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Kapitel 4 – Gestrandet

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Ben, 10. März

Sie hat keine Fahrkarte. Dieses Mädchen, das dort auf der anderen Seite des Ganges sitzt, hat keine Fahrkarte. Allein die Art, wie sie aus ihren Gedanken aufschreckt, als sie den Schaffner ins Abteil kommen hört. – Nennt man die Typen überhaupt noch Schaffner? Wahrscheinlich nicht, aber wie dann? Egal. Jedenfalls verhält sich die Kleine total auffällig. Wühlt hektisch in ihren Taschen und zählt das Kleingeld in ihrem Portemonnaie. Das hilft ihr jetzt auch nicht mehr, selbst wenn das Geld reichen sollte. Mit Fahrkarte im Zug kaufen ist Essig, darauf lässt die Bahn sich nicht mehr ein. Es sieht ohnehin nicht so aus, als ob ihre paar Münzen reichen würden, egal, wo sie hinwill.

Hoffentlich hat der Kontrollfuzzi sie noch nicht bemerkt, sonst ist es auch mit Bens unauffälligem Abgang vorbei: einfach ganz ruhig aufstehen und gehen, so als wäre gar nichts dabei. Wenn man es richtig anstellt, wird sich der Typ, wenn er zu Bens Sitzreihe kommt, schon gar nicht mehr daran erinnern, dass dort jemand gesessen hat.

Doch als Ben sich erheben will, kann er nur mit Mühe einen Fluch unterdrücken. Scheiße. Er hatte geglaubt, der Fuß hätte sich inzwischen halbwegs beruhigt, aber nix ist. Er blutet wie ein Schwein. Der Schuh ist schon komplett durchgesifft, und gleich wird er eine fette Blutspur auf dem Gang hinterlassen. Von wegen unauffälliger Abgang! Jetzt fängt diese Rotzgöre nebenan auch noch an, ihre Taschen zusammenzuraffen. Will die etwa versuchen, sich an ihm vorbei zu drängeln, um schneller wegzukommen? Nicht mit ihm!

Er kann die nackte Panik in ihrem Gesicht sehen, als er sich betont langsam vor ihr den Gang entlangschiebt. Trotz des fiesen Pochens in seinem Fuß muss er ein Grinsen unterdrücken. Pech gehabt, Baby! Doch die Genugtuung ist von kurzer Dauer. Wohin jetzt? Aufs Klo, das muss fürs Erste reichen. Hoffentlich ist es frei! Sein Bein hat wieder angefangen zu zittern. Verflucht, was hat er sich da bloß eingebrockt? Nein, nicht er selbst. Seine Mutter hat ihm das eingebrockt, und er kann ihr nicht einmal klarmachen, was sie ihm damit angetan hat. Er muss jetzt für eine Weile irgendwo untertauchen und Geld beschaffen. Vielleicht schafft er es, die Pelzjacke und den restlichen Stoff zu verticken. Wenn er das Geld beisammen hat, kann er nach Hause zurückkehren und sich Samir und die anderen vom Hals schaffen. Danach muss er weitersehen. Den Job in der Werkstatt wird er sich abschminken können. Kein Bummeln, kein Krankfeiern, das war die Abmachung. Wenn er im Nachhinein versuchen würde, sich beim Meister für sein Fehlen zu entschuldigen, wird der ihn nicht einmal mehr ausreden lassen, so cholerisch, wie der ist.

Beinahe ein Jahr lang hat Ben für den Mann gearbeitet. Er kann die rundliche Gestalt mit dem wirren grauen Haar und der verwaschenen Arbeitskombi mit geschlossenen Augen vor sich sehen, genau wie das Firmenschild an der Fassade: „Autowerkstatt Meisterbetrieb“ in überdimensionalen Blockbuchstaben, darunter in geradezu winziger Schnörkelschrift: „Inhaber M. Berczyk“. Der Meister selbst hat wahrscheinlich nie gerafft, was er seinen Kunden damit antut. Ben jedoch konnte, als wieder einmal ein Kunde eine gefühlte Ewigkeit lang mit vor Anstrengung zusammengekniffenen Augen vor dem Schild stand, seinen Mund nicht halten. Als der Kunde ihn hektisch flüsternd nach dem Namen auf dem Schild fragte, und wie um Himmels willen man das aussprechen sollte, antwortete Ben laut und deutlich: „Na, Meister Betrieb!“ Das mühsam unterdrückte Feixen der Kollegen im Hintergrund verriet Ben, dass der Gag gut angekommen war. Der forschende Blick, den Samir ihm danach zuwarf, war Balsam für seine ausgehungerte Seele gewesen: Aha, diese deutsche Kartoffel, der kleine Spacko, war also immerhin für einen Joke gut. Vielleicht war er ja zu noch mehr zu gebrauchen. Der neue Spitzname für den Meister war bald in aller Munde, und der Meister selbst hatte nichts einzuwenden, im Gegenteil. Er nahm das Ganze gnädig als Ehrenbezeichnung auf – und Ben gehörte dazu.

