Читать книгу MAGNETSTURM - T. H. Isaak - Страница 9
ОглавлениеBefragung
Kurz nach acht Uhr morgens sitzen Traianos, Pavlides und Livanou am Frühstückstisch im Hotel Nefeli, unweit des Universitätskrankenhauses an der Verbindungsstrasse zwischen Komotini und Alexandroupolis. Das Hotel ist ein komfortabel eingerichtetes Haus mit bequemen Betten, auf die sie sich um drei Uhr morgens ausgelaugt gestürzt haben. Staatsanwalt Traianos wollte nach dem nächtlichen Besuch der aufgebahrten Leichen und der kurzen Stippvisite bei den Verletzten nicht mehr in die Stadt hineinfahren, sondern sich in der Nähe ein Zimmer suchen. Um frühmorgens gleich wieder die Arbeit aufnehmen zu können. Eine erste Befragung des Piloten steht an. Um zehn Uhr wird Verteidigungsminister Aris Asimoglou aus Athen erwartet. Und um zwölf Uhr ist eine Pressekonferenz anberaumt, zu der zahlreiche Medienvertreter aus dem In- und Ausland erwartet werden. Nicht hier, sondern im luxuriösen ‚Astir Egnatia’, mitten in der Stadt. Für Asimoglou muss das Ambiente repräsentativ sein.
Die Stimmung ist gedrückt, was einerseits am Schlafmanko liegt, andererseits an den tragischen Umständen, die es aufzuklären gilt. Livanou hat sich am Frühstücksbuffet bedient und setzt sich neben Pavlides. Den Blutzucker hat sie sich schon im Zimmer gemessen und zwölf Einheiten Insulin gespritzt. Das Frühstück ist ihre wichtigste Mahlzeit. Man sieht’s: Zwei Croissants, Butter, Orangen- und Sauerkirschen-marmelade, griechisches Joghurt mit Fruchtsalat, Walnüssen und Honig. Dagegen fällt Pavlides’ Frühstück mager aus: Zwei trockene Koulourákia und ein starker Kaffee, métrios. Dazu eine Sourotí. Anregendes, erdig-metallisch schmeckendes Mineralwasser.
Staatsanwalt Traianos schaut verwundert auf Livanous Teller.
«Diabetes», meint diese beiläufig und nimmt einen Schluck Kaffee. Dieser allerdings ist ungesüsst. So hat sie ihn am liebsten. «Typ 1. Insulinpflichtig. Habe schon gespritzt.»
«Oh», meint Staatsanwalt Traianos, «ich bin auch Diabetiker. Alterszucker, allerdings. Ein Erbstück. Im Vergleich zum Aufwand, den Sie betreiben müssen, ist meine Zuckerkrankheit jedoch kaum der Rede wert. Ich schlucke für meinen Zucker zwei Tabletten pro Tag, und damit hat es sich. Wie viele Male spritzen Sie Insulin, wenn ich das fragen darf?»
«Vier Mal. Aber es ist nur halb so schlimm. Man gewöhnt sich daran.»
«Ich bewundere Sie. Mit welcher Leichtigkeit Sie Ihr Los tragen. Mein Arzt hat mir gesagt, dass jeder Altersdiabetiker im Schnitt vierzehn Jahre nach der Diagnosestellung spritzen muss. Anfangs graute mir vor dieser Vorstellung. Aber ich bin inzwischen so alt, dass ich nunmehr glaube, dass ich das Zeitige segnen werde, noch bevor es so weit kommt.»
«Womit wir beim Thema Tod angelangt sind», mischt sich Pavlides ein, im Bemühen das Gespräch in andere Bahnen zu lenken. Er weiss nur zu gut, dass Livanou es leid ist, dauernd über ihre Krankheit sprechen zu müssen. Besonders zu Tisch. Sie lebt mit ihrem Diabetes und fertig. Zudem gilt es jetzt einige wichtige Absprachen zu treffen. «Werden Sie bei der Autopsie von Kranidakis dabei sein?»
«Nein. Ich hoffe Sie verstehen, dass ich mir das nicht antun kann. Aber natürlich haben Sie recht. Jemand von meinem Team wird dabei sein müssen, und zwar ist das Spiropoulos, mein Adjutant. Ein tüchtiger, junger Untersuchungsrichter. Er soll Ihrem Herrn Patsis zur Seite stehen. Das Programm ist gedrängt. Wir beide müssen Asimoglou zu Verfügung stehen.» Schluck Kaffee. «Wenn er um zehn Uhr am Flughafen ankommt, wird er um halb elf im Krankenhaus sein. Dann will er natürlich die Hand des Piloten schütteln und seine mitgebrachten Pressevertreter diese Tat fotografieren lassen. Erfahrungsgemäss braucht es etwas Zeit, bis er mit einem Bild soweit zufrieden ist, dass es veröffentlicht werden darf.» Traianos nimmt einen Löffel Müsli. «Sie schütteln jetzt vielleicht den Kopf, Herr Pavlides. Aber glauben Sie mir: Ich kenne den Herrn Verteidigungsminister. Sie werden schon sehen.»
