Читать книгу Migräne mit Hirnstammaura - Leben mit einer seltenen, schweren Form der Migräne - auch bekannt als "Basilarismigräne" - Tanja Götten - Страница 6
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Wie äußert sich eine Hirnstammaura?
Die Symptome der Migräne mit Hirnstammaura ähneln einerseits weitaus gefährlicheren Krankheitsbildern, wie z. B. Schlaganfall oder Hirntumor, können aber als solche auch in Verbindung mit Angst und Hyperventilation auftreten.
Aufgrund der existentiell bedrohlich wirkenden Symptome, erleiden Betroffene häufig zusätzlich Panikattacken, die jedoch nicht Auslöser der Hirnstammaura sind. Durch sorgfältige Anamnese und (ggf. stationär durchgeführte) gründliche Diagnostik ist eine Abgrenzung gut möglich.
Symptomliste
Zur neurologischen Symptompalette, die in der Fachliteratur geschildert werden, gehören:
• extremer (Dreh-)Schwindel (spezieller Vertigo, der im Vergleich zum Schwindel bei der „normalen“ Migräne deutlich stärker auftritt) - auch bis mehrere Tage nach dem Anfall anhaltend
• Übelkeit und Erbrechen (Nausea)
• Sprachstörungen (Dysarthrie /Aphasie) - auch tagelang anhaltend
• Gleichgewichtsstörungen
• Ohrgeräusche, Tinnitus und Hörminderung
• Sehstörungen: Doppelbilder (Diplopie), Lichtblitze (Photopsie), Gesichtsfeldausfälle (Skotome) oder vorübergehende Blindheit auf beiden Augen (Amaurosis fugax)
• unwillkürliche Augenbewegungen (Nystagmus)
• Störungen der Bewegungsabläufe (Ataxie / zerebelläre ataktische Störungen), Zittern in den Beinen, unwillkürliche Bewegungen oder anormale Reflexe (Pyramidenbahnzeichen)
• Bewusstseinsstörung, Verwirrtheit und Desorientiertheit, vorübergehender Gedächtnisverlust (Amnesie)
• (Körper-)Wahrnehmungsstörungen (z.B. Metamorphosie: Gegenstände werden anders wahrgenommen als sie real sind – z. B. größer oder in Bewegung; auch „Alice-im-Wunderland-Syndrom“)
• gleichzeitige beidseitige Missempfindungen, Taubheitsgefühle, Kribbeln (Parästhesien und Sensibilitätsstörungen)
Lähmungserscheinungen oder Schwächegefühle (unvollständige Paresen) werden heute als Diagnosekriterien für andere Migräneformen (hemiplegische Migräne) aufgeführt. Manche Betroffenen schildern ihre Symptome trotzdem mit diesen Begriffen, möglicherweise, weil die Unterscheidung zwischen einer muskulären Schwäche und einem Sensibilitätsverlust ohne genaue Kenntnis der medizinischen Begrifflichkeiten und Zusammenhänge kaum möglich ist. Typisch ist beispielweise eine motorische Schwäche beider Arme, die sich von den Schultern abwärts, Richtung Hand ausbreitet und nach 10-15 Minuten allmählich wieder verschwindet (vgl. Göbel 2012).
Weitere Symptome, die vor, während oder nach einem Anfall auftreten können, sind: Herzrasen, Herzrhythmusstörungen, Blässe und Todesangst (Angor Animi), sowie alle möglichen Veränderungen des Affektes. Dazu können neben Angst und Panik auch gegenteilige Gefühlsausbrüche, wie Euphorie und besondere Freude gehören.
Alle Symptome bilden sich vollständig wieder zurück, d.h. sie sind vollständig reversibel und hinterlassen in aller Regel keine bleibenden Schäden.
Die in über 90 Prozent auftretenden, schweren Kopfschmerzen (häufig am Ende des akuten Anfalls, als starker Druck empfunden), sind im Hinterkopf lokalisiert. Die Aurasymptome und die ggf. auftretenden Schmerzen nehmen (anders als bei anderen Migräneformen) Betroffene beidseitig wahr. Dies ist auch ein relativ eindeutiges Zeichen für das Vorliegen einer Hirnstammbeteiligung, da sie somit beiden Hirnhälften (Hemisphären) gleichzeitig zuzuordnen sind.
Aus den Erfahrungsberichten von Betroffenen lassen sich noch weitere Symptome ableiten, die jedoch oftmals von den Ärzten erst entsprechend in die Diagnosekriterien „übersetzt“ werden müssen. Diese „Übersetzungsarbeit“ kann entscheidend zur korrekten Diagnosefindung beitragen. Ein Grund dafür, dass Symptomschilderungen nicht immer sofort zur korrekten Diagnose führen, ist die unterschiedlich „hinterlegte“ Definition der Bezeichnungen von Körpersensationen. Wenn ein Patient beispielsweise sagt: „Mir ist schwindelig“, müsste es in manchen Fällen medizinische korrekt heißen: der Patient hat „Wahrnehmungsstörungen“ oder ein „Benommenheitsgefühl“.
