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4. ERSEHNTE OHNMACHT

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Laschas Mutter finanzierte ihre Familie, indem sie in Griechenland als Pflegerin arbeitete. Sein Vater ließ ihr Geld im Casino und den Rest – im Restaurant. Er hatte sich nie großartig um die Erziehung seines Sohnes geschert. Nur ein einziges Mal hatte er die Initiative ergriffen. Er bat Lascha, ihm vom Kiosk Zigaretten zu bringen, während er selbst auf dem Sofa lag. Als jener mit Hüftschwung hinausstolzierte, beschlich den Vater ein ungutes Gefühl. Am nächsten Tag schleppte er ihn zum Boxen und forderte vom Trainer, ihn besonders aufmerksam zu trainieren. Eingeschüchtert von Trainer Kako, wagten es die anderen Jungs nicht, Lascha etwas ins Gesicht zu sagen. In die Umkleide kam Trainer Kako nicht. Woher hätte Lascha wissen können, dass es der liebste Zeitvertreib der Jungs war, ihre Schwänze zu vergleichen? Er selbst hatte ein dermaßen strenges Verbot auferlegt bekommen, sich anzufassen, dass er es sich – wenn überhaupt – nur im Bett unter der Decke traute. Er schlug die Beine fest übereinander und sehnte sich, während er an sich herabblickte, nach glatten, zarten Formen. In der Umkleide zogen sie ihn aus und stellten sich in einer Reihe vor ihm auf. Er kam einfacher davon als gedacht – »He, guck mal, was der für einen Brummer hat! Na Mahlzeit!«

Die Umkleidespiele zeichneten sich durch ihre Vielfältigkeit aus – eins beinhaltete das Streicheln, Abklatschen, Kneifen, Herumziehen und Quetschen seines Hinterns. Wasserdampf und Tropfen erwiesen sich als gute Tarnung für seine Tränen. Sie nahmen ihn nicht als Jungen wahr; nannten ihn mal Natela, mal Maqwala, öfter noch – Tsitsino. Er ließ bei seinem Vater anklingen, dass er aufhören wollte. Lascha könne von ihm aus die Schule sausen lassen, aber zum Boxen würde er gefälligst so lange gehen, wie der Vater sagte, war die Antwort. Laschas Hintern wuchs, ebenso wuchs der Einfallsreichtum der Boxer. Einer nahm ihn zur Seite und erzwang Laschas Hand – er solle mal sehen, vielleicht gefiele es ihm ja. Lascha wurde übel; er kotzte ihn an. Am nächsten Tag drehten sie eine Ehrenrunde um ihn – sie wüssten, dass er gerne Schwänze und Eier streichelte, er solle sich keine Sorgen machen, es stünden genug zur Auswahl. Ob wegen des heißen Wassers oder des neuen Begrüßungsrituals – Lascha hatte an diesem Tag seinen ersten Anfall. Beim Anblick der weißen Augäpfel und des gelben Schaums, der aus seinem Mund quoll, flüchtete der nationale Genpool Hals über Kopf aus der Umkleide.

Sie schrieben die Ohnmacht einer beim Boxen erlittenen Gehirnerschütterung zu und schenkten Lascha damit einen der glücklichsten Monate seines Lebens. Die Großmutter arbeitete, der Vater fuhr das Auto seiner Frau von einer Geliebten zur nächsten, Lascha selbst aber war ganz alleine zu Hause, den ganzen Tag lang. Die Musik bis zum Anschlag aufgedreht, hatte er die Kleider von Oma und Mama auf dem Bett bereitgelegt. Er spielte Schönheitswettbewerb, Make-up, Mimik, Pantomime, Defilée – kurz gesagt, er feierte Flitterwochen mit sich selbst, und daraus folgte der Entschluss, sein Zuhause hinter sich zu lassen und eine richtige Frau zu werden, koste es, was es wolle.

»Guten Tag, Frau Tsertswadse, Ihrem Sohn geht es gut. Er bleibt über Nacht bei meiner Großmutter. Er ist verletzt, alle lebenswichtigen Organe sind jedoch heil geblieben.« Offensichtlich war Gega Tsertswadse Berdias Anruf zuvorgekommen, jedenfalls war Tekla Tsertswadses Intonation eiskalt:

»Wir haben ihn zehn Jahre lang behandeln lassen und konnten es ihm trotzdem nicht austreiben. Er weigert sich, zum Menschen zu werden, und Sie helfen ihm auch noch dabei.«

Berdia war unsicher, ob es an Skype lag oder ob sie tatsächlich so jung war, wie sie auf dem Monitor aussah. Kaum älter als dreißig. Eine Frau, schneidend und dünn wie Papier.

