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Kapitel 1 – Mama Rieke

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Marieke, 26. Februar

„Felix, nicht schon wieder!“ Schlaftrunken versucht Marieke, den kleinen Körper von sich wegzuschieben. Doch Felix bewegt sich keinen Millimeter, sondern gibt nur ein unwilliges „Mhmm!“ von sich. Wenn sie ihn jetzt erneut anschubst oder anspricht, ja, auch nur eine falsche Bewegung macht, wird er aufwachen. Er wird aufwachen und anfangen zu schluchzen, bis Annika verschlafen und blass aus ihrem Schlafzimmer getapst kommt und ihn zu sich hinüberträgt. Dann wird Marieke wach liegen, auf die Geräusche aus dem Nebenzimmer lauschen und sich über sich selbst ärgern, weil sie Dirk und Annika nicht einmal diesen kleinen Gefallen tun konnte. Nein, diesmal nicht, beschließt sie. Diesmal soll Annika nicht extra aufstehen. Marieke hält den Atem an. Eine Weile bleibt sie regungslos liegen und lauscht auf Felix’ Atemzüge, bis sie regelmäßiger werden. Dann legt sie behutsam die Hand auf seinen Kopf und streicht ihm über den weichen Haarschopf.

„Mhmm.“ Sein Brummen klingt freundlicher und endet in einem zufriedenen Seufzer, als er die kurzen Ärmchen um ihren Hals schlingt und sich behaglich an sie schmiegt. Ein kurzes Zucken läuft durch seinen Körper, dann bleibt er still liegen. Nur seine tiefen Atemzüge durchdringen die Stille. Ach, Felix.

Eigentlich müsste sie sie alle hassen, Dirk und Felix und vor allem Annika, um Elisabeths Willen. Elisabeth sagt es nicht laut, doch Marieke weiß, dass sie nicht vergisst. Nicht vergessen will und erst recht nicht vergeben, niemals: dass Dirk sie verlassen hat, damals, als er und Elisabeth noch Mama und Papa hießen. Dass er nicht zurückgekommen ist, sondern stattdessen Annika gefunden hat, nett und fröhlich, und dann Felix bekam – eine neue Frau und ein neues Kind. „Er will uns nicht mehr, er braucht uns nicht mehr, er hat ja jetzt die Neuen.“ Marieke ist sich nicht sicher, ob Elisabeth das tatsächlich irgendwann gesagt hat. Dass sie es dachte, kam auf jeden Fall deutlich zum Ausdruck. Das muss die Zeit gewesen sein, als Marieke beschloss, nicht mehr Mama und Papa zu sagen. Sie würde nicht weinen, und wenn Mama weinte, tröstete sie sie: nannte sie Elisabeth und strich ihr übers Haar, wie Papa es früher getan hatte. Und wenn es stimmte, dass Papa sie nicht mehr haben wollte, würde sie am besten überhaupt nicht mehr an ihn denken, so! Später besuchte Marieke ihn doch wieder regelmäßig, aber da nannte sie ihn Dirk. Sie durfte helfen, als Dirk und Annika in eine gemeinsame Wohnung zogen, und als sie heirateten, trug sie ein neues Kleid und ein Körbchen mit Blumen. Später ließ Annika sie den Kinderwagen mit dem Baby schieben. Sie konnte sie nicht hassen.

Annika ist nicht nur nett, sondern auch tüchtig – so tüchtig, dass Marieke sich neben ihr linkisch und unnütz vorkommt. Marieke kommt zu Besuch in ein blitzblank geputztes Haus, kann sich zum Essen an den gedeckten Tisch setzen und weiß nichts mit sich anzufangen. Felix sucht ihre Nähe, wenn er sich langweilt oder sich im Dunkeln fürchtet. Manchmal geht er Marieke auf die Nerven, doch eigentlich haben seine tapsigen Annäherungsversuche etwas Rührendes. Außerdem ist Babysitten so ziemlich das Einzige, was sie überhaupt in diesem schrecklich ordentlichen Haus tun kann. Babysitten und Hundesitten. Marieke seufzt. Felix’ warmer kleiner Körper liegt schwer und gleichzeitig tröstlich halb neben, halb auf ihr, und sein Atem streift ihre Wange.

Tageslicht dringt durch die bunt bedruckten Vorhänge herein, es ist Morgen. „Ma-Marieke“, murmelt Felix verschlafen. Mama Rieke, so nennt er sie andauernd. Marieke kann sich nicht einmal daran erinnern, wie es eigentlich dazu kam. Vermutlich kam Felix einfach während der Sprechlern-Phase bei ihrem Namen öfter ins Stottern. Nach einer Weile hat sie es wohl aufgegeben, den kleinen Schnitzer zu verbessern, weil sie ihn irgendwie süß fand, und so blieb es eben dabei.

