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1. GRAMMATIK

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Die Journalistin Tina Sumbadse hat vor einunddreißig Jahren schreiben gelernt, seitdem schreibt sie ununterbrochen. Nebenbei gewinnt sie neue Erkenntnisse: Männer leben in der ersten Person Plural und sterben in der dritten Person Singular. Frauen werden in der dritten Person Plural vergewaltigt, sterben aber stets in der ersten Person Singular.

Neben ihr saß ein krebsroter, rastloser Schotte. Er hatte sich kurz vor dem Abflug vorgestellt. Er war Ingenieur für Windenergie und zurzeit mit dem Bau eines hundert Meter hohen Windparks am türkischen Mittelmeerufer beschäftigt. »Ich muss das Projekt zum dritten Mal überarbeiten. Wir befinden uns auf den Flugrouten der Wandervögel. Ökologen und Landwirte haben uns mit dem Rotstift gedroht, kein einziger Propeller habe dort etwas zu suchen.« Noch bevor das Mittagessen verteilt wurde, hatte er ihr anhand von Anschauungsmaterial die Bedeutung des Luftdruckwandels für Winderzeugung und Speicherung erklärt. Tina musste an ihre Uroma Alexandra denken: »In was für einer Welt leben wir Armseligen eigentlich, wenn sogar schon Wind gespeichert werden muss?«, würde sie zweifellos sagen, wenn sie im Flugzeug neben dem Schotten säße. Nach seiner Hähnchenbrust legte er zunächst mit Tinas übriggelassener Frikadelle, später mit zwei Miniaturfläschchen Whisky nach. Er wurde noch krebsiger und geschwätziger.

»Nein, nicht in Amman. Ich schreibe Artikel über frontnahe Städte, und Syrien liegt in meinem professionellen Interessenbereich.«

»Haben Sie Familie in der Türkei?«

»In Georgien – meine Freundin. In Istanbul ist unser internationales Redaktionsbüro.«

Der Schotte stutzte politisch korrekt und zählte alle lesbischen Frauen auf, die sich seit der Uni jemals in seiner Gegenwart befunden hatten. Tina hatte nicht weiter ausgeführt, dass ihre Liebste ihr vierjähriges Zusammensein mit der Gründung einer wahrhaftig traditionellen Familie gekrönt hatte. Danach war sie in den ersten sechs Monaten mindestens zweimal pro Woche zu den Schwiegereltern gerannt, freitags hatte sie den unbändigen sexuellen Hunger ihres Ehemannes mit Blowjobs gezähmt, die sie sich aus Pornos abgeschaut hatte, und an ihren fruchtbaren Tagen hatte sie sich in smaragdgrüne Dessous gezwängt. Dann hatte sie ihr Kind bekommen, war in postpartale Depression verfallen und hatte sich wieder nach weiblicher Zärtlichkeit gesehnt. Tina liebte sie immer noch und öffnete ihr mit Freude die mit Dämmschaum isolierte Metalltür, die sie vor anderthalb Jahren mit einem Fußtritt hinter ihr zugeknallt hatte. Augenblicklich verloren sich die Finger ihrer Liebsten in hüftlanger, schwarzer Seide. Sie wollte gerade Tinas Lippen berühren, als ein tornadoartiger Krampf aus den Tiefen ihrer Eierstöcke aufstieg und sie überflutete. Sie schaffte es mit zugehaltenem Mund gerade noch zur Toilette und verbrachte die gesamte zweite Tageshälfte auf den Knien. Tina kannte den Geschmack und Geruch von Sperma nicht, aber sie hätte schwören können, dass der Mundhöhle ihrer Liebsten ebenjenes Aroma des Lebensursprungs entfahren war.

»Linda ist Komponistin. Sie forscht über Folklore und war schon überall. Im Februar hat sie an der Uni Glasgow eine öffentliche Vorlesung über georgische Polyphonie gehalten.«

Aus einem Fach des braunen Lederportemonnaies lugte eine rothaarige Frau; Ende zwanzig. In einem zweiten Fach steckte ein Foto einer jüngeren rothaarigen Frau – sie posierte neben einem Pferd bei einem Schwimmbad und lächelte herzlich.

