Читать книгу Migräne mit Hirnstammaura - Leben mit einer seltenen, schweren Form der Migräne - auch bekannt als "Basilarismigräne" - Tanja Götten - Страница 9

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4 Ursachen

Warum bekommt man Migräne mit Hirnstammaura?

Eine genaue Ätiologie, das heißt, ein zugrunde liegender ursächlicher Zusammenhang der Migräne mit Hirnstammaura ist bis heute nicht bekannt. Wie bei anderen Migränearten auch, spielen nach vorherrschender Lehrmeinung, neben genetischen Vorbedingungen auch individuelle Trigger und Umweltfaktoren eine Rolle.

Laut US-amerikanischem Verzeichnis seltener Erkrankungen vermuten einige Wissenschaftler, dass Nervenanomalien und/oder eine veränderte Durchblutung bestimmter Teile des Gehirns (insbesondere des Hirnstamms und der Okzipitallappen) eine Rolle bei der Entwicklung der Migräne mit Hirnstammaura spielen könnten. Eine genetische Ursache wird ebenfalls von vielen Wissenschaftlern angenommen. Für die Migräne allgemein kennt man heute über 40 Gene, die für ein erhöhtes Migränerisiko verantwortlich sind. Einige Forschungsberichte legen nahe, dass das bei der familiären hemiplegischen Migräne beteiligte Gen auch an der Migräne mit Hirnstammaura (ohne Hemiplegie) beteiligt sein könnte.

In Forschungsarbeiten aus den Jahren 2005 und 2009 wird beschrieben, dass die Anfälligkeit für Migräne mit Hirnstammaura in seltenen Fällen durch eine Mutation des ATP1A2-Gens oder des CACNA1A-Gens begünstigt wird. In diesen Fällen kann die Erkrankung bei mehr als einem Familienmitglied auftreten (vgl. Ambrosini 2005 / Robbins 2009). Eine eindeutige genetische Verknüpfung oder genetische Konstellation konnte bisher jedoch nicht abschließend belegt werden.

Da gemäß ICHD-3 die Migräne mit Hirnstammaura eine Unterart der Migräne mit Aura ist, gehen viele Fachleute davon aus, dass sie das Ergebnis einer kortikalen Ausbreitungsdepression ("spreading depression") ist.

Man kann sich diesen Vorgang wie eine Welle vorstellen, die sich aufgrund der Depolarisation von Nervenzellen (Neuronen und Glia) über die Großhirnrinde ausbreitet. Das heißt vereinfacht: Wird eine Nervenzelle über ein bestimmtes Maß hinaus durch Transmitter gereizt, gerät sie aus ihrem „Normalzustand“ (Ruhepotenzial) in einen „Alarmzustand“ (Aktionspotenzial): Sie depolarisiert.

Die Zelle spult dann eine Art Programm ab (öffnet z. B. bestimmte Ionenkanäle), das ihre Membranen durchlässiger für bestimmte Ionen (= elektrisch geladene Teilchen) macht. Dies startet wiederum neue Reaktionen anderer Nervenzellen.

Bei dieser „Nervenreizung“ gilt das Alles-oder-Nichts-Prinzip, das heißt, es geht erst los, wenn ein bestimmtes Niveau an Reizungsintensität erreicht ist - dann aber in voller Ausprägung.

Es folgt eine länger anhaltende neuronale Untererregbarkeit. Dieser Vorgang ist wahrscheinlich derjenige Mechanismus, der für die Migräne-Aura sorgt, so die Forscher, die sich die Vorgänge während der Migräne näher angeschaut haben.

Im Unterschied zur Migräne mit typischer Aura, bei der nur eine der Hirnhälften betroffen ist, sind bei der Migräne mit Hirnstammaura - wie bereits erwähnt - beide Hirnhälften (Hemisphären) betroffen. Alle Symptome fühlen die Betroffenen dann auch beidseitig im Körper – meist symmetrisch. Es kribbeln dann beide Arme oder Beine, Taubheiten entwickeln sich beidseitig im Gesicht, Sehstörungen betreffen dann beide Augen, was dann bis zu vorrübergehender, vollständiger Blindheit führen kann.

