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Kapitel 1

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„Spinnst du?“ Entgeistert starrte sie Doro an. „Nach all dem, was sie dir angetan hat, hilfst du ihr jetzt wieder?“ Rosas Freundin wand sich und wendete verlegen den Blick ab. „Schon klar, denkst du, ich bin doof? Aber was hättest du denn bitte an meiner Stelle getan? Eine alte Frau, die um Hilfe bittet, einfach im Stich lassen? Außerdem hat mich ihr Arzt angerufen und mich persönlich darum gebeten, täglich nach ihr zu sehen.“ Aha, alles klar, da also lag der Hase im Pfeffer! Schon lange hegte Rosa den Verdacht, dass Doro eine Schwäche für diesen Arzt hatte – wie eigentlich für die meisten Männer, die überhaupt Notiz von ihr nahmen. Eine sehr überschaubare Anzahl. Ganz entgegen ihrer sonstigen Art konnte sie heute jedoch mit ihrer Meinung nicht hinter den Berg halten (normalerweise hörte sie sich Doros Gejammer an, bemitleidete sie gebührend, und dachte sich ihren Teil). „Die Alte hat Dich die letzten 20 Jahre nur schikaniert, bei Deinem Vater schlecht gemacht und Dich um einen guten Teil Deines Erbes beschissen. Und jetzt machst Du ihr den Dreck weg?“ Sie konnte es nicht fassen. „Oder sag doch mal, was musst Du denn tun für sie?“. „Nichts Besonderes, nur halt kontrollieren, ob Elsa auch brav ihre Medikamente nimmt, ob sie isst und trinkt und nach dem Rechten schauen.“ „Und“, höhnte Rosa „seid ihr inzwischen beste Freunde?“ Doro wich ihrem Blick aus: „Ich fürchte, die ändert sich nicht mehr. Als ich vor gut acht Tagen das letzte Mal bei ihr war, nannte sie mich eine hohle Nuss.“ Unauffällig musterte Rosa ihre Freundin und seufzte: Meine Güte, der Sweater war eine Errungenschaft ihres letzten Kanada-Urlaubs vor neun Jahren und die Jeans war von Aldi und saß aber auch wirklich an keiner einzigen Stelle. Mit Sicherheit trug sie die schon seit locker einer Woche auf dem Leib. Und die Schuhe waren wie immer vor allem eins: bequem. Flach und ausgelatscht. Da Doro viel Wert auf Natürlichkeit legte, schminkte sie sich nie und Haare waschen wurde offensichtlich auch pauschal überbewertet. Es war Samstagnachmittag, sie saßen in Doros Keller und rauchten. Doro zog hastig an ihrer Selbstgedrehten: „Ich war schon seit Tagen nicht mehr bei ihr und habe voll das schlechte Gewissen. Länger kann ich es wirklich nicht mehr aufschieben. Kannst Du nicht mitkommen heute? Ich hoffe, wenn jemand dabei ist, zetert sie nicht gar so übel. “ Rosa verdrehte die Augen. Das war nun wirklich das Allerletzte, worauf sie Lust hatte: Einer 84-jährigen Hexe Honig ums Maul zu schmieren, um nicht beschimpft zu werden. Als hätte sie nicht genug damit zu tun, ihre eigenen Eltern und Schwiegereltern bei Laune zu halten! Und das auch noch am vorletzten Tag, an dem sie zu Hause war: Kommenden Montag musste sie für vier Tage auf Schulung nach Passau. Deswegen war sie sowieso schon mächtig angespannt. Aber am Ende konnte sie sich dann doch nicht überwinden abzusagen – wie immer meldete sich in solchen Fällen prompt eine wahnsinnig penetrante Stimme ganz hinten in Ihrem Kopf und flüstert das alte Lied: „Sie hat doch nur noch dich“.

Kleines Leben

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