Читать книгу Anna und Jadwiga - T. D. Amrein - Страница 3

1. Kapitel

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Quadratzentimeter für Quadratzentimeter suchte Kommissar Krüger die Gegend ab, die hauptsächlich aus Wald bestand. Eine lang gezogene Ortschaft lag im Zentrum des Suchgebiets. Ab und zu wurde das Meer der seltsam genau geformten Baumkronen durch scharf begrenzte Wiesen und einige wenige Äcker unterbrochen. Der Ort hieß Schramberg, das hatte jemand in Handschrift am unteren Rand des tischgroßen Luftbildes notiert. Der einzige weitere Hinweis, ein mitten im Wald sauber gezogener Kreis, trug den Vermerk: Fundort.

Hier hatte der Hund eines Wanderers einst einen halbverwesten Torso aufgespürt. 1987, vor fünfzehn Jahren. Die Aufnahme stammte jedoch aus dem September 2002. Angefertigt auf ausdrücklichen Wunsch Krügers, der sich damit im wahrsten Sinne des Wortes erst mal einen Überblick verschaffen wollte.

Den Torso hatte man damals der seit einigen Monaten vermissten Anna Duda zuordnen können. Ein polnischstämmiges Kindermädchen, gerade 19 Jahre alt geworden, das in Diensten einer vermögenden Familie in Schramberg stand. Sie stammte aus der Nähe von Krakau, aus der unmittelbaren Umgebung von Oswiecim. Am Fundort konnte damals außer Annas Überresten nur ein einziger interessanter Gegenstand sichergestellt werden. Ein einzelner Latexhandschuh. Aus seinem Innern stammte die DNA-Spur, die kürzlich zu einem weiteren Treffer geführt hatte. In einem als gestohlen gemeldeten Wagen, der in Konstanz beschlagnahmt worden war, wurde an einer Herrenuhr, die unter dem Fahrersitz gelegen hatte, eine identische Gensequenz festgestellt.

Wer die Spuren hinterlassen hatte, blieb bislang völlig im Dunkeln. Die Sicherstellung an sich lag bereits mehrere Monate zurück. Die Auswertung der im Fahrzeug gefundenen Spuren hatte im Rahmen von Routineuntersuchungen erst mit der üblichen Verspätung stattgefunden. Trotzdem entschloss man sich im BKA, aufgrund der neuen Erkenntnisse, einen Sonderermittler einzusetzen. In Person des erfahrenen Hauptkommissars Max Krüger, der bisher in der Dienststelle Freiburg im Breisgau Dienst geleistet hatte. Sein erster Fall in dieser Funktion. Da Schramberg bloß 40 Kilometer entfernt liegt, konnte Krüger direkt aus seinem Büro in Freiburg agieren.

Die wenigen Schriftstücke, die zum Sachverhalt existierten, hatte der Kommissar rasch ein erstes Mal grob durchgearbeitet. Außer der Identität und der Herkunft des Opfers lag das meiste in Dunkeln. Die Ausnahme: Anna hatte eine gleichaltrige Kollegin gehabt, die damals ebenfalls in Schramberg angestellt gewesen war. Zwar in einer anderen Familie, aber die beiden hatten sich gekannt. Man hatte Jadwiga Grabowska natürlich befragt, sogar mehrfach. Ohne zu relevanten Erkenntnissen zur Tat zu gelangen. Bis sie schließlich ein halbes Jahr später spurlos verschwand. Erst nahm man an, dass sie einfach den Ort oder die Familie gewechselt hatte. Aber Jadwiga tauchte nie mehr auf. Weder tot noch lebendig.

***

Krüger erwartete an diesem Tag seine neue Assistentin, die ihm von Wiesbaden für diesen Fall zur Verfügung gestellt wurde. Die Dame hieß Nadja Smolenska, eine Deutsche mit polnischen Wurzeln. Sie solle beide Sprachen absolut perfekt beherrschen, das war die Hauptqualifikation, hatte Krüger schon gehört. Als ehemalige Kommissarin verfüge sie außerdem über Erfahrung bei der deutschen Kripo. Allerdings habe sie in den letzten Jahren nicht mehr bei der Behörde gearbeitet, sodass man ihr wohl eine gewisse Eingewöhnungszeit zugestehen müsse. Klang fast perfekt. Bloß die verklausulierte Beschreibung weckte einen kleinen Argwohn in Krüger. Wenn sie eine normale Wiedereinsteigerin war, dann konnte man das ganz einfach so nennen, fand er. Sonst entstand leicht der Eindruck, dass mit der Kollegin etwas nicht stimmte.

