Читать книгу MAGNETSTURM - T. H. Isaak - Страница 11
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Als letzter betritt Jorgos Kapsis Pavlides’ Büro. Mit exakt fünfzehn Minuten Verspätung. Das akademische Viertel, welches er auszureizen pflegt.
«Man würde meinen, du stündest in der Hierarchie über mir», stichelt Pavlides.
«Welche Hierarchie, Nikos?» gibt Kapsis zurück. «Ich bin niemandem verpflichtet ausser dem Herrn, der die armen Seelen der vor mir liegenden Körper zu sich gerufen hat. Und dem Rektor der Universität, natürlich.»
«Kaffee?»
«Es wäre bereits mein Fünfter. Ich verzichte.»
Der Gerichtsmediziner breitet seelenruhig seine Dossiers vor sich aus. Er sieht überarbeitet aus, aber sein Mundwerk ist wie immer bestens geölt. Links von ihm sitzt Christos Arambatzis. Spurensicherung. Rechts Penelope Livanou, neben ihr Prokopis Patsis, das Raubein von der Mordkommission.
«Ich habe euch zum Rapport im Falle des gewaltsamen Todes von Passagieren des Regierungsjets Dassault Falcon 900 vom Mittwoch, 12. September eingeladen», leitet Pavlides die Sitzung formell ein. «Ich führe den Fall unter dem Aktenzeichen ‚Falcon 900’. Gemäss der euch zugestellten Tagesordnung möchte ich von jedem einzelnen erfahren, wo eure Ermittlungen stehen.
Penelope führt Protokoll. Fangen wir gleich mit dir an Jorgos, bitte.»
Jorgos setzt eine Lesebrille auf, die an einem Bändchen um seinen Hals baumelt. Er nimmt einen Stapel Ausdrucke und Fotos zur Hand. Letztere lassen schon erahnen, was nun folgen wird. Gut, hat noch niemand zu Mittag gegessen.
«Wir haben bis Samstagabend die fraglichen sechs Leichen obduziert. In Alexandroupolis. Mit tatkräftiger Unterstützung der lokalen Gerichtsmediziner, die übrigens über aussergewöhnlich angenehme Arbeitsräume verfügen im Vergleich zu dem, womit wir uns begnügen müssen. Vor der Obduktion erfolgte jeweils eine Ganzkörper-Computertomographie mit anschliessender 3D-Rekonstruktion. Das ist eine ganz nützliche Prozedur, vor allem hinsichtlich Fragestellungen, die erst nachträglich aufs Tapet kommen. Eine digitale Archivierung der pathologischen Anatomie, sozusagen. Kommen wir nun zu den Leichen.»
Pavlides nickt: «Ja, bitte.»
«Da haben wir zunächst einmal die Leiche des Nassios Kranidakis, siebenundfünfzig, Vizeminister im Verteidigungsministerium.» Er holt einige Fotos hervor. Keiner schaut weg. Am Tisch sitzen nur Profis.
«Kranidakis weist schwere Kopf- und Thoraxverletzungen durch stumpfe Gegenstände auf. Hier, hier und hier.» Er deutet auf einige Punkte auf einer Aufnahme. «Seine linke Lunge war kollabiert und es fand sich reichlich Blut im Pleuraraum, ein sogenannter Hämatopneumothorax.
Ausserdem fanden wir einen gebrochenen linken Schenkelhals. Eine Luxationsfraktur, um genau zu sein. Todesursache waren die schweren Kopfverletzungen, die ihr auf diesem Bild erkennen könnt. Der eingedrückte Schädelknochen hier verursachte eine Quetschung des Grosshirnparenchyms mit anschliessendem Hirnödem, sowie eine Ruptur eines Hirngefässes, was zu einer Massenblutung führte. Kranidakis war wegen einer Herzkranzgefässerkrankung mit Vorhofflimmern antikoaguliert.»
«Antikoaguliert?»
«Blutverdünnt. Mit Marcoumar. Übliche Medikation.»
Blick in die Runde über den Rand seiner Lesebrille. Da niemand Fragen zu haben scheint, fährt er fort.
«Kommen wir zur Leiche Nummer zwei. Kranidakis’ Tochter Sotiría. Studentin, einundzwanzig Jahre alt. Schädelbasis- und Gesichtsschädelfrakturen. Luxationsfraktur des rechten Oberarmes. Und zwei Wirbelkörperfrakturen. Hier kann man sie auf den CT-Bildern erkennen.» Er legt die Bilder in die Mitte des Tisches. «Sotiría atmete noch als die Maschine in Alexandroupolis gelandet war. Aber nicht mehr lange. Das Hirnödem führte noch während der Wiederbelebungsversuche zu einem Atemstillstand und schliesslich zum Herzversagen. Hätte sie überlebt, wäre sie querschnittsgelähmt und geistig behindert.»