Das Krankenhaus ist auf dem neuesten Stand. Die modernste Universitätsklinik im ganzen Land. Chirurgischorthopädische Klinik. Intermediate-Care-Abteilung. Ein Zwischending. Nicht ganz Intensivstation, nicht ganz Bettenstation. Maximal eine Stunde, meint der zuständige Oberarzt, als sich Pavlides und Traianos mit Gefolge erkundigen, ob eine erste Befragung des Piloten möglich sei. Er steht unter Schock und hat starke Beruhigungsmittel bekommen. Den Leibwächter werden sie heute nicht befragen können. Er wird gerade operiert. Unterschenkelfraktur und irgendwelche Gesichtsschädelfrakturen. Man hat sich für ein gleichzeitiges Vorgehen entschieden, der Kieferchirurg und der Orthopäde.
«Guten Morgen, Herr Marangos, können Sie sich an mich erinnern?» fragt Traianos und beugt sich, in einen weissen Einwegkittel gehüllt, über das Bett des Piloten.
Dieser sieht alles andere als gut aus. Kleine Pupillen, hohler Blick, wächserne Hautfarbe, ungekämmte Haare, verkrusteter Speichel am Mundwinkel. Aber immerhin keine Spur von Anspannung oder Verkrampfung. Ruhig liegt er da. Doch wohl kaum friedlich, denn in seinem Gehirn scheint es zu rattern. Ganz der pflichtbewusste Kapitän. Keine Schwäche zeigen. Er will die Frage des Staatsanwaltes beantworten, aber er kann es einfach nicht. Nein, zu diesem Gesicht hat er keine Assoziationen. Wie denn auch? Schon dutzende Köpfe haben sich im Verlaufe der letzten zehn Stunden über ihn gebeugt. Ihm Fragen gestellt. Tut’s hier weh? Oder da? Schauen Sie mal auf die Decke, ich prüfe jetzt Ihren Pupillenreflex. Ja, so ist’s gut. Versuchen Sie, etwas zu schlafen. Hier, nehmen Sie diese Tablette.
«Nein? Keine Erinnerung? Ich bin Staatsanwalt Miltiades Traianos und der Herr neben mir heisst Nikos Pavlides. Er ist Direktor der Kriminalpolizei von Thessaloniki. Wir wollen Ihnen einige Fragen stellen. Fühlen Sie sich im Stande, diese zu beantworten?»
Das macht er ganz geschickt, der Staatsanwalt. Natürlich ist jeder Militärpilot davon überzeugt, jederzeit imstande zu sein, eine Aufgabe, die von ihm verlangt wird, zu lösen. Einen Befehl auszuführen. Wie erwartet nickt Marangos.
«Können Sie uns erzählen, was genau gestern passiert ist? Und wieso Sie nun hier liegen?»
Eine erste offene Frage, die darauf abzielt, die Orientierung des Patienten zu überprüfen. Oder des Zeugen. Je nach Standpunkt. Falls Marangos nun irgendetwas Unzusammenhängendes von sich geben sollte ohne jeglichen Bezug zur fraglichen Situation, kann man die Übung gleich abbrechen. Und warten, bis die Wirkung der Medikamente nachgelassen hat. In der Hoffnung, es seien nur die Pillen, die sein Gedächtnis getrübt haben.
«Wir waren auf dem Flug nach Moskau», fängt der Pilot an zu erzählen. Leise, bedächtig, aber dennoch geistig präsent, wie es scheint. Die Ereignisse tauchen allmählich vor seinem geistigen Auge auf.
«Der Autopilot war eingeschaltet. Flughöhe dreiunddreissig tausend Fuss. Das sind etwa elftausend Meter. Es war bereits dunkel. Vor der bulgarischen Schwarzmeerküste. Zirka 20 Meilen östlich von Varna.»
«Gut, gut, erzählen Sie weiter!» Traianos blickt, seine freudige Anspannung kaum verhüllend, zu Pavlides auf, der neben ihm steht. Kurze Sätze zwar, aber im Zusammenhang mit der Sache stehend.
Marangos öffnet und schliesst ein paar Male schmatzend den Mund. Livanou bemerkt dies und tritt näher an ihn heran. Sie nimmt die Schnabeltasse zur Hand, die auf dem Nachttisch steht, und führt sie an seinen Mund. Er richtet sich langsam auf.
«Ihr Mund ist trocken. Hier, bitte, trinken Sie.»
