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Kapitel 3 – Geheimnisse

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Marieke, 8. März

Die Zeit ist vergangen wie im Nebel, stumpf, farblos und kalt. Ein Tag, zwei Tage, eine Woche, neun Tage. Marieke hat aufgehört zu zählen. Ab und an brachen Sonnenstrahlen durch den Nebel: Lachen und Scherze auf dem Schulhof, Suleimas Hand warm auf ihrer und ihre tiefe, ein wenig heisere Stimme, als sie gemeinsam in den Schlachtruf ihrer Fußballmannschaft einstimmen. „Wer sind wir? – blau!“ Irgendjemand brüllt dazwischen: „Und zwar die Farbe, nicht der Zustand, ihr Spackos!“ – „Was wollen wir? – Den Sieg!“ Der Schlachtruf stammt von Suleima. Nachdem sich die Mädchen auf Aufforderung der Trainerin einen ganzen Nachmittag lang an mehr oder weniger sinnlosen Reimen versucht hatten, hatte Suleima sich schließlich durchgesetzt: „Warum nicht einfach: Sieg? Darum geht’s doch, oder nicht?“

Der Rasen ist grau und schlammig nach dem Winter. Das Stadion hat schon bessere Zeiten gesehen, aber wenn es gegen Mannschaften von außerhalb geht, lassen die Mädchen auf ihre Stadt nichts kommen. Durch den dünnen Stoff ihres Trikots und ihrer blauen Trainingsjacke spürt Marieke die kurze, intensive Wärme der ersten Sonnenstrahlen auf ihrer Haut, auch wenn die Luft noch so kalt ist, dass der Atem der Spielerinnen wie kleine Dampfwölkchen aus ihren Mündern aufsteigt. Marieke jedoch genießt den gleichmäßigen Rhythmus ihres Herzschlages und ihrer Atemzüge, fühlt sich warm und lebendig, geweckt von der Frühlingssonne.

„Khan – Schubert – Salomon!“, kommandiert die Trainerin. Salomon, das ist Marieke. In weißen Blockbuchstaben steht der Name unter der Spielernummer dreizehn auf dem Rücken von Trikot und Trainingsjacke. Die Nummer dreizehn wollte sonst niemand haben, auch wenn natürlich keiner zugegeben hatte, abergläubisch zu sein. Die Trainerin wiederum weigerte sich, die Nummer einfach auszulassen. Also bekam Marieke sie, ihr machte es nichts aus. Eigentlich mag sie die Nummer sogar. Sie passt zu Salomon.

„Gut so, Salomon, weiter!“

Marieke nimmt einen Ball von Tonia an, passt hinüber zu Suleima. Kreuzen und wieder annehmen, dann vor zu Lexi. Lauf, Lexi, lauf! Aber Lexi verliert den Ball, die gegnerischen Verteidigerinnen sind schneller. Jetzt nur niemanden durchlassen! Marieke findet ihren Platz wie von selbst, ohne nachzudenken. Im Grunde ist es auch ganz einfach: immer dort, wo Not am Mann ist, in der Mitte des Geschehens. Sie spürt das Spiel und weiß, was zu tun ist. Aber dann entscheidet sich alles im Bruchteil einer Sekunde. Marieke kann nicht sagen, wo ihr Fehler lag, wann sie nicht aufgepasst hat. Plötzlich hat eine der gegnerischen Verteidigerinnen den Ball nach vorn gepasst, an Marieke vorbei zur eigenen Stürmerin. Suleima rast auf die gegnerische Stürmerin zu, gleichzeitig kommt Jessi aus dem Tor, und die Stürmerin liegt am Boden. Als sie mühsam wieder auf die Beine kommt, ist sie blass, und an ihrer Nase klebt Blut. Auch die gegnerische Trainerin ist erschrocken und wirft böse Blicke in die Runde, während sie ihre Spielerin beim Verlassen des Spielfeldes stützt. Marieke fröstelt. Die Kälte kriecht ihr unters Trikot, durchdringt sie bis ins Blut, und auch der Nebel ist wieder da. Schweigend steht sie im Umkleideraum neben den anderen und lauscht der Strafpredigt ihrer Trainerin: „Unfaires Spiel … Foul … ich schäme mich für euch!“ Jessi und Suleima werfen einander hinter dem Rücken der Trainerin vielsagende Blicke zu und rollen mit den Augen, doch Marieke rührt keinen Muskel, und in ihrem Kopf ist Leere.