Vor allem im akuten Fall, der sich für Betroffene oft lebensbedrohlich anfühlt, ist es jedoch schwer bis unmöglich, die gerade vorliegenden Symptome sachlich korrekt und für ärztliches Personal eindeutig zu schildern. Dies führt häufig zu Missverständnissen und begünstigt Fehldiagnosen. Darüber hinaus wird in vielen Notfallambulanzen oder Arztpraxen allein aus Zeitmangel selten dezidiert nachgefragt, um die „Feinheiten“ der Patientenschilderungen herauszuarbeiten und komplexe Abläufe in Hinblick auf die neurologische Bedeutsamkeit zu erfassen. Vor allem unerfahrene Ärzte scheitern hier oft am eigenen (nicht ausreichend trainierten) „Bauchgefühl“ für die vorliegende Symptomatik.
Obwohl die Diagnosekriterien für die Migräne mit Hirnstammaura relativ eindeutig erscheinen, werden unter anderem aus den oben geschilderten Gründen die Symptome in der Praxis häufig nicht als solche erkannt. Zudem gibt es eine „saubere“ Migräne mit Hirnstammaura eher selten. Die meisten Betroffenen erleben eine individuelle Symptommixtur, die häufig nur dem spezialisierten Facharzt „etwas sagen“ und entsprechend entschlüsselt werden kann.
Hinzu kommt, dass die Migräne mit Hirnstammaura immer noch wenig bekannt ist. Auch in der allgemeinen Ausbildung der Fachärzte für Neurologie kommt sie meist nur im Nebensatz vor – wenn überhaupt. Die wenigsten Behandelnden in „normalen“ Hausarztpraxen oder Notfallambulanzen, in denen Betroffene sich aufgrund ihrer Symptome vorstellen, haben (bewusst) schon mal einen Patienten mit dieser Art der Migräne gesehen oder gar erfolgreich behandelt.
Leider zeigen die vielen Patientenberichte, dass auch die eindeutig neurologischen Symptome nicht immer gewissenhaft abgeklärt werden, sondern ohne weitere Diagnostik als psychosomatisches Krankheitsgeschehen eingestuft werden. Das ist weder fachmedizinisch korrekt, noch hilfreich für die betroffenen Menschen, wie man sich leicht vorstellen kann. Neurologische Symptome und Ausfallerscheinungen sollten immer gründlich und zeitnah abgeklärt werden.
Auch bei bereits diagnostizierten Patienten sollten Anfälle, die ungewöhnlich schwer oder anders verlaufen als üblich, mit einem fachkundigen Arzt besprochen werden, um Komplikationen wie Schlaganfall und Co. auszuschließen. Im Zweifel rechtfertigt ein solcher Anfall auch das Kontaktieren der Notfallambulanzen oder einen Anruf beim Rettungsdienst.
Wenn Betroffene das Gefühl haben, mit ihren Beschwerden nicht ernst genommen zu werden, sollten sie sich nicht scheuen, ihre Behandler zu wechseln, oder eine Zweitmeinung (am besten von einem spezialisierten Neurologen) einzuholen. Die Erfahrung der diagnostizierten Betroffenen zeigt, dass Beharrlichkeit und Geduld sich in diesem Falle auszahlen und erst damit wichtige Schritte in Richtung einer erfolgreichen Therapie gemacht sind.
Tipp:
Wenn Sie den begründeten (!) Verdacht haben, dass Sie an einer Migräne mit Hirnstammaura leiden könnten, beziehen Sie sich möglichst nicht auf „Dr. Google“ oder ein Buch (wie dieses hier). Viele Ärzte reagieren abweisend, wenn sie hören, woher Ihre Ideen stammen (und das nicht zu Unrecht). Cleverer ist es in diesem Fall, einen Verwandten oder Bekannten mit ähnlichen Symptomen zu erwähnen, oder den Hinweis eines (notfalls imaginären) Medizinerkollegen – evtl. auch eines Physiotherapeuten - „weiterzugeben“. Das ist natürlich nicht die feine Art, aber der Zweck heiligt in diesem Falle die Mittel. Wenn Sie sachlich bleiben und nicht „besserwisserisch“ auftreten oder gar die Diagnose vorwegnehmen, sind die meisten Ärzte erfahrungsgemäß offen und durchaus interessiert daran, genauer hinzuschauen. Sie werden die Diagnostik entsprechend gewissenhaft angehen.
An alle mitlesenden Ärzte: Bitte sehen Sie Ihren Patienten diese Art „Notwehr-Maßnahme“ gegebenenfalls nach. Zum Ausgleich gibt es im Serviceteil dieses Buches unter dem Punkt Praxisleitfaden für den Medizinbetrieb auch ein paar ähnliche “Tricks“ im Umgang mit „speziellen“ Patienten für Sie.