Betretene Mienen unter den Anwesenden.
«Leiche Nummer drei: Fotis Papadakis. 34-jährig, Co-Pilot. Er wurde auf der Bordtoilette überrascht.
Musste aber nicht lange leiden. Genickbruch. Hier die CT-Bilder. Danach gesellten sich noch einige weitere Trümmerfrakturen und Weichteilverletzungen hinzu. Er wurde im engen Raum regungslos hin und her geschleudert, da war er aber schon tot. Ich brauche nicht näher in die Details zu gehen. Jedenfalls wurde die Bordtoilette sprichwörtlich zum Blutbad. Verzeihung, wenn ich soeben den Ton nicht getroffen habe.»
Allseits Schweigen.
«Gibt es bei den anderen drei Leichen – der Flugbegleiterin, dem Sekretär und dem General», Pavlides liest die Berufsbezeichnungen von der vor ihm liegenden Passagierliste ab, «irgendwelche Besonderheiten im Verletzungsmuster?»
«Du meinst Schussverletzungen, Messerstiche und Axthiebe?»
«Bitte, Jorgos …»
«Nein, keine Besonderheiten. Ich möchte aber festhalten, dass es grundsätzlich aufgrund der Verletzungsmuster nicht ausgeschlossen ist, dass es in der Kabine eine heftige Keilerei mit tödlichem Ausgang gab. Rein theoretisch, natürlich.»
«Wie absurd ist das denn?» meint Livanou, die sich an der, nach ihrem Dafürhalten, mangelnden Ernsthaftigkeit des Gerichtsmediziners stört.
«Wieso nicht?» fährt Patsis dazwischen und fixiert Livanou. Er weiss, dass sie sein überlegenes Grinsen verabscheut. Es regelrecht zum Kotzen findet. «Denk mal etwas freier, Mädchen! Öffne deinen Geist! Klar haben wir bisher von nichts anderem als von diesen tödlichen Schwingungen gehört, diesen Pitch Oscillations, von denen uns der Pilot berichtet hat. Und wir glauben ja auch, dass dieses Rauf- und Runterkippen des Flugzeuges und die nachfolgende Todesspirale den Leuten in der Kabine den Garaus gemacht haben. Aber Jorgos hat recht, wenn er diese These nicht allein im Raum stehen lässt. Ich will damit nicht behaupten, dass der Leibwächter in der Kabine, unter Mitwisserschaft des Piloten, die Herrschaften mit dem Aktenkoffer des Vizeministers wie lästige Insekten vorsätzlich erschlagen hat. Gott bewahre! Aber wer sagt uns, dass die beiden Überlebenden, Pilot und Leibwächter, nicht doch unter einer Decke stecken? Was, wenn das ganze Gemetzel eine perfide Inszenierung war?»
«Du meinst, dass der Pilot absichtlich gefährliche Manöver geflogen hat, und der eingeweihte Leibwächter, sein Komplize, in der Kabine die Aufgabe hatte, sicherzustellen, dass auch wirklich alle mausetot sind?» präzisiert Pavlides.
«Bingo!»
«Abartig», kommentiert Livanou.
«Massenmorde sind immer abartig», setzt ihr Patsis entgegen.
«Und Frangoulis, der Leibwächter, war der einzige, der angeschnallt war», doppelt er nach. «Was sagt uns das?»
«Welches Interesse sollten Marangos und Frangoulis gehabt haben, all die Leute umzubringen? Ich kann kein Motiv erkennen!»
«Kopfgeld?»
«Prokopis!»
«Ja, Süsse?»
Gereizt blickt Livanou zu Pavlides hinüber. Ihr Blick scheint zu sagen: Sag etwas!
Aber dieser sitzt nur ruhig da und überlegt. Der Co-Pilot muss austreten. Ein günstiger Zeitpunkt. Marangos, der Pilot, macht einige Auf- und Ab-Bewegungen, dann ein erstes Tauchmanöver. Frangoulis, der Leibwächter, sitzt in der Kabine. Als einziger angeschnallt. Auf dem hintersten Einzelsitz rechts. Als der Co-Pilot auf die Toilette geht, weiss er: jetzt geht’s los. Dann die weiteren Oszillationen und die Spirale. Manöver, die der ehemalige, erfahrene Kampfpilot Oberstleutnant Marangos aus dem Effeff beherrscht. Frangoulis nimmt die Schutzposition auf dem Sitz ein. Oberkörper runter, Arme über dem Hinterkopf verschränken. Die übrigen Passagiere werden überrascht. Sie und alle nicht befestigten Gegenstände wirbeln in der Kabine herum. Klar wird auch Frangoulis vom einen oder anderen Gegenstand oder einem leblosen Körper getroffen. Handelt sich so seine Verletzungen ein. Nach zwei Minuten ist der Spuk dann aber vorbei. Der Leibwächter gibt den Überlebenden noch den Rest …
«Nikos! Sag jetzt nicht, dass dir Zweifel kommen!» fleht ihn Livanou an. «Was Prokopis da erzählt, ist doch vollkommen absurd!»
