Читать книгу Secrets of Amarak (2) - T. Spexx - Страница 8

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Mind the gap«, warnte die elektronische Stimme. Aber Rebecca hatte auch gar nicht vor, mit dem Fuß in die Lücke zwischen Bahnsteig und Metrowaggon zu rutschen. Außerdem hatte sie den Warnhinweis, der in fast allen Londoner U-Bahn-Stationen bei jeder Zugeinfahrt gegeben wurde, schon so oft gehört, dass sie ihn gar nicht mehr richtig wahrnahm. Im Moment galt ihre gesamte Aufmerksamkeit der Rolltreppe am Ende des Bahnsteigs, wo ihr Bruder Jonathan auftauchen sollte – jedenfalls hatte er das versprochen, als er noch mal schnell in den Kiosk gesprintet war, um ein paar Chewing Gums abzugreifen. Rebecca war schon mal vorausgegangen und nun stand sie hier, am Bahnsteig der Station Canada Water, und wartete.

»Mist«, fluchte sie leise. Wieso musste Joe auch ausgerechnet jetzt sein blödes Kaugummi kaufen. Hätte er doch am Flughafen machen können. Aber nein, es musste ja unbedingt hier sein. Nur Canada Water hat Frutti Di Mare, hatte er mit hochgezogenen Augenbrauen behauptet. Und was anderes kau ich nicht.

Das war natürlich Quatsch. Jeder Kiosk in London führte diese Sorte. Der Grund, wieso Joe die Kaugummis unbedingt hier kaufen wollte, hieß Carol, hatte lange blonde Haare und war die Tochter der Kioskbesitzerin. Allerdings war sie zwei Jahre älter als Joe und würde sich allein schon deshalb niemals mit einem Dreizehnjährigen einlassen. Aber das schien Joe nicht zu interessieren. Seit er sie gesehen hatte, war sein Kaugummiverbrauch sprunghaft angestiegen. Manchmal ging er sogar mehrmals täglich in den Kiosk.

»Stand clear of the closing doors«, verlangte die elektronische Stimme.


Rebecca tat das genaue Gegenteil und setzte einen Fuß in den weißblauen Wagen der East London Line. In wenigen Sekunden würden sich die orangefarbenen Türen schließen und die Tube würde abfahren, ob ihr Bruder drin war oder nicht. Wo blieb er nur so lange?

Plötzlich tauchte Joe auf. Er schlenderte die Treppe runter, als hätte er alle Zeit der Welt.

»Joe!«, rief Rebecca, so laut sie konnte. Ihr Bruder hob erschrocken den Kopf. Rebecca winkte hektisch, gleichzeitig kündigte das monotone Piepen neben ihr die Schließung der Türen an. Erst jetzt schien Joe zu begreifen, was da vor sich ging. Wie von der Tarantel gestochen sprintete er los und sprang in den Wagen – gerade noch rechtzeitig, bevor sich die Türen schlossen und der Zug abfuhr.

»Was machst du denn?«, schimpfte Rebecca, als Joe sich neben ihr auf einen Sitz fallen ließen. »Wegen dir kommen wir noch zu spät zum Flughafen. Was soll Alexander denken, wenn seine beiden besten Freunde nicht da sind, wenn er landet?«

»Hab’s doch geschafft«, nuschelte Joe entschuldigend und schob sich einen Streifen Frutti in den Mund. »Außerdem dauert es ’ne ganze Weile, bis Alex und Einstein ausgestiegen sind und ihr Gepäck geholt haben.«

»Hoffentlich«, murrte Rebecca und sah zum Fenster hinaus. Seit ihr Bruder für diese Blondine schwärmte, war er manchmal total neben der Spur.

»Wann landet der Flieger aus Äthiopien denn?«, fragte Joe. Rebecca warf einen Blick auf ihre Uhr. »In einer halben Stunde.«

Joe lehnte sich zurück. »Dann haben wir noch massig Zeit. Die Zugfahrt dauert ja nur zwanzig Minuten.«

»Wenn nichts Unvorhergesehenes dazwischenkommt«, sagte Rebecca und zeigte auf den Bildschirm, der vor ihnen von der Decke herabhing. Helikopteraufnahmen zeigten das in der Themse liegende London Eye, während ein Reporter das Unglück kommentierte.

»Ein ganz schönes Riesenteil«, sagte Joe. »Und was für ein Hammer, dass diese drei Typen das überlebt haben.«

Auf dem Bildschirm waren drei Jugendliche zu sehen, die nass und in Decken gehüllt von Feuerwehrleuten zu einem Rettungswagen geführt wurden.

»Was haben die da bloß gemacht?«, fragte sich Joe.

»Dad meinte, die wollten aufs Eye klettern und sich gegenseitig fotografieren«, sagte Rebecca.

Joe schüttelte den Kopf. »Wie bekloppt kann man denn sein?«

»Bringt aber ’ne Menge Klicks.«

»Was nützen dir Klicks, wenn du tot bist?« Gedankenversunken sah Joe aus dem Fenster. »Aber komisch ist das schon.«

»Was ist komisch?«, fragte Rebecca.