Später begleitet sie Suleima nach Hause und hilft noch wie so oft beim Auspacken der Waren in dem kleinen Lebensmittelgeschäft, das Suleimas Eltern gehört. Während sie Hand in Hand arbeiten, sich gegenseitig Colaflaschen, Konservendosen und Cornflakes-Packungen zureichen, lichtet sich der Nebel im Kopf.

Suleima hat ihre Kopfhörer über die Ohren gestülpt. Auf ihrem Handy läuft Musik, und sie trommelt im Takt mit den Fingern auf die Regalbretter. Wenn ihre Eltern nicht im Raum wären, würde Suleima unter Garantie die Lautstärke voll aufdrehen, aber Marieke weiß auch ohne mitzuhören, welcher Song läuft. Sie kann den Text von Suleimas Lippen ablesen: „Guns for hire“ von AC/DC, eine von Suleimas absoluten Lieblingsnummern. Schmunzelnd fängt Marieke eine zielgenau geworfene Kekspackung aus der Luft und stellt sie ins Regal, doch dann fängt sie einen forschenden Blick von Suleimas Mutter auf. Frau Khan senkt sofort das kopftuchbedeckte Haupt und gleitet in den Hintergrund wie ein Schatten. Marieke hat, obwohl sie seit Jahren mit Suleima befreundet ist, mit deren Mutter außer „Guten Tag“ und „Auf Wiedersehen“ kaum je ein Wort gewechselt. Der Vater Shahed Khan hingegen ist ein lebhafter, jovialer Mann. Den pakistanischen Tante-Emma-Ladenbesitzer kennt in der Nachbarschaft jeder, seine Frau hält sich im Hintergrund. Trotzdem hat Marieke oft das Gefühl, dass es im Grunde Frau Khan ist, die im Laden und auch zu Hause das Sagen hat. Dass Suleimas Verhalten ihr Kopfzerbrechen bereitet, weiß Marieke.

„Da muss sie halt durch, wenn sie lieber ein Musterkind wie dich hätte“, stänkert Suleima grinsend. Sie lässt sich auch von ihren Eltern nichts vorschreiben. Ob sich ihre Mutter insgeheim fragt, warum ausgerechnet ihre Tochter dermaßen vorlaut und rebellisch sein muss, während das deutsche Mädchen still und hilfsbereit ihre Pflichten erledigt und gute Noten nach Hause bringt? „Wenn Sie wüssten, Frau Khan“, denkt Marieke, und der Nebel ist wieder da.

Die Englischarbeit hat sie wegen dieser Leere im Kopf jedenfalls verhauen – eine Vier, und das so kurz vor der Abschlussprüfung! Elisabeth jedoch unterschreibt die Arbeit, ohne mit der Wimper zu zucken. Marieke ist froh, dass Axel nicht da ist. Axel würde sich Sorgen machen. Elisabeth dagegen hat sich noch nie um Mariekes Schulnoten gesorgt. Normalerweise gibt es auch keinen Grund zur Sorge. Aber wenn Marieke nicht von sich aus mit Axels Hilfe das Anmeldeformular für die gymnasiale Oberstufe ausgefüllt hätte, hätte Elisabeth wahrscheinlich die Anmeldefrist versäumt. Zum Beratungsgespräch vor der Anmeldung ging Marieke mit Dirk. Elisabeth setzte nur stets, schwungvoll wie die Signaturen auf ihren Bildern, den Namenszug „Salomon“ unter die vorgelegten Formulare, Erlaubnis- oder Entschuldigungszettel und die langen Reihen von Einsen und Zweien, die Marieke meistens nach Hause brachte. Dabei lächelte sie und sagte Dinge wie: „Na, meine Fleißige.“ oder „Schlaues Kind.“ Marieke pflückte die Anerkennung wie kostbare Blüten und warf die Stacheln des Spottes fort.

