nie etwas von meinen Eltern?“ Diese Frage hatte ich ihr schon so oft gestellt, und wie immer antwortete sie mir ausweichend.
Nach einem Schluck Gin Tonic kam ein leises: „Ach, Kind. Wie oft muss ich dir noch sagen, dass ich so gut wie nichts weiß? Als ich nach Kent ging, war dein Vater noch fast ein Kind und deine Mutter habe ich nur einmal gesehen, bei der Hochzeit. Und kurz darauf sind sie in die Kolonien nach China gegangen. Von da kamen dann nur noch ein paar Briefe. Vielleicht zeige ich sie dir später einmal.“
Das kannte ich alles schon und gab mich damit zufrieden. Denn Tante Morvenna konnte ausgesprochen stur werden, wenn sie etwas nicht wollte. Kurz darauf verabschiedete ich mich dann und ging in mein Zimmer.
Erst als ich die Kerze gelöscht hatte und nicht sofort einschlafen konnte, fiel mir wieder Mr Everton ein, den ich mit Peter im Tee-Salon von Bessingford kennengelernt hatte. Ich dachte an seine vollendeten Manieren und die offene Art, wie er uns gegenübergetreten war und mit der er Peter gleich für sich eingenommen hatte.
Und mich auch, war mein letzter Gedanke, bevor ich einschlief.