»Frau Tsertswadse, ich bin Sozialarbeiter. Es fällt in meinen Aufgabenbereich, mich um ausgestoßene Kinder zu kümmern. Laschas Vater weigert sich, ihn ins Haus zu lassen, ihr Sohn aber hat nichts außer seiner Unterwäsche; er hat nichts mitgenommen. Sein Ausweis, Schulbücher, Hefte, Computer, Kleidung – alles ist noch dort. Vielleicht könnten Sie vermitteln. Er muss schließlich noch zur Schule gehen, lernen … sein Leben weiterleben.«

»Weißt du was, mein Kind, es ist die Schule, die meinem Jungen diese Flausen in den Kopf gesetzt hat. Sein Gehirn wurde mit westlichen Versuchungen gewaschen. Was wird ihm dort beigebracht? Ehrung des Fleisches, Missachtung der Eltern, Hemmungslosigkeit. Was will er in der Schule, er lernt sowieso nichts. Wenn ihr ihm was Gutes tun wollt, bringt ihn zur Kirche, soll er beichten und seine Laster bereuen! Betet, dass er zum Mann wird! Er braucht keine zusätzliche Bestärkung. Mein Gott, was habe ich verbrochen, dass mein einziges Kind krank und pervers ist? Wäre es nicht besser gewesen, er wäre nicht geboren?«

Sie weint bitterlich.

»Ich kann Sie verstehen, Frau Tsertswadse, ich kann Ihren Schmerz verstehen. Aber vielleicht könnten Sie uns zumindest mit der Kleidung, den Büchern und dem Ausweis helfen? Ich hole sie selbst ab, damit Ihr Mann keine Umstände hat. Sprechen Sie mit ihm?«

Am Abend ruft Gega Tsertswadse Berdia an und sagt barsch: »Ich habe den Koffer zu seinem Patenonkel gebracht. Fahren Sie hin und holen Sie ihn ab.« Berdia hat während seines Praktikums gelernt, welche strategische Bedeutung es im Umgang mit der Familie des Betreuten hat, sich zu bedanken. Deshalb schreibt er Tekla Tsertswadse über Skype: »Vielen Dank, Frau Tsertswadse, ich fahre später zu Laschas Patenonkel und hole seine Sachen ab. Ohne Sie wäre das nicht gelungen. Falls Sie noch irgendwelche Fragen haben sollten, melden Sie sich jederzeit. Mit freundlichen Grüßen, Berdia Mikiaschwili.«

Er stellt einen mittelgroßen grauen Koffer auf den Wohnzimmertisch. Vor dem Koffer sitzt Lascha Tsertswadse, neben ihm sitzen – Berdia und Oma. Berdia bedeutet ihr mit den Augen, dass sie in die Küche gehen und den Jungen mit seinem persönlichen Hab und Gut alleine lassen sollten.

»Ach, mein Lieber, hast du gesehen, wie sein Blick erloschen ist, als er den Koffer sah? Er ist sich bewusst geworden, dass er nicht mehr nach Hause kann«, meint die Oma.

Die Teekanne pfeift, sie schenken ein, trinken aus, es pfeift wieder, sie schenken ein und trinken. Nach der vierten Runde stehen sie auf. Neugierde siegt über Professionalität und Berdia späht ins Zimmer. Auf dem Eichenparkett im Wohnzimmer der Mikiaschwilis ist eine Steppdecke ausgebreitet. Ein Fetzen von Laschas Lieblings-T-Shirt mit Schriftzug liegt auf dem abgerissenen Einband seines Tagebuchs. Die von der nagelneuen Jeans abgerupfte Hosentasche hat sich auf den zerschnittenen Pandasocken wiedergefunden. Der in der Mitte auseinandergebrochene Laptop mit dem abgebissenen Apfel samt seiner Schutzhülle liegt traurig auf dem abgeschnittenen Ärmel vom Kapuzenpulli der Uni Thessaloniki. Mitten auf der sorgfältig zusammengeflickten Steppdecke sitzt Lascha Tsertswadse und reibt seine Handflächen so stürmisch aneinander, als wolle er ein Feuer entfachen.