Sprachliche Feinheiten dieser Art waren ihm früher kaum aufgefallen. Erst seit er mit seiner neuen Partnerin, Elisabeth Graßel, zusammenlebte, hatte sich das verändert. Eine Frau mit messerscharfem Verstand und gnadenlosem Durchblick durch windige Fassaden. Sie hatte ihm nicht bloß öfters mit unerwarteten Ideen ausgeholfen. Sondern auch seine Wahrnehmung für ungewöhnliches Verhalten oder versteckte Andeutungen enorm geschärft.

Selbstverständlich wusste sie Bescheid über seinen Tag und würde ihn heute Abend mit Fragen bezüglich "der Neuen" ziemlich hart bedrängen. Deshalb konnte er froh sein, dass er zwischenzeitlich über die Formulierungen eines vermutlich männlichen Kollegen lästern konnte, anstatt selbst eine möglichst neutrale Beschreibung einer attraktiven Dame abzuliefern.

Schon an sich ein ziemlich hoffnungsloses Unterfangen.

Ob Frau Smolenska diese Bezeichnung verdiente, wusste er zwar noch nicht, hoffte es jedoch sehr. Interessante, selbstbewusste Frauen inspirierten ihn. Es ging dabei nicht bloß um markante, weibliche Formen oder gutes Aussehen. Er wünschte sich eine echte Partnerin mit eigener Meinung, keine devote Untergebene. Obwohl es, ebenfalls eine Erfahrung von zu Hause, manchmal ziemlich anstrengend werden konnte. Wenn man sich, anstatt einfach zu befehlen, in echt einigen musste. Trotzdem überwogen die Vorteile. Eine Kollegin mit starker Ausstrahlung hielt beispielsweise die meistens männlichen Kunden Krügers in Unruhe. So dass sich manch einer mangels Konzentration in Widersprüche verwickelte, wenn er versuchte, ihr einen Bären aufzubinden. Andererseits im Umkehrschluss, was geschah bei einem Zeugen, bei dem diese Wirkung keineswegs erwünscht war? Stellte dies nicht das ganze Prinzip in Frage?

Über solche Ansichten hatte er mit Elisabeth noch nie diskutiert. Was die wohl dazu sagen würde? So ein Blödsinn! Es macht dir einfach viel mehr Spaß, mit einer attraktiven Frau zu arbeiten. Aber das würdest du niemals zugeben! Krüger zuckte mit den Schultern. „Wo sie recht hat, hat sie recht“, murmelte er.

***

Die Dame vom Empfang brachte die Besucherin zu Krüger.

„Guten Tag, Herr Hauptkommissar!“, begann sie. „Ich bin Nadja. Nadja Smolenska. Man hat mich Ihnen zugeteilt.“

Krüger ergriff ihre ausgestreckte Hand. „Herzlich willkommen, Frau Smolenska!“ Er versuchte, sie nicht zu taxieren. Jedoch gelang es nicht vollkommen. Ihre leuchtend weißen Zähne und das unglaublich dichte, kupferfarbene Haar fielen einfach auf. Dazu trug sie eine hellblaue Bluse und eine dunkelblaue Hose. Aus den vorne offenen Schuhen leuchteten ihre Fußnägel in exakt demselben Blau wie das Oberteil. Für eine Frau hatte sie einen festen Händedruck, empfand Krüger.

„Nehmen Sie doch bitte Platz, Frau Smolenska!“, forderte er sie auf.

