Читать книгу Anna und Jadwiga - T. D. Amrein - Страница 6
4. Kapitel
ОглавлениеKommissar Krüger studierte die Akte während der Bahnfahrt von Freiburg nach Konstanz ein weiteres Mal, um auch im Detail sattelfest zu sein. Gerade jüngere Kollegen vermuteten sonst rasch, dass der ältere Herr vom BKA die Abläufe nicht mehr bis ins letzte Detail erfassen konnte. Im Groben wusste er längst Bescheid: Eine Streife hatte einen als gestohlen gemeldeten Opel Corsa in einem Gewerbegebiet in Konstanz nahe der Schweizergrenze entdeckt. Da damals kein weiterer Zusammenhang bekannt gewesen war, wurde das Fahrzeug unverzüglich sichergestellt. Ohne die eventuelle Chance zu nutzen, dem Dieb eine Falle zu stellen.
Der Opel stand einige Wochen auf einem gesicherten Parkplatz, bis er schließlich "abgearbeitet" wurde. Reine Routine. Lange schon war man dazu übergegangen, bei Bagatelldelikten nur noch DNA-Profile zu erstellen und eventuell vorhandene Fingerabdrücke zu sichern. Anstatt Einbrecher und Kleinkriminelle aktiv zu verfolgen. Diejenigen, die es regelmäßig betrieben, wurden früher oder später ohnehin erwischt. Dann konnte man ihnen gleich die gesamte Liste ihrer Anwesenheit an Tatorten präsentieren. Die Methode erwies sich als gründlich, sicher und vergleichsweise mit wenig Aufwand verbunden.
Der Wagen selbst stellte bloß noch einen minimalen Wert dar. Der letzte angemeldete Besitzer aus Tuttlingen fuhr längst einen neueren Opel und wollte die alte Karre nicht einmal umsonst zurückhaben.
Immerhin entdeckten die Spurensicherer eine ziemlich teure Herrenuhr unter dem Fahrersitz. Dem Vorbesitzer gehörte sie jedoch nicht, wie erst vermutet. Dass der oder die Diebe sie absichtlich zurückgelassen hatten, konnte man mit ziemlicher Sicherheit ausschließen.
Es zeigte sich anhand der reichlich vorhandenen Hautschuppen im Armband, dass die Uhr der einzige Spurenträger im Wagen mit diesem DNA-Profil blieb. Und das Profil führte zu einem Treffer in der Datenbank. Die Uhr und den Gummihandschuh, der neben Annas Leiche gefunden wurde, hatte dieselbe Person mindestens einmal getragen. Das bedeutete nicht zwangsläufig, dass es sich dabei um den Mörder handeln musste. Aber vorsichtig ausgedrückt, Erklärungsbedarf bestand auf jeden Fall.
Trotz der scheinbar guten Ausgangslage: Die Person war leider unbekannt. Deshalb hielt man die biologischen Erkenntnisse vorerst zurück. Ganz offiziell suchte man bloß nach dem Besitzer der Uhr, um ihm sein Eigentum zurückzugeben.
Allerdings herrschte keinerlei Hektik bei der Suche. Und Krüger erhielt lediglich Bericht aus Konstanz, wenn sich in der Sache etwas bewegte oder falls neue Maßnahmen geplant wurden.
Nichtsdestotrotz hatten die zuständigen Kollegen inzwischen eine ganze Reihe von Einbruch- oder Diebstahlopfern angeschrieben und ihnen Fotos samt genauer Beschreibung dieser Uhr zukommen lassen.
Bislang jedoch vergeblich.
Nun beabsichtigte man als Nächstes eine Veröffentlichung in Zeitungen und eventuell im Fernsehen zu veranlassen. Selbstverständlich ging das nicht ohne die Zustimmung des Sonderermittlers aus Freiburg. Für Krüger ein Grund, endlich selbst einmal nach Konstanz zu reisen. Geplant hatte er dies ohnehin seit Längerem, er wollte jedoch nicht mit völlig leeren Händen auftauchen. Deshalb hatte er mit "seiner persönlichen Beraterin" eine Strategie ausgeheckt, die er nun umzusetzen gedachte. Logischerweise zweifelte niemand daran, dass es sich bei der Beraterin um Nadja Smolenska handelte. Krüger sah trotzdem keinen Grund zu erklären, dass damit in erster Linie seine Lebenspartnerin gemeint war. Selbstverständlich bezog er Nadja mit ein. Aber das Wesentliche entstand aus den gemeinsamen Überlegungen mit Frau Graßel.