Aber jetzt hast du’s voll verkackt, Alter! Ben blinzelt krampfhaft, um das Brennen in seinen Augen unter Kontrolle zu kriegen. Das fehlte jetzt noch, dass er hier anfängt zu heulen. Wenn jemand heulen wird, dann die kleine Tran-Suse hinter ihm, denkt er, während er die Tür der engen Toilettenzelle von innen verriegelt. So, jetzt sieh zu, wie du klarkommst da draußen.

„Die Fahrscheine bitte!“

Der Schaffner-Kontrolleur-Typ war eben schon ziemlich nah, aber an dem Füßescharren vor der Klotür kann Ben hören, dass die Tussi stehen geblieben ist. Sie steht tatsächlich da wie ein Schaf und wartet, wie kann man so blöd sein? Meine Fresse, jetzt geh endlich weiter, na los! Er weiß selbst nicht, wieso er das tut, wieso er die Tür wieder öffnet und das Mädchen hastig nach drinnen zerrt. Die kleine Göre ist auch noch bepackt wie ein Lastesel. Vor Schreck kippt sie natürlich vornüber und knallt mit ihrem ganzen Gewicht plus Rucksack und Reisetasche gegen Ben. Als ob er nicht schon wackelig genug auf den Beinen wäre! Bloß schnell die Klappe wieder zu, bevor es jemand sieht! Gerade so gelingt es Ben, die Tür zuzudrücken. Dann stützt er sich stöhnend am Klodeckel ab.

Sie sagt nichts, rührt sich nicht, starrt ihn einfach nur aus großen Augen wie hypnotisiert an. Mann, ist die schwer von Begriff!

Ben betrachtet das Profil des Mädchens im trüben Licht der Spots über dem Waschbecken. Wie alt sie wohl ist, vierzehn oder so? Schmales Gesicht, helle Haut mit Sommersprossen. Die Lippen fest zusammengepresst, die Augen niedergeschlagen. Sie muss seinen Blick spüren. Röte steigt vom Hals her ihre Wangen hinauf, und immer noch schweigend streicht sie sich hektisch mit den Fingern ein paar Haarsträhnen hinter die Ohren.

Überhaupt, diese Frisur: Wie Angela Merkel in jung und schlank – falls die überhaupt mal jung gewesen ist. Papis braves Mädchen, wahrscheinlich künftige Bürokauffrau und Versicherungs-Sachbearbeiterin bis zur Rente, wo sie, bis auf ein paar Falten im Gesicht, noch genauso aussehen wird. Vielleicht wird sie sogar immer noch die gleichen Klamotten tragen, Jeans und Strickpulli. Wenn sie weiter so auf ihren Lippen herumkaut, fangen die unter Garantie gleich an zu bluten.

Wie Papis braves Mädchen wohl heißt? Nichts Englisches oder Französisches, da ist er sich sicher. Um Himmels Willen nichts, was sie mit den Chantals, Celestines und Cindys dieser Welt auf eine Stufe hinabsetzen könnte. Wahrscheinlich was Altdeutsches, nobel klingendes wie Antonia oder Theresa. Oder skandinavisch. Ein Doppelname: Ronja-Marie oder Lisa-Sofie. Auf jeden Fall mindestens drei Silben, eher vier. Aber er wird es nie herausfinden, denn Madame hält es anscheinend für unter ihrer Würde, auch nur ein Wort mit ihm zu wechseln. Aber egal, sobald sie beide hier raus sind und er ihr den verdammten Hals umgedreht hat, ist er fertig mit ihr. Was geht ihn ihr Name an?

„He, schiebt ihr beiden da drinnen ’ne Nummer, oder was? Dann macht’s kurz, ich muss pinkeln!“

Oh, Shit! Sie sind gesehen worden, und so wie der Kerl da von außen an die Tür hämmert, wird er nicht ohne Weiteres aufgeben. Sie müssen hier raus!

Vorsichtig öffnet Ben die Tür und ignoriert die panischen Blicke des Mädchens. Hilft nix, Baby, da musst du durch. Hoffentlich haben sie Glück, und der Schaffner ist schon weit genug weg! Fehlanzeige. Der Typ in der dunkelblauen Uniform kommt gemächlich durch den Gang auf sie zugeschlendert, und an seinem schmierigen Grinsen kann Ben ganz genau erkennen, dass er Bescheid weiß.