«Wir haben schon viele absurde Situationen angetroffen, meine Liebe», entgegnet Pavlides. «Und du hast die richtige Frage gestellt: Welches Interesse hätte das Duo Marangos/Frangoulis gehabt, den Vizeminister und die übrigen Personen umzubringen?»
«Christos, was sagst du dazu?», fragt Patsis, an Arambatzis von der Spurensicherung gewandt.
«Nun, wir haben zahlreiche Fingerabdrücke von Frangoulis an diversen Gegenständen in der Kabine festgestellt. An Weinflaschen, Tellern, Taschen, Aktenkoffern …», sagt dieser schulterzuckend, mit entschuldigendem Blick in Livanous Richtung.
«Das hat doch keine Bewandtnis …»
«Unter seinen Fingernägeln haben wir Blut von drei verschiedenen Leichen entdeckt.»
«Das kann ich bestätigen», sagt Jorgos, «von der Flugbegleiterin, von Sotiría und vom Vizeminister.»
«Aber ihr habt doch alle gehört, dass der Pilot ausgesagt hat, Frangoulis habe lebensrettende Sofortmassnahmen eingeleitet. Herzdruckmassage und so», hält Livanou noch immer dagegen.
«Herzdruckmassage kann tödlich sein», meint der Gerichtsmediziner lakonisch.
Eine gespannte Ruhe kehrt ein.
Dann meldet sich Livanou wieder zu Wort. «Nun, ich sehe schon …»
«Bitte nimm jetzt nicht das ominöse Wort in den Mund», unterbricht sie Pavlides. Verschwörungstheorien. Wie er es hasst.
Giftig schaut sie ihn an. «Nein, Herr Pavlides. Ich mach’s nicht. Aber ich gebe dir und allen anderen an diesem Tisch folgendes zu bedenken: Wartet die Auswertungen des Flugdatenschreibers ab. Sie werden eurer ‚déformation proféssionelle’ eine Schranke setzen. Die Blackbox wird mit Sicherheit das Flugverhalten des Flugzeuges klären, und damit auch die Frage, ob der Pilot für die Katastrophe verantwortlich ist. Ob mit Absicht oder nicht. Oder ob die Technik versagt hat.»
«Schön und gut, Mädchen. Da gibt es aber noch etwas zu bedenken», grunzt Patsis hervor. Wie sie es hasst, so genannt zu werden!
«Was?»
«Wer wird die Auswertung des Flugdatenschreibers vornehmen?»
«Na, unsere Leute vom Flugunfall-Büro, wer denn sonst?»
Patsis seufzt. «Penelope, hast du nicht gehört, was der Verteidigungsminister bei der Pressekonferenz gesagt hat? Hast du nicht mitbekommen, dass zwei Spezialisten aus Frankreich eintreffen werden? Hast du nicht vernommen, dass diese Spezialisten von der Firma Dassault, dem Hersteller des Flugzeuges, gestellt werden?»
Verwirrt starrt sie ihn an.
«Glaubst du, die Dassault-Leute werden sagen: ‚Jawohl, unsere Kiste ist Scheisse, sie macht während des Fluges unkontrollierte Hüpfbewegungen und simuliert das Abstürzen’? Nein, Penelope! Sie werden sagen, es war ein Pilotenfehler.»
«Was meine These stützten würde.»
«Mitnichten. Es hilft einzig Dassault. Die ziehen ihren Kopf aus der Schlinge. Sie werden andererseits wohlweislich auch nicht behaupten, der Pilot habe irgendetwas Negatives absichtlich getan. Auf der Strecke bleiben am Ende die dummen Griechen. Vielleicht auch der Pilot. Er wird heute gelobt, morgen verteufelt. Muss vielleicht eine Strafe für Nichtbeherrschen seines Fluggerätes und fahrlässige Tötung absitzen. Degradiert wird er auch noch. Der Leibwächter wiederum kommt ungeschoren davon. Er hat ja Herzdruckmassage geleistet. Die gute Nachricht: Das Kopfgeld wird, wenn der ganze Spuk vorbei ist, zwischen den Beiden geteilt.»