„Danke, Herr Hauptkommissar!“

„Darf ich Ihnen etwas anbieten?“

Sie schien amüsiert. „Ich bin Ihre persönliche Assistentin, Herr Hauptkommissar. Ich bin gekommen, um Sie zu unterstützen, nicht um mich verwöhnen zu lassen“, stellte sie lächelnd fest. „Aber trotzdem: Danke, nein.“

„Ist schwierig für mich“, versuchte Krüger zu erklären. „Ich fühle mich nicht wohl, wenn der Eindruck entsteht, dass ich jemanden als Bediensteten behandle. Also wenn Sie denken, Frau Smolenska, dass ich zu viel von Ihnen verlange, dann wehren Sie sich bitte!“

Sie zuckte mit den Schultern und strahlte ihn an.

„Nun ja, ich werde Sie bestimmt nicht bitten Kaffee zu holen oder mir eine Zeitung zu besorgen“, fuhr er fort. „Aber es kann natürlich vorkommen, dass ich in Gedanken …“

„Weshalb sollte ich denn nicht Kaffee für Sie holen, Herr Hauptkommissar?“, fragte sie erstaunt. „Ich unterstütze Sie in allen Belangen. Gerade wenn wir unterwegs sind, sorge ich für Hotel und Essen. Für ein Büro, für saubere Wäsche und Kosmetikartikel, falls notwendig. Und selbstverständlich fahre ich den Dienstwagen, wenn Sie es möchten.“

Krüger schien ratlos. „Ja dann. Ich denke, wir werden sehen. Einen Wunsch hätte ich dann doch?“

Sie richtete ihre rehbraunen Augen auf ihn wie eine doppelläufige Flinte. „Ja bitte, Herr Hauptkommissar?“

„Könnten Sie mich einfach nur Chef nennen?“

„Aber selbstverständlich, Herr, äh, Chef.“

„Wenn Sie etwas anderes bevorzugen, dann …“

Sie seufzte vernehmlich. „Ist schon okay, Chef.“

„Danke, Frau Smolenska!“

„Bitte! Möchten Sie gleich über den Fall sprechen oder soll ich erst nachsehen, ob Sie wirklich alle Unterlagen erhalten haben? Daran hapert es oft bei der Abteilung, habe ich gehört?“

„Viel ist es wirklich nicht“, bestätigte Krüger. „Mit Ausnahme der Luftbilder, die ich selbst bestellt habe, bleiben nur diese beiden Hefter.“ Er griff nach den dünnen Umschlägen und reichte sie ihr.

„Der Bericht der polnischen Kollegen fehlt“, stellte sie fest.

„Mit denen könnte ich wahrscheinlich ohnehin nicht viel anfangen“, vermutete Krüger.

„Doch“, wehrte sie ab. „Ich habe die ganze letzte Woche damit verbracht, die Texte ins Deutsche zu übersetzen. Ich kümmere mich darum, sobald ich kann!“

„Dann sind Sie schon länger an der Sache?“, stellte Krüger fest.

„Einen Monat etwa. Ich habe jedoch ausschließlich Fakten zusammengetragen und soweit notwendig übersetzt. Alle Informationen stammen aus einem Archiv oder aus öffentlichen Quellen. Ich habe weder irgendwelche Fundorte besucht noch Leute befragt. Alles ganz still und unauffällig, um nirgendwo Argwohn zu wecken.“

„Was stelle ich mir unter öffentlichen Quellen vor?“, hakte Krüger nach.

„In erster Linie Zeitungsarchive und Rundfunksendungen, die damals erschienen sind. Natürlich in Bild und Ton“, ergänzte sie.

„Damals? Dann betrifft dies den alten Fall in Schramberg. Heben Sie sich auch mit Konstanz beschäftigt?“

„Nur am Rande. Das ist schließlich aktuell. Da können wir auf die Berichte der Kollegen vor Ort zurückgreifen.“

***

Elisabeth erwartete Krüger tatsächlich in der Küche mit betörend duftendem Gebäck. Eine Art österreichische Maultaschen, die Krüger sehr gerne mochte. Auf dem Tisch stand ebenfalls eine Flasche Wein mit zwei Gläsern, die jedoch noch verschlossen war. „Wenn du magst, dann öffne sie bitte. Sonst mache ich Kaffee.“

Krüger wusste nie, ob sie solche Situationen mit Absicht plante, oder ob sie einfach Lust dazu hatte, nett zu sein. Auch das kam gelegentlich vor.

