Читать книгу Als Medea Rache übte und die Liebe fand - Tamar Tandaschwili - Страница 9
5. YOGA PARADISE
Оглавление»Haben Sie Ihrem Kind schon einmal beim Masturbieren geholfen?«
»Wie bitte?«
Irakli Tschimagadse nahm Tinas fassungsloses Gesicht einfach nicht zur Kenntnis.
»Nach dem Sex«, erzählte er weiter, »summt sie stundenlang vor sich hin. Anfangs habe ich nicht verstanden, was sie summte, bis ich irgendwann herausfand, dass es sich um den Soundtrack einer türkischen Seifenoper handelte. Die Pflegerin guckt manchmal so was. Der Sexologe meinte, sie solle keine Erotikszenen zu Gesicht bekommen.«
»Wie alt ist Ihre Tochter?«
»Sechzehn.«
»Okay.«
»Sie hat ein Nerventrauma. Sie spricht zwar ein wenig und kann gut laufen, aber letztes Jahr wurde sie geschlechtsreif.«
Irakli erzählte geordnet und sachlich wie ein unvoreingenommener Spezialist.
»Können Sie der Pflegerin nicht sagen, dass sie den Fernseher abdrehen soll?«
»Sie ist unsere elfte Pflegerin in Folge und hat schon über ein Jahr ausgehalten. Likuna hat jeden Tag Anfälle. Der längste dauerte vier Tage.«
»Oje. Und was kann man da machen? Also …«
»Sie hat Beruhigungsmittel verschrieben bekommen. Ich habe sie ihr einmal verabreicht und sie lag eine Woche lang herum wie tot. Konnte nichts essen, machte in ihre Windeln. Als ich sie zum Wechseln hochheben wollte, war ihr Skelett schwer wie ein Schiffsanker.«
Vielleicht hat ihn der Kummer verrückt gemacht, oder aber er war schon so ausgelaugt auf die Welt gekommen. Tina betrachtete Iraklis trendig geschnittene, angegraute Haare und die glatte Haut. In Gedanken erzählte sie Rogawa von den Details dieser seltsamen Begegnung, als wäre sie als Reporterin hier. Sie beschrieb den Mann mit zwei Worten: gut gepflegt.
»Und was passiert, wenn Sie ihr kein Beruhigungsmittel geben?«, fragte Tina.
»Sie reibt sich an den Wänden und steckt sich alles hinein, was sie in die Hände bekommt. Wenn ich nicht rechtzeitig eingreife, scheuert sie sich alles blutig. Dort unten.«
Das »Yoga Paradise« liegt neben dem »Thai Eden« auf der Perovskayastraße. Da die Mädchen vom »Thai Eden« ihre Dienste irgendwo zwischen Massage und Eros anbieten, wird das fernöstliche Selfcare-Paradies nur von jenen Tbilissern aufgesucht, deren Verlangen größer ist als die Angst um ihren guten Ruf. Tina und Irakli sind zu zweit hier. Das orangefarbene Licht gibt dem mit unpoliertem Stein gefliesten Raum das Flair eines intimen Boudoirs. Die Schallisolierung ist so wenig professionell, dass man seinen eigenen Atem und auch den der anderen hören kann. Tina kommt seit zwei Monaten her. Entspannt hat sie sich in der Zeit, beruhigt weniger. Im Vergleich zum Mann hinter ihr kann sie jedoch wahrlich als ausgeglichen bezeichnet werden. Er versucht schon seit längerem, sein Weinen zu unterdrücken. Um ihr ihre lesbischen Neigungen auszutreiben, wurde Tina in ihrer Kindheit regelmäßig von der Mutter in die Kirche gebracht. Beim Gottesdienst standen sie nebeneinander. Die Mutter wandte den Blick nicht vom heiligen Nikolaus, Tina von den Leuten, die kamen und gingen. Die unglücklichsten Menschen beteten zur Mutter Jesu und zum heiligen Nikolaus, die kummervollsten – zum Gekreuzigten. In den Tagen vor Ostern weinte hinter ihnen eine Frau mittleren Alters so laut, dass sich Tina nicht mehr zurückhalten konnte – sie rannte zu ihr und umarmte ihren Bauch. Die Frau war gerührt. Sie beugte sich hinunter und küsste sie auf den Kopf.
»Du wirst mal ein sehr glückliches Mädchen, glaube mir!«
In der Umkleide des »Thai Eden« war sie in den geschmackvoll gekleideten Mann hineingelaufen. »Ich wollte einen Tee trinken«, sagte Tina selbstvergessen. »Ich könnte auch einen vertragen«, entgegnete er, ohne sie ausreden zu lassen. Sie redeten ganze vier Stunden und 28 Minuten lang ununterbrochen im »Prospero Books«-Café. Hauptsächlich über ihr Leben. Als Journalistin hat Tina schon viel gesehen. Sie hat über das Erdbeben von Haiti berichtet, über die russische Invasion in der Ukraine, die Kriminalität in Südafrika, Amokläufe an US-Schulen, Tschernobyl zwanzig Jahre später, Kinderprostitution in Rio. Sie hat zwei Masterabschlüsse, in Sozialpolitik sowie in Politikwissenschaft – aber Sexualwissenschaft ist nicht ihre Stärke. Wie hätte sie sich vorstellen können, dass ein Mensch mit einem so schwerwiegenden neurologischen Trauma wie Iraklis Tochter Sex haben könnte; vom Bedürfnis danach ganz zu schweigen.
»Der letzte Sexologe meinte, wir sollten einen Prostituierten besorgen. Ich wusste nicht einmal, dass es männliche gibt.«
»…«
»Zuerst hat er den dreifachen Betrag verlangt. Ich stimmte zu und bezahlte ihn im Voraus. Doch sobald er Likuna sah, verschwand alle Farbe aus seinem Gesicht. Er warf mir das Geld vor die Füße und entschuldigte sich. Er könne das nicht. Ich bin ihm fast bis zum Innenhof gefolgt und habe ihn nur unter Flehen wieder ins Haus bekommen.«
»Und Likuna? Hat sie sich erschrocken?«
»Nein! Sie schien zu wissen, wer das war, und begann ihn zu streicheln, als würde sie einen Mann nach dem anderen haben. Danach summte sie den ganzen Tag vor sich hin und aß ohne Hilfe.«
»Kommt er noch mal vorbei?«
»Ab Oktober. Den Sommer über ist er zum Arbeiten in der Türkei. Er ist Geld gegenüber etwas leichtfertig eingestellt. Stell dir vor, er nimmt keinen Cent von mir! Mal schenke ich ihm Kleidung, mal irgendwelche Gadgets.«
»Ein seltsamer Prostituierter.«
»Er sei Sexualtherapeut, meinte er.«
»Sexualtherapeut? Noch nie gehört. Gibt es dafür eine Ausbildung?«
»Er hat einen Onlinekurs absolviert, aber die Prüfung für das Zertifikat nicht abgelegt.«
»Warte, heißt das, du musst ihr bis Oktober die Medizin geben?«
»Nein, keine Medizin mehr, Tina! Ich kann meine Tochter in halbtotem Zustand nicht mehr ertragen. Mir wurde eine Sexologin empfohlen. Lilli, ich habe den Nachnamen vergessen. In Wake, im ehemaligen sowjetischen Medizinkombinat. Willst du mitkommen? Ich geniere mich ein wenig. Der letzte Sexologe war ein Mann.«