Die Strategie diente dem Ziel, den Uhrenbesitzer möglichst ohne öffentliches Aufsehen ausfindig zu machen. Beginnen wollte Krüger mit dem Opel. Laut Bordbuch war das Fahrzeug zum letzten Mal am 15. Juli in der Werkstatt gewesen. Bei dieser Gelegenheit wurde der Kilometerstand notiert. Seither waren bloß 951 weitere Kilometer dazugekommen. Gestohlen wurde der Opel am 17. August. Ein Beamter sollte mithilfe des Besitzers anhand dessen Fahrgewohnheiten ermitteln, welchen Teil davon der Dieb in etwa zurückgelegt haben könnte. Krügers Überlegung: Mit ziemlicher Sicherheit dürfte der Gesuchte innerhalb dieses Radius bestohlen worden sein. Zwischen Konstanz und Tuttlingen lagen 55 Kilometer, von da nach Schramberg weitere 55. Krüger ging davon aus, dass der Wagen nur kurz, höchstens für einige Tage als Fluchtwagen benutzt wurde. Beispielsweise am Wochenende vom 17 – 19. August.
Durch Abgleich von Einbrüchen in der berechneten Distanz an diesem Wochenende versprach sich Krüger einen relevanten Anhaltspunkt. Dass der Wagen nicht nur für ein Delikt, sondern für eine ganze Diebestour geklaut wurde, setzte er zunächst einmal voraus.
***
Nadja hatte inzwischen einen Weg gefunden, um unauffällig bei Eduard Schuster aufzukreuzen. Sie sollte erst mal erkunden, wie er heute zu den Fällen Anna Duda und Jadwiga Grabowska stand. Würde er aktiv mithelfen oder sich sperren und zurückziehen, um eigene Fehler zu vertuschen. Überspitzt formuliert, hatte er in dieser Angelegenheit ziemlich versagt. Vor allem, wenn man die offensichtlichen Mängel bei der Bergung von Anna miteinbezog. Das Problem bestand nicht darin, dass man damals nicht über die notwendigen Mittel zu einer adäquaten Untersuchung verfügt hatte. Sondern, dass er es versäumte, die Spezialisten des Landeskriminalamtes einzuschalten.
Dass etliche Revierleiter das jeweilige LKA lieber außen vor ließen, war an sich nichts Neues. Man empfand es als demütigend als Eingeständnis der eigenen Inkompetenz, den "großen Bruder" rufen zu müssen. Anstatt es einfach als die nächste Stufe der Optionen zu sehen. Hier lag der Fehler offenbar eher im System.
Die Angaben zu Schusters Person schienen widersprüchlich. Einerseits wurde er als korrekt und kompetent beschrieben, andererseits auch als aufbrausend und rechthaberisch. Wie fast überall war der Chef nicht bei allen Mitarbeitern gleich beliebt.
Schuster hatte sich im Ruhestand dem Verein Heimatmuseum Tennenbronn angeschlossen. Als aktives Mitglied. An mehreren Tagen im Monat stand er für Führungen oder Aufsicht während der Öffnungszeiten des Museums zur Verfügung. Das wusste Nadja von Kollege Pickel, nachdem sie ein Gespräch auf mögliche Langeweile im Ruhestand gelenkt hatte. In der Sammlung befanden sich angeblich nicht bloß alte Haushaltsgegenstände und landwirtschaftliche Geräte. Sondern auch etliche Folterwerkzeuge sowie beklemmende Schriftstücke, die von den Methoden der mittelalterlichen Justiz berichteten. Auf dieser Schiene, so hoffte Nadja, ließ sich eine Unterhaltung über alte und schließlich auch neuere Kriminalfälle einfädeln.
Vorteilhaft wie meistens dürfte sich dabei eine hübsche, echt interessierte weibliche Fragestellerin auswirken.
Bei ihrem ersten Besuch war er schlicht nicht da. Immerhin stand im Vorraum eine Tafel mit den "Highlights" der nächsten Tage und wer sie dem staunenden Publikum präsentieren würde. Ein E. Schuster fand sich für kommenden Dienstag auf der Liste. Bis dahin mussten sich Nadja und der Kommissar gedulden.