«Zudem bietet sich für Dassault aktuell eine Gelegenheit, mit einer übergeordneten griechischen Amtsstelle konstruktiv zusammenzuarbeiten», sinniert Pavlides. «Wer weiss, zu welchen Vorteilen ihr dies verhelfen könnte?»
«Siehst du, Mädchen? Dein lieber Gatte hat’s gerafft», brummt Patsis süffisant. «Er denkt weiter. Er sucht auch hinter den Kulissen nach Erklärungen. Und noch was aus meinem reichen Erfahrungsschatz: Eine Hand wäscht die andere, und am Schluss hängt nicht der Schuldige, sondern derjenige, der sich am wenigsten zu wehren weiss. Aber immerhin: Sollte die These stimmen, dass Marangos und Frangoulis unter einer Decke stecken, kommt der Pilot mit fahrlässiger Tötung glimpflich davon. Er kann noch vom Kopfgeld profitieren.»
«Bin ich denn hier die Einzige, die noch logisch denken kann?» presst Livanou hervor.
Betretenes Schweigen.
Patsis schulterzuckend: «Nein, Mädchen. Ich würde es mal so formulieren: Du bist die Einzige, die in eindimensionalen Denkmustern verharrt: Unfall gleich Pilotenfehler oder technischer Defekt.»
Pavlides räuspert sich: «Es reicht nun, Prokopis.»
«Schon gut, schon gut. Euch beiden zuliebe werde ich fortan schweigen.»
«Darauf hättest du ruhig früher kommen können», blafft Livanou.
«Lieber spät, als nie. Ich halte meine Klappe, und du öffnest dafür endlich deinen Geist, Mädchen.»
«Malákas!»
«Das bitte nicht ins Protokoll.»
«Schluss jetzt!» fährt Pavlides schliesslich zwischen die beiden. «Ein bisschen mehr Respekt.»
Er lehnt sich zurück. Schweigt. Reibt sich mit der rechten Hand am Kinn. Beisst sich sanft auf die Oberlippe. Wartet. Die Augen der Sitzungsteilnehmer sind auf ihn gerichtet. Schliesslich fängt er leise an zu sprechen. Leise zwar, aber im Befehlsstakkato.
«Christos, du fährst nach Athen, um die Arbeiten am Flugdatenschreiber und am Stimmenaufzeichnungsgerät zu überwachen. Gleich morgen. Nimm einen deiner Informatik-Cracks mit. Prokopis, du knöpfst dir nochmals den Piloten vor. Gemeinsam mit Penelope. Quetscht ihn aus, besucht ihn Zuhause. Macht euch ein Bild von seiner Familie, seinen Verwandten, seinen Freunden. Und vernehmt Frangoulis. Am besten dasselbe Prozedere wie beim Piloten.»
«Wird nicht einfach sein, mit Frangoulis zu sprechen», wirft der Gerichtsmediziner ein. «Ihm wurde eine intermaxilläre Fixation verpasst.»
«Eine was?»
«Eine Kiefersperre. Dient zur Ruhigstellung bei Frakturen. Der Unterkiefer wird an den Oberkiefer befestigt. Da liegt Sprechen nicht mehr drin. Die nächsten paar Wochen wird er sogar seine Nahrung per Strohhalm zu sich nehmen müssen.»
Pavlides zieht die Augenbraue hoch. An Patsis und Livanou gewandt: «Dann kommuniziert ihr halt schriftlich mit ihm. Noch Fragen?»
«Also, gerade glücklich machst du mich nicht, dass ich mit diesem Besserwisser zusammenarbeiten muss. Aber, was soll’s. Vernunft verlangt Opfer. Es ist vielleicht sogar gut, wenn ich bei den Befragungen mit dabei bin, dann werden diese nicht zu Spiessrutenläufen für die Befragten.»
Sie scheint sich wieder etwas beruhigt zu haben. Das merkt man an ihrem Tonfall. Nicht, dass sie von Patsis’ These überzeugt wäre, aber sie wird sich die nochmals durch den Kopf gehen lassen. Die beiden sind zwar grundverschieden, Patsis und Livanou. Aber zusammenarbeiten können sie. Das haben sie in den letzten drei Jahren mehrmals unter Beweis gestellt. Deswegen setzt sie Pavlides des Öfteren als Team ein.
«Eine Frage habe ich noch», sagt Patsis. «Was tust du?»
«Ich brauche mehr Informationen zum geplatzten Besuch des Vizeministers in Moskau. Zudem werde ich mich um die Personaldossiers der Opfer kümmern. Die sind drei Tage im Verzug. Ich werde sie persönlich holen.»