»Na ja, wenn nur das Riesenrad umgekippt wäre, würde ich ja noch sagen: Pech gehabt! So was kann passieren. Aber da sind ja noch die ganzen anderen Vorfälle: die South Bank University, Blackfriars Bridge, die British Library.«

Joe hatte recht: In den vergangenen Wochen war es immer wieder zu spektakulären Einstürzen großer Bauten oder Teilen davon gekommen. Offiziell sprachen die Behörden von Baumängeln. Aber hinter vorgehaltener Hand war die Rede von gezielten Attacken, weshalb die Polizeipräsenz in London massiv ausgeweitet worden war.

»Du meinst, das London Eye wurde absichtlich zum Einsturz gebracht?«, fragte Rebecca.

Joe zuckte mit den Schultern. »Ehrlich gesagt kann ich mir kaum vorstellen, wie so was gehen soll, außer mit sehr viel Sprengstoff. Und gesprengt wurde es ja offenbar nicht. In den Nachrichten haben sie von einer defekten Aufhängung gesprochen.«

»Wenn das stimmt, ist London ziemlich altersschwach«, sagte Rebecca und fügte nachdenklich hinzu: »Aber wenn tatsächlich irgendjemand dahintersteckt – was hat er dann vor?«

»Das ist die große Frage«, sagte Joe. »Falls es überhaupt einen Zusammenhang gibt.« Er stand auf und ging zur Tür.

»Wo willst du hin?«, fragte Rebecca überrascht.

»Umsteigen«, sagte Joe. »Oder willst du bis nach Stratford hoch?«

An der Station Canning Town stiegen sie in die Docklands Light Railway Richtung Woolwich Arsenal und erreichten nach drei Stationen ihr Ziel: den London City Airport, einen kleinen privaten Flughafen mitten im Hafenbecken von London Borough of Newham. Die Start- und Landebahn war nicht besonders lang, weshalb nur Flugzeuge bis zu einer bestimmten Größe zugelassen waren. Dafür lag der Flughafen so nah an der Londoner Innenstadt wie kein anderer – und damit auch nicht weit von Howard’s End entfernt, wo sowohl Joe und Rebecca als auch Alexander und Einstein wohnten.

Erst vor wenigen Wochen waren die beiden Geschwister mit ihren Eltern von Bristol nach London gezogen und hatten in Howard’s End Alexander kennengelernt, der gemeinsam mit seinem Butler Einar Stein, der von allen nur Einstein genannt wurde, in einem ziemlich großen und ziemlich alten Haus am Ende der Straße wohnte. Fast sofort waren sie in ein aufregendes Abenteuer geraten, bei dem Alexander herausfand, wieso ihn seine Eltern ein Jahr zuvor ohne irgendeine Erklärung verlassen hatten. Ein spanischer Eroberer hatte es auf eine antike Flasche abgesehen und war bereit, über Leichen zu gehen, um sie zu bekommen. Und genau diese Flasche befand sich im Besitz von Alexanders Eltern. Nachdem der Spanier bei einem Tunneleinsturz unter gewaltigen Erdmassen begraben worden war, machten sich Alexander und Einstein auf den Weg, um die Eltern des Jungen zu suchen und ihnen zu sagen, dass die Gefahr vorüber war und sie nach Amarak zurückkehren konnten, um wieder als richtige Familie zu leben.

Zweimal hatte sich Alexander von unterwegs gemeldet: einmal aus Boston und einmal aus Melbourne. Dann hatte er fast fünf Wochen nichts von sich hören lassen – bis gestern, als Joe und Rebecca folgende SMS von ihm erhalten hatten:

Komme morgen aus AA zurück. Habe interessante Neuigkeiten. Holt mich bitte um 16 Uhr LCA ab. Alex

LCA stand für London City Airport. Und als Joe und Rebecca aus der Metro stiegen und zum Terminal hinübergingen, war es kurz vor vier. Von Westen her sahen sie den A318 heranschweben und auf der Betonpiste landen. Das Flugzeug wendete und rollte langsam auf das Terminal zu. Joe und Rebecca gingen zum Ausgangsbereich und warteten. Ein paar Minuten später strömten die Fluggäste heraus.

Erst jetzt spürten sie die Aufregung und Vorfreude, den Freund wiederzusehen. Umso größer war die Enttäuschung, als er nicht kam.

»War das die falsche Maschine?«, fragte Rebecca, nachdem der letzte Passagier die Tür passiert hatte. Joe hob den Blick zur elektronischen Anzeigetafel.

»Das war die 16-Uhr-Maschine aus Addis Abadi«, las er die Angaben. »Es gibt sonst keinen Flug aus einer Stadt, die mit AA beginnt.« Nachdenklich senkte er den Kopf. »Vielleicht hat sich Alexander im Tag geirrt«, überlegte er.