4.1 Anatomie des Hirnstamms

Um zu verstehen, warum Störungen im Bereich des Hirnstamms so weitreichende und verschiedenartige Symptome zur Folge haben können, sollte man sich ein wenig mit der Anatomie und Funktionsweise dieser Gehirnregion befassen.

Betroffenen kann dieses Wissen helfen, besser mit der Angst, die häufig während einer Hirnstammaura auftritt, umzugehen. Es gilt: Wenn ich weiß, was da gerade passiert, ist es nur noch halb so bedrohlich.

Die drei Teile des Hirnstamms

Der Hirnstamm besteht aus drei Teilen: der Medulla oblongata (auch verlängertes Rückenmark genannt), dem Pons (deutsch: „Brücke“) und dem Mesencephalon (Mittelhirn).

Die Medulla oblongata ist der Bereich, in dem alle Nervenstränge vom Rückenmark in das Gehirn eintreten und zum Bestandteil des Gehirns werden. Wo genau das Rückenmark aufhört und die Medulla oblongata anfängt, lässt sich nur schwer genau festlegen. Es ist ein fließender Übergang. Die meisten Mediziner setzen die Grenze direkt hinter dem Kleinhirn. In ihrem Verlauf „spannt“ sich die Medulla oblongata rautenförmig auf. Man nennt diesen Bereich deshalb auch Rautenhirn oder Rhombencephalon.

In der Region der Medulla oblongata werden viele lebenswichtige und zentrale motorische und sensorische, also für Bewegung und Wahrnehmung wichtige Aufgaben des Körpers geregelt. Dazu gehört auch die Steuerung des Darms, des Herzschlags und der Atmung. An dieser Stelle des Hirnstammes treten sowohl die Nerven aus dem Innenohr ein, als auch das Hörsystem. Störungen in diesem Bereich wirken sich deshalb direkt auf Gleichgewicht und Hörempfinden aus. Auch Gesichtsmuskeln und der Kauvorgang werden hier über sogenannte Moto-Neurone (= „Bewegungsnerven“) koordiniert. Darüber hinaus treten Zahn- und Kiefernerven und der Trigeminusnerv aus der Medulla oblongata aus.


Die Fortsetzung der Medulla oblongata nach oben, zu den restlichen Teilen des Gehirns ist der Pons. Im unteren Teil des Ponses befinden sich viele überkreuz verlaufende Fasern. Unter anderem wird hier die Mimik, also der Gesichtsausdruck und die Nahrungsaufnahme gesteuert.

Das danach folgende Mittelhirn (Mesencephalon) gehört ebenfalls zum Hirnstamm.

An der Grenze zum Großhirn liegt das „Dach“ des Mittelhirns (Tectum mesencephali bzw. Vierhügelplatte). Die beiden oberen paarigen Hügel (die „Colliculi superiores“) spielen eine wichtige Rolle bei reflexgesteuerten und willkürlichen Augenbewegungen. Die beiden unteren ("Colliculi inferiores") tragen zur Funktion des Gehörs bei.

Ebenfalls im Mittelhirndach liegt die Substantia nigra. Diese (durch angelagertes Melanin dunkel gefärbte) Struktur, ist für die Verschaltung von Bewegungsimpulsen und -abläufen zuständig. Hier sorgen die Neurotransmitter GABA und Dopamin für die Weiterleitung der Nervenimpulse.

Von der Medulla oblongata bis zum Zwischenhirn reicht ein ausgedehntes, diffuses Netzwerk von Nervenzellen (Neuronen): die Formatio reticularis oder Retikulärformation (lateinisch formatio = „Gestaltung“, „Bildung“ und reticularis „netzartig“). Diese Netzstruktur besteht aus zu höheren Hirnzentren aufsteigenden Nerven („Afferenzen“) mit sensorischen Funktionen (= „wahrnehmen“) und zum Rückenmark absteigenden Nerven („Efferenzen“) mit motorischen Funktionen (= „steuern“).