»Wir wussten schon immer, dass aus ihr eine Tierärztin werden würde. Sie war neun, als sich die Ziege den Euter am Zaun aufriss. Sie ließ uns Nadel und Faden in brühendem Wasser auskochen und nähte die Wunde so symmetrisch, dass der Dorfveterinär ihr anbot, seine Operationen mitzuverfolgen. Doch mit Menschen ist sie nie so wirklich warmgeworden. Sie ist 28 und hatte noch nie einen festen Freund … oder eine Freundin. Haben Sie Geschwister?«

»Einen Bruder. Er ist beträchtlich jünger als ich, er geht zur Schule.«

»Sobald ich mit dem Windpark fertig bin, ziehe ich nach Spanien und bewege mich nicht mehr weg.«

Er schlug das zweite Fach von hinten auf und seine sommersprossigen Finger frickelten ein doppelt gefaltetes Foto heraus. Ein einstöckiges Haus aus Stein, umgeben von Bäumen, so weit das Auge reicht, mit einer so hohen roten Holztür, dass man selbst auf den Schultern eines Riesen den Kopf nicht einzuziehen bräuchte.

»It’s a true paradise«, sagte der Schotte, »mit eigenem Weingut! Der Makler hat es mir am Morgen gezeigt, am Mittag war es meins.«

Tina ließ den Blick nach hinten schweifen. Zwei Frauen stellten sich an. Sie entschuldigte sich beim Schotten und bahnte sich, auf den Rückenlehnen Halt suchend, den Weg. Aus der Bordtoilette drang Zigarettenqualm. Die Stewardess klopfte an die Tür. Der vorzeitig ergraute Passagier öffnete die Falttür, mied jeglichen Augenkontakt und huschte zu seinem Platz. Die Luft im Flugzeug war trocken, undefinierbar, kalt und heiß zugleich. Der Schotte hielt sein Portemonnaie immer noch in der Hand. Er hatte sein Gesicht zum Fenster gewandt und blickte ins Dunkel. Das Kabinenlicht war gedimmt. Die Passagiere dösten, Tina hörte mit geschlossenen Augen k.d. lang. Sie wusste nicht, was Ana Rogawa von ihr wollte. Sie hatte ihr bereits den dritten Artikel über das Leben von Frauen in Kriegsgebieten geschickt und immer dieselbe Antwort bekommen: Es fehle an menschlicher Intimität. Dabei leitete sie den Text mit einer emotionalen Passage ein und hatte, um den Schmerz zu unterstreichen, hier und da sogar unverschämt gewagte Formulierungen eingestreut. Im Großen und Ganzen war es trotz allem eine Ursache-Wirkung-Analyse mit handfesten Argumenten. Analytischer Journalismus war etwas, was Tina und Rogawa offensichtlich unterschiedlich auffassten. »Wenn sie das hier auch abweisen sollte, sage ich ihr, ich wechsle in die Hightech-Abteilung und schreibe ab sofort nur noch über das Ingenieurswesen der Zukunft. Soll sie dann nach sentimentalen Schreiberlingen suchen, die stets mit gepacktem Koffer bereitstehen, vier Sprachen beherrschen und einen Doktortitel in Politikwissenschaft haben.« Der Schotte berührte ihre Schulter.

»I guess I am dying.«

Seine Augen waren voller Tränen. Das dösende Flugzeug wurde abrupt geweckt. Gleich zwei Ärzte meldeten sich. Sie baten Tina, ihren Sitz freizumachen. Bald waren drei Sitzreihen vor und hinter dem Schotten leer und die aufgescheuchten Passagiere fanden sich im hinteren Teil des Flugzeugs zusammen. Es vergingen zwanzig Minuten. Eine Stewardess, flach wie ein Brett, näherte sich Tina.

»Wie standen Sie zu dem Mann neben Ihnen?«

Stewardessen, Polizisten und Notärzten sollte man keine Grammatik beibringen.

