Читать книгу Kleines Leben - Tamira Wolf - Страница 6

Kapitel 3

Оглавление

Im Auto sah Rosa ihre Freundin eindringlich an: „Unglaublich, dass wir es wieder mal nicht auf die Reihe gekriegt haben, was richtig zu machen! Morgen wird diese Geschichte ordentlich geregelt, das sag‘ ich Dir! Du musst das hinter Dich bringen, und zwar so schnell wie möglich.“ Ihre Freundin fing an zu heulen, Druck hatte sie noch nie aushalten können. Das fehlt gerade noch! Ungeschickt versuchte Rosa, sie zu trösten: „ Jetzt beruhige Dich bitte. Wart’s ab, vielleicht erbst Du ja noch.“ „Ich erbe mit Sicherheit keinen Pfennig, auch nichts von dem, was mein Vater Elsa hinterlassen hat. Ha, Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht habe ich für sie und Dad zwar mal vor Jahren unterschrieben, aber das bringt gar nichts beim Erben. Du weißt, sie hat einen Sohn, Karl-Heinz, der vor einigen Jahren nach Polen gezogen ist“, stieß sie hervor. Rosa wunderte sich: „Ich dachte, sie hat keinen Kontakt mehr zu ihm. Und der erbt jetzt? Hatte sie sich nicht mit der Schwiegertochter verkracht?“ Doro brummte: „Das Testament ist deswegen aber sicher nicht geändert, Elsa hoffte bis zum Schluss auf eine Versöhnung mit dem Volltrottel.“ Auf den Sohn ihrer Stiefmutter war ihre Freundin aufgrund jahrelanger Erbstreitigkeiten gar nicht gut zu sprechen – ein weiteres dunkles Kapitel ihrer tragischen Familiengeschichte: Doro und ihre Schwester Simone waren als Babies adoptiert worden und wuchsen die ersten Jahre im Schwarzwald auf. Da die Adoption im Ort allgemein bekannt war, die Eltern aber nicht wollten, dass die Mädchen zu früh und von fremder Seite davon erfuhren, zog die Familie Anfang der 70-er zu Rosa ins Dorf. Hier wusste keiner was von der Adoption, aber der rechte Zeitpunkt für eine Aussprache mit den Kindern wurde immer verschoben und verschoben. Als Simone mit zwölf Jahren an Leukämie starb, trübte sich das Verhältnis der traumatisierten, gebrochenen Eltern zu ihrem verbleibenden Kind Dorothea, die schon immer im Schatten ihrer hübschen und lebhaften Schwester gestanden hatte, immer mehr ein. Es kam so weit, dass Doro während der Woche ins Internat musste. Aber am Wochenende krachte es mit schönster Regelmäßigkeit mit der Mutter. Es kam, wie es kommen musste: Im Streit gestand ihre Mutter, dass weder Doro noch Simone leibliche Kinder waren. Von da an war der Ofen aus. Doro glaubte nun zu verstehen, warum sie Zeit ihres Lebens unter der Lieblosigkeit in ihrem Elternhaus zu leiden hatte und zog mit 18 Jahren aus. Sie flog durchs Abi und machte eine Ausbildung als Bürokauffrau. Kurz darauf starb ihre Mutter an Krebs; die nie verarbeitete Trauer über den frühen Tod ihrer wunderbaren Lieblingstochter trug sicher nicht gerade zur Stärkung ihrer Widerstandskräfte gegen die heimtückische Krankheit bei. Am Ende hatte man den Eindruck, sie überließ dem Krebs nahezu kampflos das Feld. Doro schloss sich wieder enger mit ihrem geliebten, aber charakterschwachen Vater zusammen, der aber schon zwei Jahre nach dem Tod seiner Frau wieder heiratete. Seine neue Frau Elsa brachte einen halbwüchsigen Sohn – Karl-Heinz - mit in die Ehe. Neue Familie, neues Glück. Doro war wieder raus. Elsa zeigte von Anfang an kein gesteigertes Interesse an der erwachsenen Tochter ihres Mannes, die zudem aufsässig und eifersüchtig reagierte. Elsas Sohn heiratete jung, es folgten bald Schlag auf Schlag vier Enkel, denen Herr Gerster ein liebevoller und fürsorglicher Opa war. Doro wurde immer mehr zur komischen Randfigur – alleinstehend und in Gesellschaft gehemmt - und klammerte sich doch, je älter sie wurde, wieder mehr an ihren Vater. Das Verhältnis mit Elsa wurde jedoch zunehmend schwieriger, die letzten Jahre besuchte Doro ihren „Dad“ nur noch, wenn seine dominante Frau außer Haus war. Nichtsdestotrotz schaffte es ihr Vater zu Lebzeiten noch, ihr sein Haus zu überschreiben. Nach seinem Tod vor einigen Jahren zog Doro wieder in ihr Elternhaus, Elsa kaufte sich eine Wohnung in der Stadt. Laut Testament war Doro verpflichtet, Elsa bis zu deren Lebensende monatlich mit einer gewaltigen Summe zu unterstützen. Karl-Heinz versuchte indes vergeblich, mit Unterstützung seiner Mutter Doro das Haus streitig zu machen, indem die Rechtmäßigkeit der Übergabe angezweifelt wurde. Es kam zu einem Vergleich, bei dem Doro – mit den Nerven am Ende – zwar das Haus behielt, aber einer hanebüchenen Abfindung einwilligte, um Ruhe zu haben. Aber auch Karl-Heinz und seine Mutter zerstritten sich, Karl-Heinz‘ polnische Frau war der gleiche Dickkopf wie Elsa, das konnte nicht ewig gut gehen. Karl-Heinz zog mit seiner Familie nach Polen; dort hatte seine Frau inzwischen ein gut gehendes Reisebüro samt Haus geerbt, das die Eheleute nun gemeinsam betrieben. Kein Kontakt mehr zur alten Mutter in Deutschland. Was blieb Elsa anderes übrig, als sich im Alter der ungeliebten Stieftochter zu erinnern? Als Lückenbüßerin taugte sie immerhin gut.

Rosa wurde oft gefragt, warum sie es zuließ, dass Doro sich so in ihrer Familie einnistete. Die Antwort war einfach: Wo sollte Doro denn sonst hin? Rosa erzählte dann gern die Geschichte, wie Doro vor einigen Monaten mal zu einer Motorrad-Tour aufgebrochen war und sich von ihr mit den Worten verabschiedet hatte: „Ich habe gar kein gutes Gefühl bei der Sache. Bitte, Rosa, wenn mir was zustößt, kümmerst Du Dich dann um meine Angelegenheiten – Beerdigung und so?“ Rosa hatte fast der Schlag getroffen, aber dann musste sie doch erkennen: Da war tatsächlich sonst niemand, weit und breit nicht. Zwar sang Doro seit Jahren im Chor, engagierte sich im Betriebsrat ihrer Firma, hatte nette Arbeitskollegen, eine Motorrad-Clique und alle paar Jahre mal einen Lover, aber alles unverbindlich und nicht tiefer gehend. Die kamen zum Geburtstag und wussten nichts von ihr. Keiner, der sich verpflichtet fühlen würde, sich um sie zu kümmern, wenn’s hart würde.

Kleines Leben

Подняться наверх