»Ich ruf ihn an«, sagte Rebecca und zog ihr Smartphone aus der Tasche. In diesem Augenblick öffnete sich die Tür ein weiteres Mal und ein Mann kam heraus, groß und dürr und in einem unmodischen Anzug steckend. Er schob einen Rollwagen mit Gepäck vor sich her. Sein Gesicht wirkte gehetzt.

»Einstein!«, riefen Joe und Rebecca wie aus einem Mund.

»Gott sei Dank sind Sie da«, sagte der Mann und kam hinter der Absperrung hervor.

»Wieso sollten wir nicht da sein?«, fragte Rebecca. »Sie wissen doch bestimmt, dass Alex uns informiert hat.«

Einstein nickte »Natürlich, ich dachte nur … ich wusste nicht …« Er rang nach Worten.

»Was ist passiert?«, fragte Joe besorgt. »Wo ist Alexander?«

»Er ist weg«, erwiderte der alte Mann mit ernster Miene.

»Weg?«, fragte Rebecca. »Was soll das heißen?«

»Es war alles normal«, berichtete Einstein. »Das Flugzeug landete, wir stiegen aus, und während ich das Gepäck holte, wollte der junge Herr kurz auf die Toilette. Es dauerte ein paar Minuten, bis unsere Koffer kamen. Als ich sie auf den Rollwagen gestellt hatte, drehte ich mich um und suchte nach dem jungen Herrn. Aber er war nirgends zu sehen. Also schob ich den Wagen zu den Toiletten. Doch als ich dort nach Herrn Alexander rief, bekam ich keine Antwort. Es blieb absolut still. Es war niemand drin.«

»Haben Sie nachgesehen?«, fragte Joe. »In den Kabinen?«

»Wenn Alexander in einer Kabine gewesen wäre, hätte er sich doch gemeldet, als Einstein ihn gerufen hat«, sagte Rebecca.

»Vielleicht konnte er nicht«, sagte Joe nachdenklich.

»Wieso nicht?«, fragte Einstein.

»Aus demselben Grund, aus dem er nicht wieder rausgekommen ist«, erwiderte Joe. »Ich finde, wir sollten nachsehen. Sicher ist sicher.«

Es war nicht einfach, das Personal des Flughafens davon zu überzeugen, sie in den Sicherheitsbereich zu lassen. Erst nachdem Einstein den Beamten die Situation erklärt und ihnen seinen Pass und das Flugticket gezeigt hatte, waren sie bereit, ihn und Joe zur Toilette zu bringen – in Begleitung! Rebecca sollte währenddessen mit dem Gepäck bei einem anderen Beamten warten.

Als Joe die Tür öffnete, fuhr ihm ein eisiger Wind ins Gesicht.

»Dann mal los, Junge, wir haben nicht den ganzen Tag Zeit«, trieb ihn der Sicherheitsbeamte an.

Joe betrat den Toilettenraum. »Alexander?«, fragte er und lauschte. Keine Antwort. »Hey, Alex, ich bin’s, Joe«, rief er lauter. »Falls du dich versteckt hast, kannst du jetzt rauskommen.« Wieder lauschte er, wieder kam keine Reaktion.

Joe ging zur ersten Kabinentür und drückte sie mit der Hand auf.


»Leer«, sagte er und öffnete die nächste. Auch hier war niemand. Dafür war es kalt in der Toilette. Sehr kalt. Joe fröstelte. Er zog den Reißverschluss seiner Jacke nach oben. Dann öffnete er die dritte Kabinentür. Leer. Joe wollte die Tür schon wieder schließen, als er etwas auf dem Boden liegen sah.

»Was ist das denn?«, murmelte er und ging in die Knie. Da lag eine kleine glitzernde Scherbe am Boden. Sie hatte die Größe eines Fingernagels und war sehr hart.

Hart und kalt.

Plötzlich hörte er ein Geräusch, als würde jemand mit nassen Füßen über den gekachelten Boden tapsen. Es kam aus der Nachbarkabine. Joe richtete sich auf, verließ die Toilette und legte seine Hand an die glatte Oberfläche der Nachbartür.


»Was ist da?«, fragte der Sicherheitsbeamte.

»Ich weiß nicht«, sagte Joe. Sein Herz schlug schneller.

»Warum zögerst du?«, wollte der Sicherheitsbeamte wissen. »Stimmt was nicht?«

Aber Joe antwortete nicht. Seine Muskeln waren angespannt, sein Blick nach vorn gerichtet. Er hielt den Atem an und … stieß die Tür auf.

Ein graues Etwas flatterte hoch und Joe ins Gesicht. Mit den Armen schlagend wehrte er es ab.

»Herr Jonathan!«, rief Einstein und rannte gemeinsam mit dem Sicherheitsbeamten zu ihm.

»War bloß ’ne Ente«, sagte Joe und dann sah er auch, woher sie – gemeinsam mit der Kälte – gekommen war: In der hinteren Kabinenwand klaffte ein mannshohes Loch, das mit großer Kraft in die Toilettenrückseite gerissen worden sein musste. Direkt dahinter plätscherte das dunkle Wasser des Hafenbeckens.

Secrets of Amarak (2)

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