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Kapitel 4

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Auf der weiteren Heimfahrt redeten sie kein Wort. Beiden dämmerte, dass sie sie sich in eine saublöde Situation gebracht hatten, die weitere Lügen nach sich ziehen würde. Was, wenn die Helikopter-Mutter von unten sich über die Stille im oberen Stockwerk wunderte? Gab sie ihrer Neugierde nach und klopfte oben an die Wohnungstür? Sie konnten nur hoffen, dass sie ist vollauf mit ihrer Urlaubsvorbereitung beschäftigt war und nicht weiter an die alte Frau im Haus dachte. Was, wenn morgen wieder derselbe Arzt Dienst hatte? Würde Doro zugeben, dass Sie schon seit über einer Woche nicht mehr bei ihrer Stiefmutter war und sich damit öffentlich schuldig bekennen? Das Beste wäre vielleicht, Doro würde behaupten, zwischendurch mal dagewesen zu sein, als Elsa noch wohlauf und am Leben war. Aber wie lange war die denn schon tot? Rosa hatte keine Ahnung, wie die Verwesungsmerkmale der Leiche zu deuten waren. Auf jeden Fall war sie – nicht mehr? – totenstarr gewesen. Musste sie erst mal in Ruhe googeln.

Doro setzte Rosa zu Hause ab und sie schlüpfe leise ins Haus. Unbemerkt rannte sie die Treppe hoch ins Schlafzimmer, zog sich in Windeseile um und stopfte die schmutzigen Sachen in die Waschmaschine. „Wo bleibst Du denn so lange?“ Ihr Mann Holger kam aus dem Bad und war offensichtlich schlechter Laune. „Wir haben alle Hunger! Hast Du vergessen, dass ich gleich zur Sitzung muss?“ Holger war seit zwei Jahren im Ausschuss des örtlichen Sportvereins. Eigentlich war er nicht wirklich der Typ für ehrenamtliches Engagement, aber ihm war damals, als er gefragt wurde, nur auf die Schnelle keine gute Ausrede eingefallen. Was ihn bis heute wurmte, deshalb wohl die aggressive Grundstimmung. Er hasste diese Besprechungen. Rosa versuchte, gut Wetter zu machen und fragte ihn, ob er alle Unterlagen beieinander hatte. Was natürlich nicht der Fall war, und auch keinen blassen Schimmer, wo er das Zeug abgelegt hatte. Rosas Liebster war in Sachen Ordnung schrecklich unstrukturiert und chaotisch. Man konnte sich hundertprozentig drauf verlassen, dass immer Hektik und Streit herrschten, wenn er was suchte, was er selbst irgendwo abgelegt hatte. Ebenso konnte man sich fest darauf verlassen, dass er nahezu jede Strecke zweimal fuhr, weil er zu Hause was vergessen hatte. Deshalb räumte sie auf Schritt und Tritt hinter ihm her, und fragte ständig nach, ob er alles dabei hatte. Konnte er aber auch nicht leiden: „Du behandelst mich wie ein kleines Kind!“

Auf jeden Fall war der Moment denkbar ungünstig, um mit ihm über Elsas Tod zu reden oder gar Verständnis zu erwarten. Schnell richtete sie ein kleines Vesper für die Familie (Holger aß mit Leidensmiene ein Brot im Stehen und verließ grußlos das Haus) und rief die Kinder. Unmotiviert und kein bisschen hungrig kamen die Früchte ihres Leibes aus ihren Zimmern geschlappt, und setzten sich an den Tisch. Mit jeder Faser ihrer jungen Körper demonstrierend, wie oberlästig diese Unterbrechung ihrer chilligen Handy-, TV-, Laptop-Aktionen empfunden wurde. Gegessen hatten Sie inzwischen natürlich auch schon: Rosa sah, dass die Tür des Süßigkeiten-Schrankes offen stand. Eigentlich waren ihre Kinder toll. Die drei wunderbarsten Menschen der Welt: Das Herz am rechten Fleck, ehrlich, anständig, fleißig und nicht dumm. Eigentlich. Im Großen und Ganzen, und eher außer Haus. Daheim war eben anders. Beiläufig erfuhr sie von einer verkackten Physikklausur (Sophia, 16), von einem kürzlich abgeschlossenen Fitness-Vertrag mit horrenden Gebühren und einer Kündigungsfrist von einer Trillion Jahren (Marvin, 18) sowie von einer anstehenden Geburtstags-Übernachtungsparty, zu der sie Johannes (12) JETZT zu fahren hatte. Selbstverständlich war weder ein Rucksack gepackt noch ein Geschenk gekauft. Sie drückte ihm 10 Euro in die Hand, suchte einen frischen Schlafanzug und die Zahnbürste raus und brachte ihn zu seinem Freund, der am Arsch der Welt wohnte. Wieder zu Hause erledigte sie mechanisch ihren Haushalt und drehte anschließend eine Runde mit dem Hund, den Kopf immer noch schwummrig von den Geschehnissen des Nachmittags. Ganz eindeutig hatte Rosa bei der Sache ein mulmiges Gefühl im Magen. Obwohl – was sollte eigentlich schon passieren? Es würde folgendermaßen ablaufen: Doro erledigte morgen den Anruf beim Arzt, Polizei oder dem Beerdigungsinstitut, der Totenschein würde ausstellt werden und kein Mensch würde – hoffentlich – jemals eine Rechtfertigung verlangen, warum keiner nach der Frau gesehen hatte. Dann konnte das Beerdigungsinstitut die weitere Abwicklung übernehmen, den Sohn anrufen und alles würde seinen geregelten Weg gehen können. Eins war jedenfalls klar: Rosa würde morgen nicht mehr in diese Horror-Wohnung gehen, das konnte Doro nicht von ihr verlangen! War ja schließlich nicht ihre Stiefmutter. Sie hoffte inständig, dass Doro dies genauso sah und beschloss, erst gegen Mittag bei ihr telefonisch nachzufragen, ob sie die notwendigen Schritte unternommen hatte, um den Sterbefall ordnungsgemäß abzuwickeln.

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