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3. Kapitel

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Nadja wurde schnell klar, was in Pickels Abteilung fehlte. Eine weibliche Beamtin in begehrenswertem Alter, die sich gerne von den Kollegen bewundern und verwöhnen ließ. Die Beschreibung passte hervorragend zu ihr selbst. Natürlich arbeiteten auch einige Damen in den Büros der Etage. Jedoch ausnahmslos von der Sorte graue Mäuse, deren Fehlen kaum einem Mann auffallen würde.

Nicht nur Pickel und dessen Kollegen gaben sich beeindruckt von Frau Smolenska. Auch die beiden Praktikanten wirkten gleich nervös, sobald sie bloß an ihnen vorbeiging. Wobei der Ausdruck, gehen, dem Vorgang kaum wirklich gerecht werden konnte. Allerdings wollte Nadja nichts von denen. Ihr Ziel lag woanders. Auch Pickel selbst bedeutete nur einen Zwischenschritt. Der in den Akten erwähnte Eduard Schuster, damaliger Chef des Postens in Tennenbronn und damit Leiter der Ermittlung an Annas Fundort. Der genoss inzwischen seine Pension und konnte deshalb nicht einfach zur Auskunft aufgeboten werden. Oder unter Druck gesetzt, um eventuelle Fehler zuzugeben. Diese Dienststelle wurde kurz nach Schusters Abgang endgültig geschlossen. Mitarbeiter und Akten fanden in der Stadt Schramberg eine neue Bleibe.

Schusters heutige Wohnadresse hatte Pickel schon längst ausgeplaudert. Jetzt ging es für Nadja darum, einen Grund zu finden, um den Mann zu treffen. Absolut unverfänglich. Krüger hatte als oberstes Gebot gesetzt, so wenig wie möglich von den neuen Untersuchungen durchsickern zu lassen. Dies galt vor allem für Leute, die irgendwie an der Sache beteiligt gewesen waren oder auch gewesen sein könnten. Zu gegebener Zeit, beispielsweise um jemanden nervös zu machen, würde sich die Taktik entsprechend nutzen lassen.

„Sag mal, Waldi, was habt ihr früher eigentlich in Tennenbronn so gemacht, bevor es Internet gab. War das nicht grauenhaft langweilig?“ Nadja spitzte absichtlich zu und zwinkerte fast mit den Augen bei der Frage.

„Na hör mal!“, reagierte Kollege Pickel sofort, „denkst du etwa, uns sei damals nichts eingefallen?“

„Ja was denn zum Beispiel?“

Oswald, Waldi wie er sich gewünscht hatte, stutzte kurz. Darüber hatte er gar nicht nachdenken können. „Damals pflegten wir noch einen zünftigen Stammtisch“, begann er. „Im Alten Krug war immer etwas los. Nicht nur saufen. Wir haben auch ernsthaft diskutiert. Über Politik und …“

Nadja bleckte ihre wunderschönen Zähne. „Über Frauen?“, schob sie ein.

„Ja klar. Die Weiber. Ich meine natürlich die Damen!“ Er ließ einen krass abgehackten Lacher hören. „Waren öfters ebenfalls Thema. Ist ja auch keine einfache Sache, äh, Sorte oder?“

Sie wirkte irritiert und zuckte bloß mit den Schultern.

„Na, komm schon. Ist doch meistens Absicht, wenn ihr so, so schwierig herumzickt? Oder etwa nicht?“

„Absicht?“ Nadja wirkte echt erstaunt. „Was könnten wir denn damit beabsichtigen?“

„Na ja. Sich Aufmerksamkeit verschaffen. Im Gespräch bleiben. Wünsche erfüllt bekommen, wofür ihr dann eine Weile Ruhe gebt.“

Sie konnte ein Grinsen kaum unterdrücken. „Ich habe ja zu diesem Thema schon Verschiedenes gehört. Jedoch das ist mir neu.“

„Sei bitte nicht böse, aber ich glaube dir kein Wort.“

„Du kennst dich also aus“, stellte sie fest.