***
Krüger erhielt bei der Forstverwaltung Auskunft über das Jagdrecht im Wald, in dem Anna gelegen hatte. Jagdrecht und Hütte gehörten der örtlichen Farbenfabrik. Das Revier stellte einen sogenannten Eigenjadbesitz dar, der mit niemandem geteilt werden musste. Soweit ging die offizielle Auskunft. Der Förster, der Krüger zu einem "gepflegten Schnäpschen" eingeladen hatte, erzählte von sich aus, wie die Sache gehandhabt wurde. „Von der aktuellen Besitzergeneration jagt niemand mehr selbst. Man überlässt es verdienten Kadermitarbeitern als exorbitantes Privileg, den Wildbestand im Zaum zu halten. Die Berufung, die jedes Jahr aufs Neue vergeben wird, solle extrem begehrt sein“, fuhr der Förster mit leiser Stimme fort: „Die jeweiligen Nutznießer gehören danach praktisch automatisch zu den besseren Kreisen der Stadt Schramberg. Weitere Einladungen zur Jagd in anderen Revieren bleiben fast unvermeidlich, sobald der Ritterschlag erfolgt ist. Dass diese neuen Bekanntschaften auch weiterreichende Vorteile bedeuteten, kann man sich ja leicht ausrechnen“, schloss er.
Krüger nahm die Informationen dankbar zur Kenntnis. Blieb zu ergründen, wie lange dieser Modus bereits existierte. Hoffentlich länger als fünfzehn Jahre.
***
In der Rechtsmedizin der Uni Freiburg kannte man Kommissar Krüger selbstverständlich. Deshalb rief die Empfangsdame gleich den Direktor des Instituts, nachdem er sein Anliegen vorgetragen hatte. Professor Gründel war seit mehr als zwanzig Jahren hier tätig und damit auch der Dienstälteste.
Der Professor hatte Krüger während seines Aufenthalts in der Klinik mehrmals besucht und war deshalb auf dem Laufenden. „Sie haben sich ja prächtig erholt, Herr Kommissar“, ließ er anerkennend hören.
Krüger winkte ab. „So schwer verletzt war ich nun auch wieder nicht, Herr Professor.“
„Na ja, tatsächlich sind Sie nicht direkt bei mir gelandet, Herr Kommissar. Aber zu spaßen war mit dieser Fraktur trotzdem nicht.“
„Ich beuge mich selbstverständlich Ihrer Einschätzung, Herr Professor. Ehrlicherweise bin ich jedoch nicht meinetwegen hergekommen. Ich möchte Sie um Rat bitten in einer anderen Sache. Es geht um eine Tote, deren Überreste hier im Institut untersucht wurden. Allerdings sind seither fünfzehn Jahre vergangen. Die Tote hieß Duda. Anna Duda, sie stammte aus Polen. Teile von ihr wurden in einem Wald bei Schramberg gefunden. Die Liegezeit wurde damals auf etwa drei Monate geschätzt.“ Krüger zuckte mit den Schultern. „Ich erwarte selbstverständlich nicht, dass man sich einfach so an eine Untersuchung erinnert, die fünfzehn Jahre zurückliegt. Außerdem könnte der damalige Gerichtsmediziner längst pensioniert sein oder sich einem anderen Institut zugewandt haben.“
Der Professor lächelte. „Damals war ich einer der aktiven Fachärzte. Der Name sagt mir zwar auf Anhieb nichts. Jedoch kann unser Archivar die Akte problemlos heraussuchen. Darin ist selbstverständlich vermerkt, wer sie auf dem Tisch hatte. Aber selbst wenn sie nicht bei mir war. In den meisten Fällen wirft man ohnehin mal zwischendurch einen Blick auf die Arbeit der Kollegen. Oder es wird auch einfach gemeinsam über einen Befund diskutiert. Gut möglich, dass ich trotz allem etwas mitbekommen habe. Duda, sagten Sie?“
Krüger nickte. „Anna Duda.“
Der Professor schlenderte zu einem an der Wand angebrachten Haustelefon. „Das Archiv bitte!“
Krüger wartete geduldig, während der Professor versuchte, den Archivar an die Strippe zu bekommen. „Schon Zuhause! Um diese Zeit?“, moserte er.
Schließlich gab Gründel auf. „Tut mir leid, Herr Kommissar. Heute geht das nicht mehr.“
Krüger gab sich entspannt. „Auf einen Tag mehr oder weniger kommt es nach fünfzehn Jahren nicht an. Außerdem haben wir kaum eine andere Wahl, oder?“
„Wir könnten natürlich selbst suchen gehen“, sinnierte der Professor. „Aber bei diesen Mengen im Archiv …“
„Bestimmt nicht“, wehrte Krüger ab. „Das ist absolut kein Notfall.“
„Trotzdem, Herr Kommissar. Ich kümmere mich darum. So bald wie möglich. Wollen Sie nur den Bericht haben oder möchten Sie den Vorgang lieber mit mir besprechen?“
„Das Letztere fände ich ausgezeichnet!“
„Dann machen wir das so. Wie kann ich Sie erreichen?“
Krüger zückte eine seiner neuen Visitenkarten. „Bitte, Herr Professor!“
Der stutzte kurz. „BKA, Sonderermittler. Wie soll ich Sie denn jetzt korrekt ansprechen?“
„Bloß keine Umstände!“, wehrte Krüger ab.
