Читать книгу Als Medea Rache übte und die Liebe fand - Tamar Tandaschwili - Страница 7

3. UNCHRISTLICHE BEDÜRFNISSE

Оглавление

In der Morgendämmerung kam der 16-jährige, spärlich bekleidete Lascha Tsertswadse grün und blau geprügelt in die erleuchtete Polizeistation am Stadteingang von Rustawi. Sein Vater habe ihn aus dem Haus geschmissen und er bräuchte Hilfe. Sozialarbeiter Berdia Mikiaschwili wurde um 7 Uhr früh in die Polizeistation bestellt. Der Notarzt hatte Lascha bereits untersucht. Trotz der Empörung der Polizisten weigerte sich der Junge, Anzeige zu erstatten. Stattdessen bat er um zwei Dinge: neue Socken sowie ein Gespräch mit seiner Mutter. Die Socken waren innerhalb von fünf Minuten aus dem benachbarten Hypermarkt besorgt; doch es gelang nicht, sich mit der Mutter in Verbindung zu setzen. Berdia telefonierte herum, aber in keiner Anlaufstelle für häusliche Gewalt war Platz. »Wir rufen zurück«, bekam er sechsmal zu hören. Niemand rief zurück. Lascha hatte sich bis über den Kopf in die Decke eingewickelt, die ihm der Inspektor gegeben hatte, und jedes Mal, wenn er sich eine Träne abwischte, fiel ihm ein Deckenzipfel aus der Hand – auch wenn er die zweite Hand zu Hilfe nahm. So litt er zwei Stunden lang, bis Berdia vorschlug, den Vater anzurufen und die persönlichen Gegenstände des Jungen abzuholen. Lascha fuchtelte mit den Armen, er werde niemals dorthin zurückkehren, lieber sollten sie ihn hier auf der Stelle umlegen. Berdia rief bei den Tsertswadses an, ein Mann nahm ab.

»Hallo, spreche ich mit Herrn Gega Tsertswadse?«

»Ja, bin dran.«

»Ich bin Berdia Mikiaschwili, der Sozialarbeiter Ihres Sohnes, Lascha Tsertswadse. Lascha befindet sich auf der Polizeistation, er ist außer Lebensgefahr. Allerdings hat er nichts zum Anziehen, bis auf seine Unterwäsche. Wäre es in Ordnung, wenn wir in etwa zehn Minuten vorbeikommen und seine persönlichen Gegenstände abholen?«

»Lascha Tsertswadse war mein Sohn, er ist heute Morgen gestorben. Rufen Sie hier nicht mehr an.«

Berdia hört dem Signalton nach dem Auflegen noch eine Weile zu. Das ist normal beim ersten Anruf, redet er sich zu und wählt noch einmal. »Die gewählte Rufnummer ist zurzeit nicht erreichbar.« Es vergeht eine weitere Stunde und Berdia fährt den in die Decke des Inspektors eingewickelten Lascha zu sich nach Hause. Die Großmutter öffnet die Tür. An ihrem Gesichtsausdruck lässt sich ablesen, dass sie es gewohnt ist, rausgeworfene Menschen zu beherbergen. Sie setzt Lascha auf das Sofa und lässt ein Bad ein. Kurz darauf hockt er eingeschrumpelt im schaumigen, heißen Wasser und schluchzt bitterlich. Die Tür zum Bad bleibt einen Spalt offen. So ist die Regel; von ihren Familien verstoßene junge Homosexuelle hegen manchmal unchristliche Bedürfnisse. Die Großmutter schenkt Tee ein, während sie aufgeregt mit ihrem Enkel schnattert:

»Den Hintern müsste man solchen Eltern versohlen! Noch nie habe ich jemanden mehr verabscheut als Putin, aber sogar den würde ich nicht mitten im Winter auf die Straße setzen! Haben diese Leute ihr Herz mit den Mandeln entfernt bekommen, mein Schatz?«

Das Frauenhaus weigert sich – sie wollen keine Jungen annehmen. In der Familien-Notunterkunft bringt Lascha es auf eine Woche, bis ihn der älteste Sohn einer von ihrem eigenen Mann herausgeworfenen Frau als »Arschwichser« verprügelt. Durch Lascha lernt Berdia die Schwierigkeiten schwuler Ästhetik kennen. Tasja beispielsweise, die die Gemeinde Vater Jakobs im ewigen Feuer des Kriegerdenkmals von Tbilissi verbrennen wollte, war zwar lesbisch, sah einem Jungen aber dermaßen ähnlich, dass sie auf der Straße höchstens mit »Hast du Feuer, man?« angesprochen wurde. Transgender Andro Kuchianidse wurde von jedem für den Vater eines Betreuten gehalten; er war älter, breit und stämmig.

Laschas Verhängnis bestand darin, dass er genau in der Mitte zwischen den sozial anerkannten männlichen und weiblichen Geschlechtern stand. Seine Existenz erweckte nicht nur Misstrauen, sondern vor allem Irritation. Und da sich georgische Männer nicht unbedingt durch ihre Toleranz Irritationen gegenüber auszeichnen, hält ihre fragile Psyche diesem Druck nicht stand und sie müssen ihren Seelenfrieden geifernd wiederherstellen.

Jedes Monatsende bringt Berdia seine fünfhundert Lari, Münze für Münze, heim und nimmt sich davon jeden Tag ein kleines Taschengeld. Bei seinem Vorstellungsgespräch als Sozialarbeiter hatte er gelogen, er sei queer. Er dachte, so seien seine Chancen größer. Was hätte er sonst sagen sollen? Dass er weder mit einer Frau noch mit einem Mann je etwas gehabt hatte und außer seiner Großmutter mit niemandem etwas zu tun haben wollte? Er interessierte sich nun Mal nicht für Sex und damit basta. Er hatte auch nie Schmetterlinge im Bauch und überhaupt beschwerte ihn das körperliche Leben sehr. Er wartete sehnsüchtig auf die Ära, in der der Mensch digitalisiert würde und die Energie, die sein Hirn für körperliche Leistungen verschwendete, der Bewusstseinserweiterung widmen könnte. Er trug stets ein Portrait von Ray Kurzweil in seiner Hosentasche. Wenn der Alltag den Sozialarbeiter stärker plagte als gewöhnlich, griff er zu seinem Portemonnaie und rief dem Visionär des Transhumanismus zu: »Ray, wieso zur Hölle braucht das alles so lange?« Mit »das alles« meinte er die künstliche Intelligenz. Sie wird seiner sowie Kurzweils Meinung nach die Menschheit auf eine neue Evolutionsstufe hieven. Sozialarbeiter Berdia Mikiaschwili, Sohn des Solomon, plagt sein Körper sehr.

Als Medea Rache übte und die Liebe fand

Подняться наверх