Marieke versucht sich aufzurappeln, doch schneller, als sie aufstehen kann, ist der kleine Kerl auf ihren Schoß geklettert und schlingt schon wieder seine Arme um ihren Hals wie ein kleines Äffchen. Affen-Kind und Affen-Liebe. Wenn sie das am Montag den anderen Mädchen aus ihrer Klasse oder denen aus der Fußballmannschaft erzählte, würden die sicher mit den Augen rollen und sie bedauern. Doch sie wird es nicht erzählen. Warum nicht, kann sie selbst nicht erklären. Es ist ein bisschen wie in den Fantasy-Büchern, die sie früher gern gelesen hat, Harry Potter oder Narnia: Die Regionalbahn, in die sie sich jeden 2. Freitagnachmittag setzt, um zu Dirk zu fahren, ist wie der Hogwarts-Express der Eingang zu einer anderen Welt. Sie setzt sich inmitten des geschäftigen Treibens am Hauptbahnhof in der Innenstadt in den Zug und steigt eine knappe halbe Stunde später mitten im Grünen wieder aus, an einem frisch gepflasterten, aber menschenleeren Bahnsteig unter einem makellosen Schild mit dem Namen der neu gebauten Reihenhaussiedlung, in der Dirk und Annika wohnen: gepflegte neue Häuser und schnurgerade Straßen, auf denen sie kaum je einen anderen Menschen trifft. Während die Silhouette der Stadt am Zugfenster an ihr vorbeigleitet, lässt sie auch ihr altes Leben hinter sich zurück.

„Habibti, Liebes, ey, du tust mir so leid“, sagt ihre Freundin Suleima oft, wenn Marieke am Freitagmorgen schon mit der fertig gepackten Reisetasche über der Schulter in die Schule kommt. Dabei sind Gefühlsäußerungen dieser Art ansonsten selten bei Suleima.

Marieke widerspricht ihr nicht. Suleima würde es nicht verstehen: dass Marieke trotz ihrer knapp 16 Jahre einen ganzen Samstagvormittag damit verbringen kann, mit ihrem fünfjährigen Halbbruder Lego-Häuser zu bauen, Rennen mit Matchbox-Autos zu fahren oder den Kleinen absichtlich beim Fußball im Garten gewinnen zu lassen. Dass sie freiwillig mit Max, Dirks schwarzem Labrador, stundenlang durch Wald und Wiesen stapft, auch bei Regen. Dass sie abends Schach oder Risiko mit Dirk und Annika spielt und freiwillig um kurz nach neun ins Bett geht. Noch ein wenig liest, dann durchschläft bis zum nächsten Morgen und nichts vermisst, denn bei Dirk lebt sie ein anderes Leben.

Am Nachmittag geht Marieke mit Felix auf den Spielplatz am Waldrand. Außerhalb der von Zäunen und noch recht mickrigen Hecken umrahmten Grundstücke ist dies der einzige Ort, an dem man ab und an Leute trifft. An Mariekes linker Hand zerrt Felix, an der rechten zieht Max an seiner Leine. Gar nicht schnell genug kann es ihnen gehen. Während Felix auf dem Klettergerüst turnt, dreht sie mit dem schnüffelnden Max ein paar Runden um den Spielplatz, bleibt geduldig stehen, wenn ein fremder kleiner Stift den Hund streicheln will, und winkt im Vorbeigehen Felix zu, der begeistert oben von der Rutschbahn zurückwinkt. Das kleine Großmaul gibt bestimmt wieder vor den anderen an, das macht er andauernd: „Meine große Schwester ist cooler als deine, die spielt im Fußballclub, ätsch! Mein Hund ist größer, unser Auto ist schicker, und überhaupt, mein Papa ist viel stärker als deiner!“ Typisch Knirpse!

Die Abendbrotzeit naht, aber Felix mag nicht nach Hause gehen.

„Einmal rutschen, nur noch einmal“, bettelt er immer wieder.

„Felix, nein. Nein hab ich gesagt! Komm endlich!“ Jedes Mal, wenn sie den Kleinen beinahe eingeholt hat, schlägt er mit verschmitztem Grinsen einen Haken und flitzt in die entgegengesetzte Richtung davon. Max, den Marieke neben einer Bank angebunden hat, spürt ihre Unruhe und beginnt zu kläffen. Endlich gelingt es Marieke, Felix an der Kapuze seines Anoraks zu greifen. Sie zieht ihn mit sich zu der Bank und bindet Max los.

Doch dann geht alles ganz schnell: Der Hund macht unerwartet einen Satz nach links. Im selben Moment hat sich Felix aus Mariekes Griff befreit und setzt sich zur anderen Seite in Bewegung – genau auf die Straße zu. Marieke sieht alles wie in Zeitlupe: den herannahenden Laster, Felix’ Schritte – einen, zwei.

„Felix!“ Der eigene Schrei gellt ihr in den Ohren. Max zerrt an der Leine, Marieke verliert das Gleichgewicht und stolpert. Im Fallen bekommt sie Felix am Handgelenk zu fassen, und beide landen im nassen Gras am Straßenrand. Der Fahrtwind des vorüberbrausenden Lkw streift Mariekes Gesicht und wirbelt ihr Haar durcheinander. Ohne nachzudenken hat sie mit der Hand ausgeholt, die laut auf Felix’ Wange trifft. Ihre sich überschlagende Stimme und Felix’ Weinen übertönen die Motorengeräusche der Autos.