Nach der Vier glaubt Elisabeth jetzt anscheinend, Marieke wäre verliebt, denn sie fragt schelmisch: „Na, da hat wohl jemand andere Dinge im Kopf?“ Sie beginnt, Marieke mit Jungs aufzuziehen, und klingt dabei erleichtert, so als hätte Marieke endlich etwas Wichtiges verstanden. Dabei sind Jungs wirklich das letzte Thema, über das Marieke mit Elisabeth reden will. Verliebt zu sein passt zu Elisabeth, nicht zu ihr. Zu Lexi und Antonia, den beiden hübschesten Mädchen ihres Jahrgangs, oder zu Suleima mit ihrer schwarzbraunen Lockenmähne und den vor Lebensfreude sprühenden Augen.

Suleima hatte schon mit vierzehn eine richtige Frauenfigur, sportlich und trotzdem weiblich: runder Busen, breite Hüften, schmale Taille, lange, wohlgeformte Beine. Dazu ein energischer, leicht wiegender Gang. „Aufgepasst, hier komme ich!“, sagen ihre Schritte. Marieke dagegen ist auch jetzt noch einfach … dünn. Ein schmales, unscheinbares Mädchen. Sie hört gern Suleima zu, wenn diese in ihrer typisch unverblümten Art über Jungs spricht, über die „hirnlosen Vollpfosten“ aus ihrer Klasse und die „arroganten Spackos“ aus der gymnasialen Oberstufe. Suleima steht auf richtige Kerle, erklärt sie. Als Kontrastprogramm zu dem „weichgespülten K-Pop-Gedöns“, auf das die meisten der Klassenkameradinnen abfahren, hört sie alte Metal-Nummern und hat Harley-Davidson-Poster in ihrem Zimmer aufgehängt. Marieke lächelt über Suleimas pampige Sprüche und schweigt.

Manchmal hat sie sich dabei ertappt, wie sie mit den Augen die Bewegungen eines Jungen auf dem Schulhof verfolgte, sich sein Lächeln einprägte, die Farbe seiner Augen oder die Art, wie er sich die Haare aus der Stirn strich. Irgendwann jedoch schob sie diese Gedanken immer mit einer Mischung aus Scham und Bedauern beiseite und ärgerte sich über sich selbst.

Auch jetzt schweigt sie zu Elisabeths Anspielungen. Sie fühlt nichts, isst kaum etwas, weicht Axels bekümmerten Blicken aus. Am Abend hört sie Axel und Elisabeth hinter der geschlossenen Schlafzimmertür über sie reden. Elisabeth sagt: „Vielleicht will sie einfach nicht mehr zu IHM, du weißt schon.“ Marieke hat nicht horchen wollen, aber es kommt so selten vor, dass Elisabeth über Dirk spricht. Auch jetzt nennt sie nicht einmal seinen Namen, doch Marieke versteht natürlich trotzdem sofort, wer gemeint ist. Sie bleibt wie angewurzelt mit angehaltenem Atem stehen. Weiß Elisabeth etwas, und was? Hat Felix doch alles ausgeplaudert und Dirk bei ihnen angerufen? Nein, das würde Dirk nicht tun. Er ruft niemals Elisabeth an, schon seit Jahren nicht, sondern meldet sich immer direkt bei Marieke auf dem Handy. Elisabeth wäre froh, wenn Marieke nicht mehr zu Dirk führe.

Und Marieke selbst? Was will sie? Wäre es einfacher, nicht mehr hinzufahren? Vielleicht.