»Er zieht sich die Hosentaschen bis zu den Knien herunter und läuft den ganzen Tag mit herauslugender Unterhose rum. Ich glaube, etwas stimmt mit seinem Geschlechtsteil nicht.« Jede Woche schickte die Kindergartenleiterin nach seiner Großmutter. Sie waren bei drei Kinderärzten. Einer war in Rustawi, einer in Tbilissi, einer – war ein Professor. Der Rustaweler und der Professor stellten dieselbe Diagnose: Er habe zu viele Salze im Urin und müsse nach jedem Wasserlassen gründlich mit Milch gereinigt werden. Der Tbilisser Arzt sah aus wie ein Sumoringer. Er hatte einen kurzen, breiten Hals und ein sackartiges Doppelkinn. Er bat die Großmutter, sie alleine zu lassen, hob den Patienten auf den Tisch und fragte:

»Na, mein Junge, ziehst du dir gerne die Hose runter?«

»Ja.«

»Ich ziehe mir gerne die Ärmel hoch, guck!«

Er zog sich das senfgelbe Hemd bis zu den Ellbogen hoch.

»Cool, oder?«

»Jaaa!«

»Meine Frau schimpft immer mit mir, ich musste fast auch zum Arzt.«

Lascha musste kichern. »Du bist aber ein netter Arzt. Du gibst mir bestimmt keine Spritze.«

»Kannst du raten, wieso ich meine Ärmel gerne hochziehe?«

»Ich weiß es! Ich weiß es!«

»Du weißt es? Bist du dir sicher?«

»Jaaaaa!«

»Du hast zwei Versuche. Wenn du es errätst, kannst du dir damit anhören, was im Heizungsrohr vor sich geht. Alles klar?«

Er nahm das Stethoskop von der Schreibtischlampe und legte es um Laschas Hals.

»Jaa!«

»Lascha Tsertswadses erster Versuch!«

»Du magst deine Arme nicht und willst sie dir abschneiden!«

»Hmm! Gar nicht so schlecht! Siehst du, was für Pranken ich habe, wer mag so was schon! Und? Hast du noch eine Idee, junger Mann?«

»Was?«

»Noch eine Idee, wieso ich meine Ärmel hochziehe?«

»Jaa!«

»Ich höre!«

»Du magst dein Hemd nicht. Du magst Kleider, aber du darfst keine anziehen. Und wenn du heimlich eins anziehst, schimpfen sie mit dir!«

»Recht haben Sie, junger Herr Tsertswadse! Ich wette, dass ich auch raten kann, wieso du deine Hose herunterziehst.«

»Was?«

»Ich wette, dass ich es erraten kann.«

»Nein! Du errätst es nicht!«

»Na gut. Wenn ich es nicht errate, schenke ich dir mein Stethoskop. Abgemacht?«

»Abgemacht!«

»Der junge Herr Tsertswadse zieht seine Hose runter, weil er lieber ein Kleid tragen möchte, aber sie erlauben es ihm nicht und schimpfen mit ihm. Habe ich recht?«

»Jaaaaa!«

»Soll ich noch etwas erraten?«

»Jaa!«

»Aber das flüstere ich dir ins Ohr, damit es niemand hört, ja?«

»Okay.«

Er lehnte den kürbisartigen Kopf zu Lascha und flüsterte:

»Der junge Herr Tsertswadse mag seinen Penis nicht und wünschte, er würde verschwinden.«

»Jaaa!«

»Aber er ist nun einmal da, genauso wie meine Arme. Was machen wir denn nun?«

»Du schneidest deine Arme ab, wenn du groß bist.«

Und er schwieg verschmitzt.

Der Tbilisser Arzt sagte zu Lascha Tswertswadses Großmutter, dass ihr Enkel »besonders« sei. Dr. Wascha graute es bei der Vorstellung, irgendein fortschrittsverdrossener Moralist könnte diesem Dreikäsehoch, der als Frau geboren wurde und als Frau sterben würde, Hormone zum Ansporn einer aggressiven maskulinen Natur verabreichen. Deshalb beschwichtigte er sie: »Es geht von alleine weg, wenn er älter wird. Sie brauchen ihn nicht grundlos zu quälen.« Beim Abschied rief er ihnen zu: »Ich brauche nichts weiter von Ihnen, kommen Sie nur ab und zu zur Kontrolle vorbei. Falls er im Kindergarten oder in der Schule Probleme bekommen sollte, geben Sie denen meine Nummer und ich kümmere mich um den Rest.«

Lascha Tsertswadse hatte das Stethoskop in beiden Ohren stecken und lauschte andächtig dem Heizungsrohr.

Als Medea Rache übte und die Liebe fand

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