Scheiße, Scheiße, Scheiße!

Wieder reagiert Ben reflexartig, ohne nachzudenken: Als der Boden des Waggons plötzlich unter ihnen zu ruckeln beginnt und der Zug mit quietschenden Bremsen an einer Station zum Stehen kommt, hämmert er auf den Knopf der Tür direkt neben ihnen und zerrt das Mädchen mit sich. Die beiden stolpern hinaus auf den Bahnsteig und hasten blindlings weiter, während ihnen die Rufe des Kontrolleurs in den Ohren klingen.

Nur verschwommen nimmt Ben Treppenstufen wahr. Halbdunkel und ein muffiger Geruch schlagen ihm im Fußgänger-Tunnel entgegen. Keuchend kommt Ben am Fuß der Treppe zum Stehen, während über ihnen der Zug wieder anfährt. Glück gehabt! Auf dem Fliesenboden neben Ben ist die Reisetasche des Mädchens gelandet. Miss Merkel-Junior hält sich ein paar Treppenstufen über ihm am Geländer fest und starrt ihn schon wieder an wie ein Alien. Die könnte sich ruhig mal entschuldigen oder so, schließlich hat sie ihm die Fahrt vermasselt. Zum Dank hat er ihr auch noch sechzig Euro Strafe erspart. Was will die eigentlich?

„W-was ist mit deinem Fuß?“

Das wollte er eigentlich gerade verdrängen, aber sie hat es gemerkt. Ganz so beschränkt, wie er dachte, ist sie also doch nicht.

„Nichts“, quetscht er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

„A-aber das sieht aus, als ob es wirklich wehtut. Soll ich dir Hilfe holen, oder so?“

„Ey, so’n Quatsch!“, faucht er. „Ich fahre mit dem nächsten Zug weiter und fertig.“

Weiter, wohin? Doch diese Frage erübrigt sich ohnehin, stellt er wenig später fest. Am Ende des Tunnels glotzt ihnen von der schmierigen Glasscheibe, hinter der sich normalerweise der Fahrplan verbirgt, stattdessen ein Comic-Maulwurf mit Bauarbeiter-Helm entgegen. Wohl so eine Art Maskottchen der Deutschen Bahn. „Aufgrund von Gleisbauarbeiten kommt es zu Ausfällen auf folgenden Streckenabschnitten …“ Kein Wunder, wenn die Leute in den Bahnhöfen randalieren, denkt Ben. Wie dieses blöde Vieh schon grinst! Wenn er jetzt ’nen Hammer zur Hand hätte oder irgendein anderes Werkzeug, würde er …

Hinter ihm steht mit hängenden Schultern das Mädchen.

„Kannst du nicht deine Eltern anrufen oder so, damit die dich abholen?“, schlägt Ben in beinahe versöhnlichem Ton vor. „Wenn sie mich kurz mitnehmen könnten …“

Sie nickt, schluckt und beginnt in ihrer Tasche zu wühlen.

„Wie … wie heißt du eigentlich?“, piepst sie und sieht dabei aus, als wollte sie gleich anfangen zu heulen. Was soll die Frage, wenn sie offenbar Angst hat, den Kopf abgerissen zu kriegen?

„Ben“, knurrt er. Eine einzige Silbe, kurz und schmerzlos. Ben, die olle Rennkartoffel, dessen eigene Mutter nicht mehr wusste, wer sie geschwängert hat. Bei den arabischen Jungs bedeutet Ben „der Sohn von“, und danach wird immer der Vorname des Vaters genannt. Nur er hat nichts für danach. „Und du?“

Na los, Miss Antonia-Sofie-Therese, zeig mir, wie du glänzen kannst.

„Marieke.“

Marieke? Ist das alles? Wurde sie nach ihrer Oma benannt, oder so? Immerhin drei Silben, aber sonst war Papi gar nicht kreativ. Es sei denn, sie hat irgendeinen coolen zweiten Vornamen, den sie ihm aber kaum verraten wird. Die Frage war wohl sowieso als Ablenkung gedacht, denn sie kramt immer noch in der Tasche nach ihrem Handy. Selbst im trüben Flackerlicht der Tunnelbeleuchtung kann Ben erkennen, wie ihre Hände dabei zittern. Oje, da hat aber jemand Dampf vor seinen Alten, denkt er beinahe mitleidig. Komm schon, Kleine, denk dir halt ’ne Ausrede aus. Ich deck dich, egal, was du denen erzählen willst. Sie werden dich schon nicht fressen.

Marieke & Ben - Zug ins Unbekannte

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