„Elisabeth, das wurde doch alles zig Mal durchdiskutiert. Er hat ein Recht auf regelmäßigen Umgang, das hat das Gericht entschieden.“ Axel, der Ruhige. Axel, der Vernünftige, der eben garantiert den Text des Gerichtsbeschlusses wortwörtlich zitiert hat: „Ein Recht auf regelmäßigen Umgang“. Marieke kennt sonst keinen, der so reden kann wie Axel. „Und bisher lief es doch immer gut, oder nicht? Wieso sollte sie also nicht …“

„Ach, was weißt du denn?“ Elisabeths Katzenfauchen dringt nun deutlich hinaus auf den Flur „Hältst du jetzt auch schon zu ihm, ja? Klar, ist ja mal wieder typisch. Die Kerle halten immer zusammen! Genau wie dieser Richter damals.“

„Elisabeth!“

Marieke ist schwindlig vom vielen Luftanhalten, das Herz pocht wie wild in den Ohren. Sie kann beinahe vor sich sehen, wie Axel drinnen beschwichtigend die Hand auf Elisabeths Arm legt. Wird er noch mehr sagen? Ihr zu widersprechen versuchen, obwohl er doch weiß, dass es nichts nützt, mit ihr zu diskutieren, wenn sie wütend ist? Werden sie streiten? Und was dann? Es wäre alles Mariekes Schuld.

„Es ging damals doch sicher nur darum, was das Beste ist. Das Beste für euch alle.“

„Das Beste für euch alle!“ Elisabeths Stimme ist schrill und trieft vor Hohn. „Hör mir bloß damit auf, bevor ich kotzen muss!“

‚Deine Schuld, deine Schuld‘, wummert Mariekes Herz.

„Du weißt nichts, gar nichts weißt du! Ein Recht auf Umgang mit seinem Kind hat man also heutzutage, ja? Jeder, selbst der letzte brutale Schläger!“

Mariekes Herz hat aufgehört zu schlagen. Ganz plötzlich. Gleich wird sie fallen, wird auf den Boden aufschlagen, doch der Schlag wird ihr nicht mehr wehtun. Nicht weh genug, um ihre Schuld zu tilgen. Sie fällt nicht, spürt nichts, hört nur wie von Ferne noch die Stimmen hinter der Tür. Beruhigendes Gemurmel von Axel, auch Elisabeths Stimme ist leiser geworden, aber noch immer hart. Vielleicht weint sie. Elisabeth ist wunderschön, wenn sie weint, wie eine Märchenprinzessin. Still rinnen die Tränen aus ihren schönen, weit offenen Augen über ihr regloses, porzellanweißes Gesicht. Sie fordert Mitleid ein und Trost, doch niemals ergibt sie sich in das Getröstetwerden. Kein Dank, kein Lächeln nach den Tränen, nicht einmal für Axel. Wird auch er irgendwann des Tröstens müde werden und gehen wie die anderen vor ihm? Vielleicht wird es dann wieder nur sie beide geben – Elisabeth und Marieke. Doch auch Marieke wird Elisabeth nicht trösten können, das versteht sie nun. Wie könnte sie, wo doch ein Teil von ihm, dessen Namen Elisabeth niemals ausspricht, auch in ihr steckt?

Ihr Herz ist stärker, als sie geglaubt hatte, doch seine Schläge sind langsam geworden wie die tiefen, schweren Schläge einer großen Glocke aus Metall. Sie betrachtet ihr blasses Gesicht im Badezimmerspiegel.

Marieke Salomon.

Der melodische, geheimnisvoll klingende Nachname, den sie mit Elisabeth teilt, und dazu dieser seltsam umständliche, hausbackene Vorname. Ihr Gesicht ist schmal, doch nicht so fein geschnitten wie das von Elisabeth. Ihre Haare sind auch nicht schwarzbraun, sondern heller, kein Braun, aber auch kein richtiges Blond. Straßenköterblond. Leberwurschtbraun. Nur die Wimpern sind dunkel und dicht, die Augen darunter sind jedoch auch nicht wie Elisabeths, tiefblau und ausdrucksvoll, sondern von einem wässrigen Graublau. Ihre Haut ist hell, doch nicht rein wie Porzellan, sondern voller Sommersprossen. Eine Stupsnase hat sie, genau wie Felix und Dirk. Wie ER. Ein Teil von ihm, seine Gene.