„Mit schwierigen Bräuten, meinst du? Na ja. Auf jeden Fall habe ich schon eine ganze Menge miterlebt. In Tennenbronn gab es keine Beamtinnen im Dienst. Wir mussten auch mal ran, wenn es sich eigentlich nicht gehörte.“

„Hast du ein Beispiel?“

Er zögerte kurz. „Da war mal so eine Waldfete. Worum es genau ging, weiß ich nicht mehr. Auf jeden Fall mussten wir eingreifen, weil einige Hühner aufeinander losgegangen sind. Wir waren ohnehin schon vor Ort. Fand ich speziell, die raufenden Weiber zu greifen und zu fesseln!“

Nadja hob die Brauen. „Greifen und fesseln?“

„Also natürlich hatte alles seine Ordnung. Der Chef war schließlich auch dabei. Wir haben die Damen voneinander getrennt und mit Handschellen gesichert. Genau nach Vorschrift. Aber was sollte ich machen? Jede hatte praktisch nur noch zerrissene Kleider. Ist doch klar, dass wir versucht haben, wenigstens die Brüste oder sogar nackte Hintern wieder irgendwie zu bedecken.“

„Und wie bist du vorgegangen?“ Nadja wirkte belustigt. „Um die Brüste zu bedecken, meine ich“, ergänzte sie. „Womit hast du dir geholfen?“

Waldi zuckte mit den Schultern. „Die BHs waren ja noch da. Bloß heruntergerissen. Da haben wir die Dinger einfach wieder dahin zurückgestopft, wohin sie gehören. Also die Titten, meine ich.“

„Hatte ich auch so verstanden“, murmelte Nadja. „Bei gefesselten Frauen. Als eine Art Dienstleistung. Natürlich, die Polizei, dein Freund und Helfer“, stichelte sie.

„Ich sagte ja, dass sich so was nicht gehört. Immerhin blieb es ein Einzelfall. Viel öfter kam vor, dass ich betrunkene Frauen aus dem Verkehr ziehen oder welche nach Ladendiebstählen verhören musste. Ich kenne sogar solche, die ihre Ehemänner misshandeln. Und letztes Jahr hat hier in der Stadt eine ihren Mann mithilfe von Pilzen aus der Welt geschafft. Das alles hat meine Wahrnehmung der Damenwelt im Lauf der Zeit wesentlich verändert.“

„Solche Dinge kommen natürlich vor“, bestätigte Nadja kleinlaut. „Auch Frauen können nicht immer nur Engel sein.“ Sie klang irgendwie betroffen, stellte Waldi fest. Mehr, als zu erwarten war.

***

Krüger wollte auf keinen Fall die gleichen Reifenspuren hinterlassen wie der Kollege Pickel. Deshalb verzichtete er auf einen Versuch, den Wagen zu wenden. Er fuhr stattdessen nach oben. Irgendwann würde er auf die Bergstraße gelangen, die von Schramberg über den Hügel ins Sulzbachtal führte. Natürlich hatte er auf eine Probegrabung verzichtet. Sein nächster Anhaltspunkt sollte die Gerichtsmedizin in Freiburg werden. Bestand die Möglichkeit, dass an den eingelieferten Überresten des Leichnams eine Schussverletzung übersehen worden sein könnte? Weniger infolge einer schlampig ausgeführten Untersuchung, sondern weil der Körper damals unvollständig aufgefunden und wohl auch nicht mit besonderer Sorgfalt transportiert wurde. Nach Pickels Ausführungen wurden die Leichenteile einfach eingesammelt und auf eine Plane geschichtet, die der Bestatter am Schluss zu einem Bündel formte und als Ganzes in einen normalen Leichensack stopfte. Dass dabei einiges durcheinandergeraten war, hatte sich bestimmt nicht vermeiden lassen.

Tatsächlich führte der Waldweg nicht direkt in die Bergstraße. Immer wieder gabelte er sich auf. Krüger wählte jeweils die Seite, die er für die richtige hielt. Dass dies eine reine Lotterie sein dürfte, war ihm klar, obwohl er darauf achtete, ständig weiter nach oben zu fahren. Es kam, wie es kommen musste. Plötzlich endete der Weg. Immerhin an einer imposanten Jagdhütte. Wenigstens konnte man hier wenden, ohne auffällige Spuren zu hinterlassen. Allerdings stieg er erst aus und klopfte an ein Fenster des Hauses. Keine Reaktion.