»Bleiben Sie in Istanbul oder haben Sie einen Anschluss?«, fragte sie der Arzt der Flughafen-Notfallambulanz.

»Ich bleibe hier, für zwei Tage.«

»Sie hatten eine Panikattacke. Es wäre besser, wenn Sie nachts nicht alleine sind.«

»Mein Sitznachbar ist gestorben, ein Schotte, im Flugzeug.«

»Ich weiß Bescheid. Ich will mir nicht ausmalen, wie sich das anfühlen muss.«

»Sheraton.«

»Was meinen Sie?«

»Bringen Sie mich im Sheraton unter. Ich muss morgen meinen Gesprächspartner treffen.«

»Sind Sie zur Recherche hier?«

»Ich bin Journalistin.«

Sie zählte die blassen Fliesen an der Decke der Ambulanz.

Tinas zierliche Waden stecken in Skechers-Sportschuhen. Unter dem Saum ihrer verwaschenen Jeans stechen strahlend gelbe Socken hervor. Das rotgeblümte Hemd unter dem blauen Cordblazer verstärkt noch den Kontrast zu ihrer ohnehin blassen Gesichtsfarbe. Die nahezu perfekte Form ihrer dichtbewimperten, honigfarbenen Augen ist selbst hinter der Brille, die wie angegossen auf ihrer Nase sitzt, sofort zu erkennen. Ihre Stachelfrisur, die an einen Igel erinnert, verleiht ihr einen Hauch verwirrter Hilflosigkeit, aber nur, bis sie aufsteht. Ihr außerordentlich hochgewachsener Körper trägt Kleidung und Tasche mit beneidenswerter Eleganz, und selbst im Schockzustand verliert sie nichts von ihrem Zauber. Sie weckt ihre Chefredakteurin. Sie waren zwar wie Katz und Maus, doch niemand steht Tina näher. Sie kann Ana Rogawa von jedem Winkel der Erde anrufen. Zunächst informiert sie sie darüber, dass sie heil angekommen ist, und plaudert ein wenig. Dann kommen sie zur Sache.

»Tina, wer ist gestorben?«

»Der schottische Windkraftingenieur.«

»Was für ein Schotte? Bist du nicht in Amman?«

»Wir waren schon in der Luft. Er saß neben mir. Er hat gesagt, dass er Schotte ist. Dann wurde ihm schlecht und innerhalb von Minuten war er tot.«

»Oh nein. War er alt?«

»Um die fünfzig, oder jünger.«

»Wie geht es dir? Soll ich Petra anrufen? Sie kann dich abholen und du kannst bei ihr bleiben.«

Petra war Journalistin des türkischen Redaktionsbüros.

»Nein, schon gut. Ich weiß nicht einmal, wieso ich dich angerufen habe. Ich habe nicht nachgedacht.«

»Ich schlafe sowieso nicht. Ich sitze am Projekt der Amerikaner und bin online. Wenn du nicht schlafen kannst, melde dich, okay?«

Sechzig minus fünfunddreißig ist fünfundzwanzig. Weniger Jahre, als sie gelebt hat. Im Sheraton bekommt sie ein Upgrade – eine Luxussuite im 26. Stock statt des gebuchten Standardzimmers. Sie ahnt, dass Ana Rogawa Petra angerufen haben muss; Petra wiederum die Hoteladministration. Das atemberaubende Istanbul liegt ausgebreitet vor ihr. Was wohl als Sterbeort des Schotten eingetragen wird, denkt sie.

»Zimmerservice!«

Was soll’s, sie bekommt sowieso kein Auge zu. Ein junger Mann tritt unter Entschuldigungsbekundungen ein und bittet, einen Blick unter das Bett werfen zu dürfen. Die Konferenzteilnehmerin, die das Zimmer vor einigen Stunden geräumt hat, hat eine gestrickte Tasche voller Dokumente liegenlassen. Tina hat noch nicht einmal ihren Koffer geöffnet. Nach dem Bett wendet er sich dem Schrank zu, danach dem Bad, beides ohne Erfolg. Der Mann entschuldigt sich erneut vielmals und öffnet einem jüngeren Herrn die Tür, der einen Obstkorb hereinträgt – »für die Unannehmlichkeiten«. Anschließend verabschieden sich beide und gehen rückwärtstrippelnd aus dem Zimmer.