Die genaue Funktion der Retikulärformation ist noch nicht abschließend erforscht. Man weiß jedoch, dass sich dort relativ viele, diffus verteilte sogenannte Riesenneurone („giant neurons“) befinden, die eine wichtige Rolle bei einer Schreckreaktion spielen.

Die Formatio reticularis hilft im Zusammenspiel mit anderen Strukturen (z. B. Vestibulariskerne) bei der Kontrolle von Haltung und Bewegung. Sie reagiert dabei auf Impulse aus dem Innenohr und beeinflusst sowohl die Geschwindigkeit als auch die Qualität von Bewegungsabläufen. Störungen in diesem Hirnbereich können sich demnach als unkoordiniert wirkende oder verlangsamte oder ruckartige Bewegungen bemerkbar machen.

Alle Teile, die zusammen den Hirnstamm bilden, liegen beim Menschen wie ein Baumstamm über den unterliegenden Strukturen, so lässt sich auch die Namensgebung erklären.

Manche Autoren ordnen auch noch Teile des Zwischenhirns (Diencephalon) dem Hirnstamm zu (vgl. Thompson, R. F. 2001). Ob diese Zuordnung für das Krankheitsgeschehen der Migräne mit Hirnstammaura relevant ist, geht aus der Fachliteratur nicht hervor oder wurde bisher noch nicht untersucht.

4.2 Pathophysiologie – Wie entsteht die Migräne?

Warum Migräne überhaupt entsteht und warum sie in vielen Fällen besonders schwere Formen annimmt und/oder chronifiziert, konnte bislang noch nicht vollständig erforscht werden. Wie bereits beschrieben gibt es jedoch eindeutige Hinweise auf genetische Faktoren, die zusammen mit bestimmten Umwelteinflüssen und biologischen Besonderheiten das Auftreten von Migräne wahrscheinlich machen.

Mit Hilfe verschiedener Bildgebungsverfahren gewann man in den letzten Jahren einige neue Erkenntnisse. Forscher fanden mehr darüber heraus, was im zentralen Nervensystem während der Migräne vorgeht. So wurden verschiedene strukturelle und funktionelle Veränderungen im Gehirn festgestellt.

Als Schlüsselkomponenten bei der Migräne sieht man heute das trigeminovaskuläre System, das heißt, die beteiligten Strukturen sind diejenigen Teile des Trigeminusnervs, die zum Auge gehören („ophthalmische“ Teile), Bindegewebsschichten, die das gesamte zentrale Nervensystem umschließen („Meningen“ insbesondere die „Dura Mater“, das heißt die äußere harte Hirnhaut), sowie intrakranielle Gefäße. Auch Impulse, die von Nervenzellen im peripheren zum zentralen Nervensystem geleitet werden (sogenannte „Afferenzen“) spielen offenbar eine Rolle.

Inzwischen gilt das Neuropeptid CGRP (Calcitonin Gene Related Peptide) dabei als Schlüsselmediator in der Migräneentstehung. Zusammen mit der Substanz P bewirkt CGRP eine Gefäßerweiterung ("Vasodilatation") der Hirnhautgefäße, den Austritt von Blutflüssigkeit aus den Gefäßen in das umliegende Gewebe ("Plasmaextravasation") und eine Degranulation von Mastzellen, was zu einer Freisetzung entzündungsfördernder („proinflammatorischer“) Mediatoren, wie Histamin und Zytokin, führt (vgl. Bastian 2019).

Diese "neurogene Entzündung" verursacht dann ausstrahlende Schmerzimpulse - den typischen Migränekopfschmerz. Die Schmerzempfindlichkeit steigt derart an, dass jeder Pulsschlag, der über die Blutgefäße übertragen wird, als pulsierender Schmerz empfunden wird.

Auch Östrogen (wichtigstes weibliches Hormon) kann Migräneanfälle auslösen. Ein möglicher Grund dafür, dass Frauen häufiger als Männer unter Migräne leiden. Migränen können ausgelöst werden, wenn der Östrogenspiegel ansteigt oder schwankt. Dies ist zum Beispiel in der Pubertät der Fall. Steigt der Östrogenspiegel an, sind Migräneanfälle bei Mädchen häufiger als bei Jungen zu beobachten.