Der Pilot nimmt ein paar kleine Schlucke, legt sich vorsichtig wieder hin und nickt dankend. Dann spricht er weiter.
«Plötzlich Totalausfall der Instrumente. Komplette Dunkelheit. Die Maschine bockt. Wie ein Bulle beim Rodeo. Pitch Oscillations. Ein denkbar ungünstiger Moment für solche Kapriolen. Mein Copilot war soeben aufgestanden, um auszutreten.» Konsterniert schüttelt er den Kopf und seufzt. «Dann plötzlich: Die Elektronik setzt wieder ein. Ich weiss auch nicht warum und wie. Plötzlich ist alles wieder da. Ich erkundige mich über die Bordfunkanlage, ob in der Kabine alles in Ordnung sei, erhalte aber keine Antwort. Ich will aufstehen, um nach dem Rechten zu schauen, als erneut alles dunkel wird. Wie bei einem Blitzschlag! Erneut Totalausfall …»
«Blitzschlag?», hakt Pavlides nach, «wurde Ihre Maschine denn von einem Blitz getroffen?»
«Nein», antwortet Marangos, «woher denn? Das Wetter war perfekt. Einige Quellwolken, aber keine Gewitterfront weit und breit.»
«Und dann?» will Traianos wissen.
«Spirale. Zwischendurch ein elektrisches Aufzucken einiger Instrumente. Und wieder tot. Schreie in der Kabine. Poltern. Die Maschine geht in einen Parabelflug über. G-Kräfte, Ziehen. Meine Arme und Beine waren bleischwer. Ich hatte Mühe meinen Kopf gerade zu halten. Drückte wie ein Besessener meinen Hals zusammen. Nahm dazu meinen Kopf zwischen die Schultern. Versuchte die Maschine zu stabilisieren. Vielleicht war ich zwischendurch auch mal bewusstlos. Ich erinnere mich nicht mehr. Jedenfalls kam mir die Zeit, in der ich darum kämpfte, das Flugzeug zu stabilisieren, wie eine Ewigkeit vor.»
Pause. Nachdenken.
«Dann kam der Moment, wo ich dachte, es sei aus. Alle Instrumente blieben stumm. Was auch immer ich an Notfallprozeduren vollführte, sie blieben alle wirkungslos. Es war schrecklich. Nicht aufhören, Sakis, sagte ich mir. Nicht aufhören! Denk an deine Familie! Tu etwas! Und plötzlich, als ob mich der Herr erhört hätte, flackerte es auf der Konsole und die Elektronik war wieder da. Die Turbinen auch. Schub! Sie spüren das, wie beim Anfahren mit dem Auto. Auch die Hydraulik. Alles wieder da! Ein Wunder! Mein Blick fiel auf das Altimeter, die vertikale Geschwindigkeit und den künstlichen Horizont. Und da wusste ich sofort, was ich zu tun hatte …»
«Sie haben wahrlich eine bravouröse Handlung vollführt, Herr Marangos», sagt Traianos und tätschelt, emotional bewegt von diesen Schilderungen, den Vorderarm des Piloten. Dieser schweigt jetzt. Atmet langsam.
«Wissen Sie, wieso das Flugzeug so verrückt gespielt hat?» will Pavlides wissen.
«Keinen blassen Schimmer. So etwas ist mir in meiner ganzen fliegerischen Karriere noch nie passiert. Nicht mit der Phantom, nicht mit der Mirage und auch nicht mit der Falcon.»
Ein erfahrener Pilot offenbar, der mit fast allen Modellen der Luftwaffe geflogen zu sein scheint.
«Und dann? Was geschah danach?»
«Etwa zweitausend Fuss über dem Wasser konnte ich die Kiste abfangen.» Er schüttelt abermals den Kopf. Greift selbständig nach dem Becher. Nimmt noch einen Schluck.
«Zuerst musste ich mich orientieren. Ich bemerkte, dass ich einen Kurs nach Süd-Südost flog. Ein paar Sekunden später ging dann plötzlich die Tür zur Kabine auf und der Sicherheitsoffizier schaute ins Cockpit herein. Sie wissen schon, Kranidakis’ Leibwächter. Blass und mit schmerzverzerrtem Gesicht. ‚Flieg nach Hause’, sagte er, flieg einfach nach Hause!’ Dann schloss er die Tür.»
Betroffenheit.
«Und das taten Sie dann auch.»
Achselzucken.
«Herr Marangos. Mich interessiert, wieso Sie nicht einfach auf dem nächstgelegenen Flugplatz gelandet sind?» Diese Frage beschäftigt Pavlides schon seit er das Innere des havarierten Flugzeugs erblickt hat.