„Wenn Sie meinen, Herr Kommissar.“
„Danke für Ihre Zeit, Herr Professor!“
„Aber gerne.“
***
Die Führung im Heimatmuseum startete pünktlich um zehn Uhr. Nadja hatte kaum erwartet, dass außer ihr etliche weitere Besucher anwesend sein könnten. Darin hatte sie sich jedoch gründlich getäuscht. Offenbar hatte der Veranstalter einer Kaffeefahrt von dieser praktischen Gelegenheit, um Zeit totzuschlagen, Wind bekommen. Ein weiterer Irrtum, wie Nadja bald feststellte. Eduard Schuster wies gleich von Anfang an darauf hin, dass man die vorgestellten Spezialitäten der Gegend am Nachmittag bei gemütlichem Zusammensein zu günstigen Konditionen erwerben könne. Wenigstens ließ sich dadurch der Sinn des Ganzen ziemlich klar erkennen. Ausgerechnet ein pensionierter Hauptkommissar mit normalerweise ausreichender Beamtenpension beteiligte sich mit klarer Begeisterung an dubiosen Verkaufsveranstaltungen. Nadja überlegte während der gesamten Führung durch das Museum, ob sie Schuster überhaupt befragen sollte. Er würde bestimmt rasch dichtmachen, sobald er vermutete, dass es sich um Nachforschungen zu seinem Nebenjob handeln könnte. Als langjähriger Polizist dürfte er schwer zu täuschen sein, vor allem wenn es um die eigene Haut ging. Einen zufriedenen Rentner mit weiblichen Reizen einzuwickeln, verlangte dagegen kaum besondere Fähigkeiten, falls frau entsprechend ausgestattet war. Nadja beschloss, sich zuvor mit Krüger zu besprechen. Deshalb schlich sie sich erst unauffällig auf eine Toilette und verließ danach direkt das Museum.
***
Krüger traf sich zur gleichen Zeit erneut mit Professor Gründel in der Rechtsmedizin. Der kam gleich zur Sache: „Sobald ich die Akte aufgeschlagen hatte, erinnerte ich mich sofort wieder. Selten habe ich eine solche Schlamperei erlebt wie bei dieser Sache. Ich obduzierte damals leider nicht selbst, sonst hätte ich eventuell etwas retten können. Bevor ein Assistent den gesamten Inhalt der Lieferung in ein Becken kippte.
Anstatt uns vorschriftsgemäß an den Fundort zu rufen, schmiss man uns ein Bündel mit Leichenteilen vor die Füße. Durch den Druck des Sackes und die Erschütterungen beim Transport vermengten die letzten vorhandenen Weichteile zu einem undefinierbaren Brei. Aus dem die Knochen in wirrer Zusammenstellung herausragten. Bloß weil sich das Opfer auch ohne Obduktion sicher identifizieren ließ und der Todeszeitpunkt höchstwahrscheinlich dem Datum des Verschwindens entsprach, sah das Institut schließlich von einer Anzeige an die Dienstaufsicht ab.
Außerdem ging der zuständige Staatsanwalt davon aus, dass das Mädchen mit bloßen Händen erwürgt wurde. Spuren einer Strangulation hätten wir ohnehin nicht mehr feststellen können. Auch vor Ort nicht.“
Krüger reagierte empört. „Erwürgt! Mit bloßen Händen? Davon steht überhaupt nichts in den Berichten! Wer sollte das festgestellt haben und wie?“
Der Professor nickte. „Ich war damals ein normaler Angestellter. Trotzdem haben wir im Kollegium darüber diskutiert, daran erinnere ich mich. Aber man erklärte uns schließlich, dass der Staatsanwalt über weitere Anhaltspunkte zur Todesursache verfügt haben solle.“
Krüger schüttelte den Kopf. „Davon kann keine Rede sein. Wie sollten diese Anhaltspunkte denn ausgesehen haben?“
„Na ja, welche erfuhren wir natürlich nicht. Jedoch beispielsweise Augenzeugen, ein Geständnis oder andere Leichen, die das gleiche Tatmuster aufwiesen … Möglichkeiten wären durchaus vorhanden.“
„Es gab nichts dergleichen. Zumindest nicht nach meinem Kenntnisstand. Und ich war mit einem der Polizisten am Fundort, die damals die Leiche oder besser die Leichenreste geborgen haben.“
„Dann bleibt wohl nur übrig, dass Sie den damaligen Staatsanwalt befragen“, schlug der Professor vor.
