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Kapitel 2

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Doros Hand fing plötzlich an zu zittern, als sie die Tür des niegelnagelneuen Zweifamilienhauses aufschloss. Rosa konnte es sich nicht erklären, aber auch ihr wurden die Knie schwach, ein ungutes und seltsames Gefühl stieg in ihr auf, als sie den Hausflur betraten. Alarmiert sahen sie sich um. Doch Treppenhaus und Aufzug wirkten blitzeblank, aufgeräumt und liebevoll dekoriert, sogar die riesigen Blätter eines Gummibaumes glänzten wie frisch poliert (was sie womöglich tatsächlich auch waren). Dazu schien die kalte Wintersonne durch die verglaste Haustüre und aus dem unteren Stockwerk war munteres Kindergeplapper zu hören – und dennoch: Rosa spürte, wie sich ihr Pulsschlag erhöhte und ihre Hände feucht wurden. Eine gruselige, dunkle Wolke, die sich rasend schnell ausbreitet, zog in ihrem Kopf auf. Auch Doro verlangsamte ihre Schritte, als sie aus dem Aufzug traten und die Wohnungstür ansteuerten. „Was ist denn?“ Es erforderte Rosas ganze Kraft, betont munter zu klingen, spürte sie doch eine lähmende Angst, die sie am liebsten das Weite hätte suchen lassen. Jede Faser ihres Körpers schrie: „Nichts wie raus hier!“ Dennoch zwang sie sich, weiter zu gehen. Das war doch wirklich albern! Was sollte schon sein? Angst vor der alten Frau? Doro, schussliger denn je, nestelte ewig am Türschloss rum, während Rosa schwer atmend daneben stand. Beim Öffnen der Wohnungstüre sträubten sich ihr buchstäblich die Haare ob des Gestanks, der ihnen entgegenschlug. Süßlich, ekelerregend und zutiefst abstoßend. Schwärme von Schmeißfliegen bevölkerten den Raum. Wussten die denn nicht, dass noch Winter war? Rosa befürchtete das Schlimmste, und folgte unsicheren Schrittes Doro, die wie in Trance ins Wohnzimmer ging und Elsas Namen rief.

Elsa konnte sie nicht mehr hören. Mit weit geöffneten Augen und mausetot lag sie in ihrem Fernsehsessel (es lief ein alter Köln-Tatort mit Ballauf und Schenk, Rosa kannte die Folge). Die alte Lady wirkte adrett und gepflegt wie immer: Pastellrosa farbene Bluse und beige, tadellos gebügelte Hose, die blond gefärbten Haare in ordentlichen Löckchen gelegt und offene, weiße Hausschuhe mit Absätzchen. Eine Dame, wie frisch aus dem Silver-Ager-Katalog, wäre sie nicht tot gewesen. Nur die käsig-gelblich glänzende Gesichtsfarbe und der verkrustete Speichel am Kinn störten das Bild. Doro erbrach sich auf den Perser, als eine fette Made zwischen Elsas hübsch bemalten Lippen hervorkroch. Rosa spürte, wie ihr Gesichtsfeld in Sekundenschnelle enger wurde und der kalte Schweiß rasant ihren gesamten Körper überzog. Kopfhaut und Hände fingen an zu kribbeln und die Brust wurde ihr eng, gleichzeitig breitete sich ein warmes Gefühl zwischen den Beinen aus. Nicht mehr fähig, ihre weichen Knie unter Kontrolle zu halten, fiel sie vorneüber in die frische Kotze und pinkelte sich ein. Es wurde dunkel um sie. Der Kreislauf war schon immer ihre größte Schwachstelle gewesen.