«Ich weiss es nicht … Ich wollte gerade die Mayday-Meldung absetzen, als mir der Sicherheitsoffizier sagte, ich solle nach Hause fliegen. Sein Anblick … Also gab ich eine Pan-Pan-Meldung durch.»
«Pan-Pan?» fragt Pavlides.
«Konkrete, aber nicht akute Gefahr für Maschine und Passagiere. Damit fordert man im Luftverkehr eine bevorzugte Behandlung ein.»
«Ich verstehe. Und danach?»
«Ich stieg auf etwa viertausend Fuss und blieb auf dieser Höhe, um relativ schnell eine Notlandung einleiten zu können. Nahm Kurs zurück auf Griechenland. Ich hatte keine Ahnung, was in der Kabine vor sich ging. Dieser Mann sagte mir, ich solle nach Hause fliegen. Und genau das tat ich. In diesem Moment dachte ich, Krankdakis wünsche es so. Er habe seinen Leibwächter beauftragt, mir zu sagen, was zu tun sei. Nach einer Viertelstunde kam der Leibwächter erneut ins Cockpit herein. Er sah komplett fertig aus. Atmete schwer. Ich glaube, er hatte versucht jemanden wiederzubeleben. ‚Er ist tot’, sagte er nur, ‚tot, tot, tot.’ Erst jetzt begriff ich … Wissen Sie, mit der Technik fertig zu werden ist eines. Aber wenn Menschen zu Schaden kommen …»
Marangos macht eine Pause und starrt an die Decke. Totenstille im Krankenzimmer. Dann fährt er fort. Angestrengt.
Eine unglaubliche Konzentrationsleistung. «Wir waren gerade über Svilengrad, an der Grenze zum griechischen Luftraum. Da entschloss ich mich, Mayday abzusetzen und in Alexandroupolis notzulanden. Vielleicht zu spät …»
Schweigen. Pavlides richtet seinen Blick auf den Staatsanwalt, in dessen Gesichtszügen keine Regung festzustellen ist. Was mag jetzt wohl in seinem Kopf vor sich gehen? Überlegt er sich gerade, ob der Schaden an Leib und Leben geringer ausgefallen wäre, wenn Marangos eben doch auf einem bulgarischen Flugplatz notgelandet wäre?
«Das Flugzeug wird zum gegenwärtigen Zeitpunkt von den Spezialisten des Büros für Flugunfalluntersuchungen einer eingehenden Überprüfung unterzogen», meint schliesslich Traianos milde. «Fliegerisch, davon bin ich überzeugt, haben Sie alles getan, um die Maschine wieder heil auf den Boden zurück zu bringen.»
Marangos richtet sich wieder auf, um einen weiteren Schluck von seinem Becher zu nehmen.
«Was mich interessiert sind die Namen der Passagiere, Herr Marangos. Vom Verteidigungsministerium haben wir noch keine Angaben bekommen. Gibt es eine Passagierliste?» fragt Pavlides den Piloten.
«Ja, die gibt es. Elli, die Flugbegleiterin, hat sie. Sie ist für die Passagiere zuständig. Ich kenne die Leute in der Regel nicht. Ausser natürlich den Delegationsleiter. Mein Auftrag ist es, den jeweiligen Amtsträger von A nach B zu befördern. Und wieder zurück. Dessen Entourage wechselt ständig. Je nach Mission werden verschiedene Spezialisten, Ressortleiter oder Diplomaten mitgenommen. Fragen Sie Elli.»
Pavlides räuspert sich. «Das können wir leider nicht mehr. Die Flugbegleiterin … Elli ist tot.»
Marangos’ Gesicht verkrampft sich. Ein paar Atemzüge später, offene, flehende Augen. «Und Spiros, mein erster Offizier?»
Pavlides schüttelt den Kopf. «Tut mir leid, Herr Marangos. Ihr Co-Pilot hat den Zwischenfall ebenfalls nicht überlebt.»
Man kann davon ausgehen, dass Marangos einen inneren Kampf mit seinem Gewissen führt. Plötzlich taucht die Schuldfrage auf. Wie aus dem Nichts. Da meint man, man habe alles getan, um den Schaden möglichst gering zu halten und auf einmal realisiert man, dass es einem doch irgendwie nicht gelungen war.
«Bis auf Sie und den Sicherheitsbeamten des Vizeministers sind leider alle beim Zwischenfall ums Leben gekommen. Es tut mir leid.»
Apathisches Nicken von Marangos.
«Noch eine Frage», mischt sich Traianos wieder ins Gespräch ein. «Wissen Sie, wozu der Vizeaussenminister nach Moskau flog?»
Kopfschütteln. Nein, darüber würden Piloten nicht unterrichtet werden. Wie gesagt, ihre Aufgabe bestünde lediglich im Transport der Amtsträger. Und sonst gar nichts. Verbitterung in seinen Gesichtszügen.