Schließlich gab er auf und breitete seine Luftaufnahme auf der Motorhaube aus. Vor der Hütte befand sich ein Fleck ohne Bäume. Dieser musste auf dem Foto zu finden sein, wenn man wusste, wonach man suchte. Es dauerte trotzdem mehrere Minuten, bis Krüger sicher war. Er stand tatsächlich gar nicht weit weg von der Bergstraße. Ein Stück zurück, dann die zweite links, bei der nächsten Gabel wieder auf die rechte Seite wechseln. Dieser Weg führte direkt auf die asphaltierte Straße, wo sie in einer engen Kehre einmündete. Von oben an den Fundort Annas zu gelangen, ohne perfekte Ortskenntnisse, ließ sich wirklich praktisch ausschließen. Von unten her schien es eher möglich, dass jemand auf gut Glück in den Wald hinein gefahren war. Jedoch wohl kaum mit einer Leiche im Kofferraum? Oder konnte einer so blöd sein?

Vermutlich kam ein völlig anderer Ablauf viel eher infrage. Beispielsweise eine ausufernde Party in der Jagdhütte, die mit einem schweren Übergriff geendet hatte. Wahrscheinlich bestand keine Absicht, das Mädchen umzubringen. Man brachte sie bloß an einen extrem abgelegenen Ort, um sich einen bedeutenden Vorsprung zu verschaffen oder um in Ruhe untertauchen zu können. Dabei könnte dann etwas schiefgegangen sein. Eventuell hatte sie den oder auch einen der Täter erkannt. Oder sie hatte sich so massiv gewehrt, dass sie dabei verletzt wurde und sich die Sache deshalb nicht mehr einfach vertuschen ließ.

Jeder Jäger trug eine Kurzwaffe mit sich herum, um einem verletzten Tier den erlösenden Fangschuss zu geben. Oder auch einer laut um Hilfe schreienden Frau, die anders nicht mehr zu beruhigen war? Eine krasse Vorstellung.

Aber wenn es sich bei dem Metallstück im Boden um eine Kugel handelte, dann trotzdem eine nicht von der Hand zu weisende Möglichkeit.

Wurde Anna möglicherweise bei einem Handgemenge direkt an der Fundstelle erschossen, fiel Krüger plötzlich ein? Vielleicht hatte sie es geschafft, ihrem Angreifer die Waffe zu entreißen, aber nicht, sie danach gegen ihn anzuwenden.

Eine vergleichsweise plausible Möglichkeit. Und bei einem liegenden Paar würde der Schusskanal tatsächlich nach unten zeigen.

Ein Jäger war daran gewöhnt, seine Beute so rasch wie möglich auszuweiden. Also würde er vermutlich auch über die Nerven verfügen, von einer Toten alles zu entfernen, was sie an oder auf sich trug, um Spuren zu verwischen.

In diesem Fall schloss sich ebenso nicht aus, dass es im Verlauf einer an sich normalen Beziehung passiert sein könnte. Normal jedoch bloß aus Annas Sicht. Krüger hatte in Jägerkreisen schon davon gehört, dass sich nicht jeder nur mit Abschüssen von Rotwild begnügte. Diese Rangliste wurde zwar nicht offiziell geführt. Der Sieger genoss jedoch trotzdem einen sehr hohen Stellenwert in der Gemeinschaft. Man suchte sich dazu leicht zu beeinflussende Opfer. Idealerweise ein junges, unerfahrenes Ding, das in der Gegend über keinerlei Anhang verfügte. Wie beispielsweise ein ausländisches Kindermädchen. Angelockt mit der Aussicht auf ein besseres Leben an der Seite eines vermögenden Partners. Bis sie dann begriff, worum es wirklich ging, war es meistens zu spät. Und fast immer blieb ihnen gar nichts anderes übrig, als zu schweigen. Wenn sie sich zu Hause noch einmal blicken lassen wollten.

Krüger musste seine düsteren Überlegungen etwas einschränken, um sich besser auf das Fahren zu konzentrieren. Er hatte die Bergstraße längst erreicht. Trotzdem: Noch bevor er die Rechtsmedizin in Freiburg aufsuchte, würde er herausfinden, zu wem die stattliche Jagdhütte gehörte. Die Situation passte einfach zu präzise, um sie zu ignorieren. Ein gewisser Reichtum, Waffen im Haus, ausgezeichnete Ortskenntnisse. Höchstwahrscheinlich mit Geländewagen im Besitz. Kaum Gefahr, durch einen abgegebenen Schuss im Wald aufzufallen. Und nicht zuletzt: definitiv die Umgebung für Familien, die sich normalerweise dauerhaft Kindermädchen oder Haushaltshilfen leisteten. Und sei es nur, um Nachbarn und Freunde zu beeindrucken. Oder auch, um immer genügend Jungwild zur Hand zu haben.

Anna und Jadwiga

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