Schläger-Gene. Der Gedanke ist einfach da, als hätte es ihn schon immer gegeben. Als hätte die furchtbare Wahrheit schon immer irgendwo tief in ihr geschlummert und nur darauf gewartet, ans Licht zu kommen. Kann Dirk – der Dirk, den sie kennt, der mit ihr Schach spielt, Legoburgen baut für Felix, Bälle wirft für Max, Annika beim Aufräumen hilft – tatsächlich so ein Mann sein? Ein Mann, den Elisabeth so sehr hasst, dass sie nicht einmal seinen Namen aussprechen will? Marieke kann es kaum glauben, möchte es nicht glauben. Vielleicht hat sie irgendetwas missverstanden, versucht sie sich am nächsten Morgen zu beruhigen. Vielleicht hat Elisabeth es gar nicht ernst gemeint.

Doch diese Hoffnung macht Axel schnell zunichte. Ausgerechnet Axel. Er nimmt das Ganze ernst, das merkt Marieke sofort. Es ist beinahe rührend, wie er versucht, sie unauffällig – oder was er für unauffällig hält – auszuhorchen: Ob ihr irgendetwas Angst mache? Ob sie etwas Schlimmes erlebt habe, vielleicht? Sie wisse doch, er würde ihr immer glauben, sie könne ihm ruhig alles sagen. Nein, denkt Marieke traurig, das kann sie nicht.

Wie sollte er verstehen, dass es nicht Dirk ist, der ihr Angst macht, sondern sie selbst? Wie soll irgendjemand das verstehen?

Sie stellt sich vor, was Suleima sagen würde: „Du hast deinem kleinen Bruder eine geschallert, ey, na und? Verdient hat der’s allemal. Die Stifte müssen halt lernen, wo’s langgeht!“ Suleima setzt sich durch, egal, ob auf dem Schulhof, auf dem Fußballfeld oder zu Hause bei ihren Geschwistern. Selbst ihr älterer Bruder Samir lässt sie inzwischen meistens in Ruhe.

Aber Felix ist nicht wie Suleima und ihre Geschwister. Felix nennt sie „Mama Rieke“, er vertraut ihr. Er brüllt nie herum oder rastet aus, wenn er seinen Willen nicht bekommt so wie andere Kinder. Vielleicht sind das Annikas Gene, die sich bei ihm durchgesetzt haben. Fröhlichkeits-Gene. Vielleicht wäre es auch für Felix das Beste, wenn sie nicht mehr zu Dirk käme. Am Anfang wäre er zwar sicher enttäuscht, aber er würde sie bald vergessen. Würde auch die Ohrfeige vergessen. Wahrscheinlich wäre selbst Dirk insgeheim froh. Bei Annika kann er ein guter Mann sein, ein guter Vater für Felix. Wenn Marieke fortbliebe, wäre mit ihr auch all das Schlimme weg, was zwischen ihm und Elisabeth passiert sein muss. Vielleicht sagt sie erst einmal, dass sie krank ist, und später … später fragt sicher niemand mehr nach ihr.

Es ist Donnerstag. Marieke nimmt wohl hundertmal ihr Handy zur Hand und drückt das „D“ in der Kontaktliste. Starrt die wohlbekannte Nummer auf dem Display an, und legt das Handy wieder zur Seite. Als sie schließlich doch Dirks Stimme hört, erschrickt sie, denn sie kann sich nicht erinnern, auf „Wählen“ gedrückt zu haben.

„Hallo, ich bin’s. Ich …“ Ihre Stimme klingt dünn und atemlos. Was soll sie sagen?