Tina wirft die Kissen auf den Boden und legt ihr Gesicht vorsichtig auf den wohlriechenden Bettbezug. Er ist so zart wie ein Kätzchen, das zum Streicheln einlädt. Sie schiebt ihre Hand ein wenig nach oben und ihre Finger liebkosen den weichgespülten Stoff. Sie greift zum Kopfende, wo der Bezug stramm unter die Matratze gefaltet ist. Dann fährt sie die Matratzenkante entlang und schreit vor Schmerz auf. Ihr Finger brennt und sieht aus, als sei er mit einer Rasierklinge in Berührung gekommen. Sie steht auf und macht alle Lichter im Raum an. Sie ringt mit dem Bezug. Nach dem dritten Anlauf hat sie den blutbefleckten Stoff von der Matratze gezogen und ein Meer von Dokumenten flattert auf den Filzboden.

Sensibilisierung für sexuelle Gewalt

Komparative Analyse von 9 Fällen

Materialien für die regionale Konferenz. Anhang 3

Keti Ruadse

Psychotherapeutin

Psychosozialer Krisendienst

Tel.: 995555 -- -- --

E-Mail: ruaqet@psychoservices.com

Kollektive sexualisierte Gewalt – Sexuelle Sklaverei

Natia, 38. Diagnose: Depressive Störung. Ein Suizidversuch, mehrere Versuche von Selbstverletzung. Wurde im Alter von 14 Jahren von drei Klassenkameraden im eigenen Haus vergewaltigt, einer davon war ihr Freund. Sie wurde eingeschüchtert, niemandem davon zu erzählen. Ihr wurde mit Rufmord in Nachbarschaft und Schule gedroht, was ihr Leben aller Voraussicht nach unerträglich gemacht hätte. Die Patientin betont, sie wollte unter allen Umständen vermeiden, dass ihre Eltern davon erfuhren.

Einige Tage nach der ersten Vergewaltigung wurde Natia erneut Opfer einer Vergewaltigung, erneut im eigenen Haus, diesmal durch fünf Klassenkameraden. Nach der zweiten Vergewaltigung erklärte der Haupttäter Natia, dass sie von nun an sein Besitz sei. Aus diesem Grund müsse sie jeden Anruf entgegennehmen und Zeit sowie Örtlichkeit stellen, um ihm und seinen Freunden zur Verfügung zu stehen. Ausreden, ihre Eltern seien zu Hause, sie sei krank usw., sollten ihr gar nicht erst in den Sinn kommen, da sich damit ihre Lage nur drastisch verschlechtern würde.

Im Laufe der folgenden sechs Jahre vergingen sich, in unregelmäßigen Abständen, hauptsächlich fünf Personen an Natia. Es gab jedoch auch Fälle, in denen sie der Haupttäter seinen Freunden oder Gläubigern anbot.

Zwei Befreiungsversuche der Patientin endeten mit physischer Gewalt.

Im Laufe von sechs Jahren fanden mehrere individuelle sowie Gruppenvergewaltigungen statt, zudem Fälle von Sadismus und sexueller Erniedrigung.

Es kamen vier Schwangerschaften zustande, die erste im Alter von 15 Jahren. Drei Schwangerschaftsabbrüche, eine Fehlgeburt.

Opfer sowie Täter waren im 3. Studienjahr, als ein Gruppenmitglied festgenommen wurde. Ein Zweiter setzte sein Studium im Ausland fort. Die anderen verloren vermutlich das Interesse an Natia und so konnte sie sich, im Alter von zwanzig Jahren, aus der sexuellen Sklaverei befreien.

Als Medea Rache übte und die Liebe fand

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