„Spinnst du? Du kannst doch nicht einfach auf die Straße rennen!“

Als sie sich aufrappeln, ist Felix’ Gesicht verheult und voller Rotz. Marieke klopft sich den Schmutz von der Hose und fährt mit einem Papiertaschentuch über Felix’ Gesicht.

„Ni... nix sagen, okay?“, hickst der Kleine, vom vielen Schluchzen ganz außer Atem. „Bitte sag Mama und Papa nix.“

„Ist ja gut, Felix, ich sage nix.“

Seine rechte Wange ist knallrot, dort, wo ihre Hand ihn getroffen hat. Sie hat ihn geschlagen, trotzdem ist er es, der sie bittet, ihn nicht zu verpetzen. Weil sie die Große ist, Mama Rieke. Marieke fühlt sich ausgelaugt und müde wie nach einem verlorenen Match. Bleischwer sind ihre Glieder, während sie zwischen Felix und Max nach Hause trottet. Deren Zuhause, nicht ihres. Weiß sie überhaupt, wo sie zu Hause ist, hat sie ein Zuhause? Am liebsten würde sie sich einfach hier am Straßenrand zu Boden fallen lassen und nie mehr aufstehen.

Diese Schwere überkam sie früher oft bei Elisabeth, wenn sie nach der Schule oder nach einem Dirk-Wochenende in die Wohnung kam und auf dem Flurboden hinter der Wohnungstür verstreute Zeitungen und maschinengeschriebene Briefe lagen, die Elisabeth nicht aufgehoben hatte. Das war ein Zeichen. Das vorwurfsvolle Blinken des Anrufbeantworters auf der Fluranrichte war ein anderes, oder diese unheilvolle Spannung, die immer dann in der Luft lag, wenn es Streit gegeben hatte. An diesen Zeichen konnte Marieke sofort die Stimmung ablesen. Sie kennt Elisabeths Stimmungen, vielleicht besser als Elisabeth selbst. Seit Axel bei ihnen wohnt, hat es noch keinen schlimmen Streit gegeben. Axel lächelt auch dann noch, wenn Elisabeth unruhig in der Wohnung auf und ab läuft und faucht wie eine wütende Katze. Verschanzt sich Elisabeth mit Malerkittel und Farben in ihrem Atelier, stellt Axel ihr frisch aufgebrühten Kaffee vor die Tür und schiebt kleine Kekse unter dem Türspalt hindurch. Axel liest immer die Post und geht immer ans Telefon, auf Axel ist Verlass. Der ängstliche Klumpen, der in Mariekes Magen gelegen hat seit dem Tag, an dem Elisabeth Axel zum ersten Mal eingeladen hatte, war mit jedem Tag geschrumpft, bis sie ihn irgendwann kaum mehr spürte.

An diesem Sonntagabend bekommt Marieke trotzdem keinen Bissen vom Abendessen hinunter, obwohl Axel Gemüsesuppe mit frischen Kräutern gekocht hat. Axel kocht gut.

„Geht es dir gut?“, fragt er mit seiner ruhigen, tiefen Stimme. Marieke nickt und konzentriert ihre ganze Kraft darauf, seinem Blick standzuhalten.

„Mhmm.“

Vorhin im Zug hätte sie fast das Aussteigen verpasst. Wie betäubt saß sie am Fenster und starrte halb blind auf die draußen vorüberziehende Landschaft.

„Schlägerin-Lügnerin-Schlägerin-Lügnerin“, sangen die Räder auf den Schienen. Das Quietschen der Bremsen ließ sie zusammenfahren. Aufzustehen und ihre Reisetasche durch den Gang zu tragen schien ihr unmöglich. Irgendwie hat sie es schließlich doch hinaus auf den Bahnsteig geschafft, die Treppe hinunter und durch die Vorhalle, über den Bahnhofsvorplatz und hinein in den Bus. Dann wieder hinaus, die Straße entlang. Die Reihen der drei- und vierstöckigen Gründerzeithäuser in der Innenstadt schienen ihr heute endlos. Düster ragten die Häuserzeilen in den Abendhimmel wie ein Spalier aus hageren, grauhaarigen Herren mit erhobenen Zeigefingern, die sie aus bebrillten Augen prüfend und streng betrachteten. Marieke schauderte. Endlich hatte sie die schwere, hölzerne Eingangstür erreicht. Jetzt nur noch das Treppenhaus, die geschwungene Treppe mit dem altmodischen Geländer, dann war sie in der Wohnung in Sicherheit. Doch als Axel sie nun beim Essen fragt, wie es ihr geht, kann sie nicht antworten. Kann nicht schlucken, kann nicht atmen. Wenn nur Elisabeth nichts merkt!

Marieke & Ben - Zug ins Unbekannte

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