„Marieke, was ist denn? Geht’s dir nicht gut?“

Sie brauchte nur zu antworten und „Nein“ zu sagen, dann wäre alles erledigt. Aber sie kann nicht. Hinterher ist sie sich nicht mehr sicher, was sie stattdessen gesagt hat – außer „bis morgen“. Sie hält das Handy in der zitternden Hand, bis das Licht im Display ausgeht.

Es ist Freitag, Marieke sitzt am Küchentisch und hat einen Riesenkloß im Hals. Essen kann sie nichts, nur ein wenig Saft bekommt sie herunter. Sie hat getan, was sie jeden zweiten Freitagmorgen tut, hat die Schultasche gepackt und die Dirk-Reisetasche auch. Hat die Blicke ignoriert, die Axel und Elisabeth einander hinter ihrem Rücken zuwarfen, ignoriert auch jetzt Elisabeths zusammengepresste Lippen und funkelnde Augen. Sonst sitzt Marieke meist nur mit Axel am Frühstückstisch, bevor sie beide zur Schule müssen, er als Lehrer, sie als Schülerin. Wenn sie fertig gegessen haben, räumt Marieke den Tisch ab, und Axel setzt frischen Kaffee auf, den Elisabeth später trinken kann, wenn sie aufsteht.

Früher ist Marieke ganz allein morgens aufgestanden und hat, wenn sie ging, immer eine Kanne Kaffee für Elisabeth auf den Tisch gestellt, manchmal mit einer geschälten Orange daneben. Marieke schälte schon als Kind gern Orangen. Sie hatte gelernt, die Schale ganz gleichmäßig aufzuschneiden, sodass sie sich entfaltete wie die Blütenblätter einer leuchtenden Blume. Aber heute ist Elisabeth mit ihnen aufgestanden.

Als plötzlich Gläser scheppern, zuckt Marieke zusammen und glaubt zuerst, sie hätte etwas umgestoßen. Sie sieht Elisabeths unwilliges Gesicht und will sich entschuldigen, doch dann begreift sie, dass der Lärm von Elisabeth selbst ausgegangen ist. Elisabeth hat mit der flachen Hand auf die Tischplatte gehauen.

„Du fährst da nicht mehr hin, Schluss, aus, Ende! Das hier kann ja kein Mensch mit ansehen! Ich rufe IHN an. Oder am besten gleich seine Neue. Die soll ruhig alles wissen und endlich mitkriegen, was für einen Kerl sie geheiratet hat! Dann werden die es sich schon verkneifen, mit dem Jugendamt zu drohen von wegen Besuchsrecht. Außerdem bist du fast sechzehn, die können dich nicht mehr zwingen.“

„Elisabeth!“ Axels Tonfall ist flehend. „Lass uns erst mal in Ruhe über alles reden, ja? Wir wissen doch noch gar nicht, was eigentlich los ist, und wieso Marieke …“

„Mit mir ist alles in Ordnung, wirklich! Ich gehe jetzt, wir sehen uns Sonntag.“

„Marieke!“

Sie ist einfach aufgesprungen, hat ihre Taschen geschnappt und ist aus der Wohnung gestürmt, ohne darauf zu achten, was Axel und Elisabeth hinter ihr herriefen. Atemlos lehnt sie draußen an der Hauswand. Ob Axel ihr gefolgt ist? Sie lauscht angestrengt. Nein, es scheint nicht so. Mit zitternden Händen holt sie ihr Handy aus der Jackentasche, schaltet es aus und rennt los in Richtung Bushaltestelle. Lieber beeilen, sicher ist sicher. Sind sie nun in Sicherheit, Annika, Dirk und Felix? Oder wird Elisabeth trotzdem bei Annika anrufen? Nein, bestimmt wird Axel ihr das ausreden. Der Gedanke beruhigt Marieke. Noch ein Schultag vergeht, in bleigrauen Nebel gehüllt. Nicht einmal Suleima schafft es, während der Pausen zu Marieke durchzudringen.