„Das ist meine Schuld“. Langsam kam Rosa wieder zu sich und versuche sich aufzurappeln: „Was?“ Sie starrte in Doros kalkweißes Gesicht, in dem riesige Augen aus dunklen Höhlen zu treten schienen. Wie der Tod sah sie aus. „Hätte ich die letzten Tage nach ihr geschaut, könnte sie noch leben.“ Mühsam hievte Rosa sich hoch. Ihr Atem ging nur stoßweise und sie zitterte wie Espenlaub. Vorsichtig schielte sie zu Elsa rüber: Sie hatte noch nie zuvor eine Leiche gesehen. Wie friedlich sie dalag! Keine Spur von Todeskampf oder Schmerz. Rosa selbst dagegen hatte eine nasse Hose und eine mit Erbrochenem versudelte Jacke an. Hätte es nicht so nach Verwesung gestunken – ihr Geruch wäre sicher auch nicht angenehm gewesen. Bei aller Verwirrung war klar, irgendjemand musste irgendwas unternehmen! Was machte man in solch einem Fall? Doro, wie paralysiert die Tote anstarrend, war total ausgefallen. Noch nie in ihrem Leben hatte sich Rosa Gedanken darüber machen müssen, welche Schritte in solch einem Fall angeraten waren. Das Naheliegendste war doch bestimmt, jemanden dazu zu holen, der sich um alles Weitere kümmerte? Eine geistige Erleuchtung brach sich durch den dichten Nebel ihres verkrampften Gehirns: „Wir müssen den ärztlichen Notdienst anrufen – irgendjemand muss einen Totenschein ausstellen, oder so.“ Sie googelte in ihrem smartphone nach der Telefon-Nummer, wählte sie an und stellte auf Lautsprecher. Als die Ansage beendet war und die Verbindung zum zuständigen Bereitschaftsarzt endlich hergestellt wurde, sprang Doro sie wie eine Furie aus heiterem Himmel an und riss ihr nahezu panisch das Handy aus der Hand. Verdattert ließ Rosa sie gewähren. „Das ist DER Arzt, Du weißt schon, Elsas Arzt, der Süße!“ Ihre Stimme überschlug sich. „Hast Du es denn nicht gehört? Der hat heute Dienst! Ich kann dem auf gar keinen Fall unter die Augen treten! Ich alleine bin verantwortlich für ihren Tod. Hätte ich auf ihn gehört und regelmäßig nach ihr gesehen, wäre nichts passiert! Der weiß das doch!“. „Was machen wir denn dann?“ Die Situation war dermaßen krass, Rosa wusste beim besten Willen nicht, wie sie reagieren sollte. Ihr Kopf brummte wie ein ganzer Bienenstock und nichts da drin war mehr fähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Komplett überfordert überließ sie ihrer panischen Freundin das Kommando. Musste ja dann wohl schiefgehen. „Ich gehe jetzt“, beschloss Doro ad hoc überraschend und machte sich beherzt an, Richtung Ausgang zu flüchten. „Wie, Du gehst jetzt?“ Mit einem Satz war Rosa an der Wohnungstür und zischte sie an: „So was macht man nicht! Deine tote Stiefmutter hier einfach liegen zu lassen.“ Doro drängte sich hysterisch an ihr vorbei und war nicht mehr aufzuhalten. Aber auch Rosa hatte ihrem eigenen Fluchtinstinkt nichts mehr entgegenzusetzen und gab nur zu gerne nach: „Eins sag‘ ich Dir: Wir regeln das morgen, wenn ein anderer Arzt dran ist. Wenn ich’s mir überlege: Keiner weiß, dass wir heute hier waren.“ Ihre verpinkelte Hose machte Rosa am meisten zu schaffen. Bis zu den Knien runter alles nass. Dazu die schmutzige Jacke und das viele Adrenalin: Sie lenkte ein, denn wie so oft siegten am Ende halt mal wieder Eitelkeit und Verdrängungsmechanismen bei ihr. Sie flohen Hals über Kopf aus der Wohnung und rannten die Treppe nach unten.

Bei den Briefkästen fing sie prompt die patente Mutti aus der Erdgeschosswohnung ab. „Hallo Frau Gerster“ sprach sie Doro an, „wie nett, dass Sie nach Ihrer Stiefmutter sehen.“ Offensichtlich war sie gutgelaunt und zu einem Schwätzchen aufgelegt. Mit hämmernden Herzen standen Doro und Rosa erstarrt wie die Ölgötzen da, während sie munter weiterplapperte: „Was täte die alte Dame nur ohne Sie! Geht es ihr wieder besser? Sie sah richtig angeschlagen aus die letzte Zeit. Glauben Sie mir, ich frage nicht aus Neugier, sondern weil wir für acht Tage in Winterurlaub fahren.“ Doro machte den Mund auf, kein Ton kam heraus. Rosa huschte hinter sie und lugte hinter ihrem Rücken vor (gute Deckung, da groß und sehr breit). Sie genierte sich entsetzlich und hoffte inständig, dass die Nachbarin nichts von ihrem furchtbaren Zustand gesehen hatte. In der Hoffnung, der unerträglichen Situation auf der Stelle entrinnen zu können, stammelte sie über Doros Schulter hinweg: „Äh ja, die ist wieder voll fit.“ Wenn Blicke töten könnten, hätte es in diesem Haus heute gleich zwei Leichenscheine gebraucht. Doro kniff hasserfüllt die Augen zusammen und blitzte sie von der Seite an. „Wie beruhigend, dann können wir morgen ja ohne Sorge fahren.“ Schön, wer solch fürsorgliche Nachbarn hat. Ungeschickt versuchte Doro, sich von Frau Braun zu verabschieden. Aber da war sie bei der Nachbarin an der falschen Adresse, die in ihnen willige Opfer gefunden hatte: Lobeshymnen über das sportliche Talent ihres dreijährigen Sprösslings und die außergewöhnliche Intelligenz der Tochter („vermutlich hochbegabt, deshalb macht die auch nur Quatsch im Kindergarten – aus Langeweile und Unterforderung“) wechselten sich ab mit Schwärmereien über das Hotel und die Wintersportmöglichkeiten im anstehenden Urlaub. Rosa saß wie auf heißen Kohlen und trat nervös von einem Fuß auf den anderen. Endlich fing in der Wohnung eines der Wunderkinder an zu zetern, und sie waren entlassen.

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