„Wein ist gerade richtig“, murmelte er. „Passt herrlich zu deinen wunderbaren Krapfen!“

Sie hantierte herum, bis er die Gläser gefüllt hatte und sie zum Anstoßen rief. Irgendwie schien sie doch ein wenig nervös. „Prost, mein Schatz. Und danke fürs Backen!“

„Ja, Prost“, gab sie zurück. „Und, wie lange willst du mich noch auf die Folter spannen? Oder ist sie gleich wieder gegangen?“

Sie ist nicht nur nervös, sondern auch kampflustig, dachte Krüger mit leisem Spott. Aber er hatte schmerzhaft gelernt, dies nicht zu unterschätzen. Zwar lag der letzte derbe Rippenstoß ziemlich lange zurück, aber eine unvorsichtige Bemerkung konnte genügen. „Nein, sie ist geblieben. Ist eigentlich ganz nett!“, erwähnte er so beiläufig wie möglich.

„Eigentlich ganz nett!“, wiederholte sie. „Du willst mich wohl ärgern. Oder haben sie dir tatsächlich so eine Pflaume geschickt, wie du befürchtet hast?“

Er schüttelte den Kopf. „Nein.“

„Wie, nein? Los komm schon! Wie sieht sie aus? Ist sie jung? Gefällt sie dir?“

Er nickte. „Ja.“

„Also bitte!“

Er grinste. „Ja, selbstverständlich erfährst du alles, was ich weiß. Aber zuerst musst du mir eine Frage beantworten?“

„Okay!“

„Bist du eifersüchtig?“

„Nein. Wirklich nicht. Aber ich bin jetzt über fünfzig. Ich merke selbst, dass ich nicht mehr so attraktiv bin wie früher. Also fürchte ich manchmal, dass du eventuell irgendwann einer Jüngeren den Vorzug geben könntest. Wir sind schließlich nicht mal verheiratet.“

„Aber nein, wo denkst du hin! Komm her!“

Sie kuschelte sich an ihn. „Du brauchst nichts zu versprechen. Ich würde es sogar verstehen.“

„Ich glaube nicht, dass ich einfach so loskommen würde. Selbst wenn ich es wollte. Außerdem ist sie wohl nur für diesen einen Fall meine persönliche Assistentin.“

Sie hob den Kopf. „Ach, wirklich?“

„Ich habe sogar heimlich ihren Ausweis kopiert, extra für dich!“

„Zeig schon her!“

„Die ist genau dein Typ“, stellte sie fest.

„Na ja, was soll ich sagen. Du bist mein Typ. Aber das spielt keine Rolle. Sie ist attraktiv. Sehr sogar. Das kann man nicht bestreiten. Wozu auch?“

„Und wie findest du sie sonst? Hältst du sie für intelligent? So super kann sie ja nicht sein, sonst hätte sie eine bessere Stellung inne. Oder hat sie vielleicht eine Macke?“ Elisabeths Gesicht hellte sich auf. „Natürlich stimmt etwas nicht mit der. Arbeitet als persönliche Assistentin. Wenn sie früher schon einmal Kommissarin war?“

Krüger zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es wirklich nicht, mein Schatz. Aber du hast wahrscheinlich recht. So wie meistens. Trotzdem, ich werde ihre Personalakte nicht lesen.“

„Deshalb mag ich dich.“

„Na ja, ich bin schließlich auch sonst ganz liebenswert.“

„Aber selbstverständlich! Trotzdem meine ich das ernst. Du würdest auch eine zugelaufene Katze liebevoll aufnehmen, das weiß ich. Du hättest nicht einmal das Bedürfnis, Fragen zu stellen. Bei dir kann jeder ganz neu anfangen. Dazu müsste ich mich zwingen.“

„Ein Kompliment von dir. Ich staune.“

„Heute hast du das verdient. Aber denk jetzt nicht, dass du damit für alle Zeit ausgesorgt hast.“

„Würde mir nicht einmal im Traum einfallen.“

Anna und Jadwiga

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