„Ist leider inzwischen verstorben!“
„Ach so. Das ist natürlich unglücklich.“ Der Professor konnte ein schwaches Grinsen kaum verbergen.
„Ja, aber eigentlich spielt das keine so große Rolle“, fuhr Krüger fort. „Es ging dem Staatsanwalt vermutlich bloß darum, die Blamage durch eine Schutzbehauptung zu vermeiden. Konkret frage ich mich, ob Anna eventuell durch ein Geschoss zu Tode gekommen sein könnte?“
Der Professor runzelte die Stirn. „Erschossen?“, wiederholte er. „Sie haben einen konkreten Grund für diese Vermutung, oder?“
Krüger nickte. „Zugegeben, eher eine vage Vorstellung. Wenn Sie es jedoch auch nicht völlig ausschließen können, dann lasse ich den Fundort auf Metallrückstände untersuchen.“
„Der Schädel und die Knochen des Torsos waren vollständig vorhanden. Also Rippen, Becken, Wirbelsäule et cetera. Auch einige Knorpelteile von Kehlkopf und Speiseröhre sowie kleine Reste der großen Muskeln des Gesäßes. Erkennbare Spuren einer Schussverletzung wären uns bestimmt nicht entgangen. Jedoch kann auch eine Kugel tödlich sein, die nur Weichteile, große Blutgefäße oder Organe trifft. Ein seitlicher Bauchschuss könnte beispielsweise den unteren Teil der Aorta treffen.“
„Organe waren keine verletzt?“
Der Professor zuckte mit den Schultern. „Die Innereien waren schlicht nicht mehr vorhanden, nach Monaten im Wald. Maden und Tierfraß! Das ist in der freien Natur völlig normal.“
Krüger wusste das natürlich auch. Aber trotzdem schauderte er kurz. „Danke Herr Professor. Ich denke, das ist im Moment alles.“
„Wie Sie meinen.“
„Ja, danke. Auf Wiedersehen, Herr Professor.“
„Sie können jederzeit wiederkommen, falls Sie weitere Auskünfte wünschen.“
„Vielen Dank. Ich weiß das sehr zu schätzen!“
„Bitte, Herr Kommissar!“
Krüger verließ das Institut mit flauem Gefühl im Magen. Er hatte an einen sofort tödlichen Schuss gedacht. Ins Herz beispielsweise. Das könnte von unterhalb des Rippenbogens vielleicht noch möglich sein. Aber dass diese Kugel beim Austritt weder Schulterblätter noch Halswirbelsäule tangierte? Praktisch undenkbar.
Er vermied es lieber, sich die alternative Version genauer vorzustellen.
***
Natürlich hatte Nadja bei den polnischen Kollegen nicht nur über Anna Duda Material gesammelt. Sondern auch zu deren vermissten Kollegin, Jadwiga Grabowska. Dass sie damals verschwand, daran bestand kein Zweifel. Jedoch, ob sie sich irgendwo versteckte, ausgewandert oder verstorben war, ließ sich nicht mit Gewissheit feststellen. Die deutsche Polizei hatte auf Nachfrage des Elternpaares, das sie beschäftigt hatte, einige laue Versuche angestellt, um sie zu finden. Eher lapidar wurde schließlich festgestellt, dass Jadwiga das Land höchstwahrscheinlich verlassen habe. Die polnischen Behörden behaupteten ziemlich genau das Gegenteil. Anfangs wurde bei Leichenfunden die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass es sich um die Gesuchte handeln könnte. Im Lauf der Jahre erloschen Erinnerung und Interesse an Jadwiga. In beiden Ländern. Eine logische Entwicklung angesichts der Zahl von jährlich neu verschwundenen Personen.
Was immerhin als neue Möglichkeit denkbar schien: Falls sich eine DNA-Probe gewinnen ließe, die in der Datenbank zu einem Treffer führen könnte. Dazu benötigte man jedoch nicht kontaminiertes Material. Am besten eine Blut- oder Gewebeprobe, die seinerzeit fachgerecht präpariert und archiviert wurde. Erschien bei einem jungen Mädchen äußerst unwahrscheinlich. Eine vage Hoffnung: Früher war es üblich, von Kindern eine Haarlocke aufzubewahren. Wenn beim Abschneiden mit einer stumpfen Schere einige Wurzeln mit ausgerissen wurden, könnte eine Analyse vielleicht gelingen. Als Plan B blieb die Untersuchung des Erbgutes von Geschwistern möglich. Das Eine wie das Andere müsste jedoch erst mal beigebracht werden können.