Irgendwann findet sie sich am Bahnhof wieder. Jetzt die Treppe hoch, Fahrkarte lösen und hinein in die Regionalbahn. Doch auf der obersten Treppenstufe, als sie schon den wartenden Regionalzug sieht, sind ihre Füße plötzlich wie am Boden festgewachsen. Nein, sie kann nicht. Leute gehen an ihr vorbei und steigen ein, aber sie rührt sich nicht.

Irgendwo hinter ihr sind laute Stimmen zu hören. Am Bahnsteig gegenüber erklingt ein Piepsgeräusch, und die Türen des Zuges, der in die Gegenrichtung fahren soll, schließen sich. Ein Junge springt an Marieke vorbei, rempelt sie beinahe an, und stürzt sich auf den Türöffnerknopf am nächstliegenden Waggon des abfahrbereiten Zuges. Später weiß Marieke nicht mehr, was sie dazu gebracht hat, es ihm gleichzutun. Sie ist quer über den Bahnsteig gesprintet und hat ebenfalls die Hand nach einem der grünen Knöpfe ausgestreckt. Nun sitzt sie im falschen Zug, fährt in die entgegengesetzte Richtung und möchte schlafen, nur schlafen. Sie lehnt ihre Stirn an die kühle Scheibe und starrt hinaus, ohne etwas zu sehen.

„Marieke, was soll der Quatsch? Das ist kein Spaß mehr, hörst du?“

Es ist Dirks Stimme, die Marieke im Kopf hören kann.

„Wo hast du den Schlüssel? Ich weiß, dass du ihn genommen hast. Gib ihn her, sofort!“

Der Schlüssel, Dirks Autoschlüssel. Die ganze Zeit lag er in der Tasche ihres roten Anoraks und wog schwerer und schwerer, je länger sie wartete. Doch die Wahrheit zu sagen traute sie sich auch nicht. Wie alt war sie da? Sechs oder sieben vielleicht, etwas älter, als Felix jetzt ist. Zu dem Zeitpunkt war Dirk noch nicht mit Annika zusammen. Marieke kann sich nicht erinnern, warum sie den Schlüssel genommen hatte, vielleicht aus Spaß. Vielleicht aber auch, weil sie die Abfahrt hinauszögern wollte, die Heimfahrt zu Elisabeth am Sonntagnachmittag.

Damals wohnte gerade Jürgen bei ihnen. Jürgen, der sie „Hase“ nannte, der ihr Barbiepuppen kaufte und später ihre Ballettstunden bezahlte, den sie aber vielleicht gerade deshalb nicht mochte, genauso wenig wie das Ballett. Je mehr sie wegen des Schlüssels herumdruckste, umso wütender wurde Dirk. Schließlich schüttelte er sie. Ja, er musste sie an den Schultern gepackt haben – und schüttelte tatsächlich die Wahrheit aus ihr heraus, denn er hörte den Schlüsselbund in ihrer Tasche klirren. Da sah er sie an, lange und traurig, und seufzte. Biss sich auf die Lippen, blinzelte und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Zog schweigend den Schlüsselbund aus ihrer Tasche, fuhr schweigend zurück zu Elisabeth und setzte Marieke schweigend draußen vor der Tür ab. Fuhr ihr nur zum Abschied über den Kopf, mit einer Berührung so sacht, als wäre sie aus zerbrechlichem Glas. Auch Elisabeth schwieg, als sie Marieke an der Tür in Empfang nahm. Doch ihre Augen waren schmal und die Lippen fest zusammengepresst. Marieke wusste, dass sie sich ärgerte, weil sie zu spät dran waren.

Woher weiß sie das alles noch so genau? Sie hat nie mit jemandem darüber gesprochen. Hätte Axel sie vorgestern gefragt, ob Dirk ihr jemals wehgetan habe, hätte sie „Natürlich nicht“ gesagt, ohne nachzudenken. Es hatte ja auch nicht wehgetan, nicht richtig jedenfalls. Außerdem war es sowieso ihre eigene Schuld.

Marieke & Ben - Zug ins Unbekannte

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