Viele Frauen leiden kurz vor, während oder kurz nach der Menstruation ebenfalls vermehrt unter Migräne. In den letzten drei Monaten einer Schwangerschaft kommt es in der Regel seltener zu Migräne – vermutlich, weil der Östrogenspiegel relativ stabil ist. Nach der Geburt (wenn der Östrogenspiegel relativ schnell wieder sinkt) gibt es dann wieder häufiger Migräneattacken.

Auch in den Wechseljahren schwankt der Östrogenspiegel mitunter stark. In dieser Lebensphase fällt es dann besonders schwer, die Migräne in den Griff zu bekommen.

4.3 Forscherdebatte

In neueren Fachartikeln und zuletzt auf einer virtuellen Konferenz der European Academy of Neurology im Juni 2021 führte man eine formelle Debatte darüber, ob es Migräne mit Hirnstammaura (Migraine with Brainstem Aura (MBA)) überhaupt gibt oder nicht.

Es entspannen sich Diskussionen darüber, ob die Symptome der Hirnstammaura tatsächlich dem Hirnstamm entspringen, oder ob nicht auch der Kortex dafür verantwortlich sein könnte, wie eine Professorin der Université de Montpellier in Frankreich vermutet. Sie bezweifelt die Existenz der Migräne mit Hirnstammaura, da die einzelnen Symptome auch durch Störungen im Kortex erklärbar seien. Zahlreiche Studien hätten aufgezeigt, dass eine kortikale Dysfunktion die gleichen Symptome hervorrufen kann, die für eine Migräne mit Hirnstammaura charakteristisch sind. Als Beispiele führt sie Sprachstörungen (Dysarthrien) bzw. Doppelbilder (Diplopien) an, die auch durch die Beteiligung des Gyrus precentralis oder des parieto-okzipitalen Kortex verursacht werden können. Patienten mit Hirnstammaura seien zwar real, aber ihre Symptome würden möglicherweise keine Dysfunktion des Hirnstamms widerspiegeln, so die Professorin.

Viele andere Mediziner, die zur Migräne mit Hirnstammaura geforscht haben, argumentieren, dass in der Literatur und in durchgeführten Telefoninterviews definitiv Patienten gefunden wurden, auf die die Diagnosekriterien der ICHD zutreffen. Mithin existiere die Migräne mit Hirnstammaura per definitionem, wenn auch nur in seltenen Fällen. Auch ermittelten dänische Forscher in durchgeführten Telefoninterviews unter 293 Migränebetroffenen mit Aura 2,2% mit den Diagnosekriterien der Migräne mit Hirnstammaura (vgl. EAN 2021 und Yamani et al 2019).

Andere Ärzte akzeptieren zwar die grundsätzliche Möglichkeit, dass einzelne Symptome auch durch kortikale Vorgänge entstehen könnten, zweifeln aber an, dass es sich bei der bei den Betroffenen vorliegende Häufung und Dramaturgie der Hirnstamm-Symptome um Zufälle handelt. Ein Auftreten der Symptome als Folge von kortikalen Vorgängen sei zumindest wesentlich unwahrscheinlicher.

Die European Academy of Neurology (EAN) wurde 2014 aus der European Neurological Society (ENS) und die European Federation of Neurological Societies (EFNS) gegründet. Sie ist eine gemeinnützige, unabhängige Organisation, die mehr als 45.000 Mitglieder sowie 47 europäische nationale Gesellschaften vertritt. Die medizinische Gesellschaft setzt sich auf europäischer Ebene dafür ein, kontinuierliche Ressourcen für die Erforschung neurologischer Störungen und Erkrankungen sicherzustellen, und arbeitet gleichzeitig eng mit Patientenorganisationen zusammen, um sicherzustellen, dass die Interessen und Perspektiven der Patienten einbezogen werden.

Die EAN organisiert zum Beispiel Online-Bildungsangebote, Stipendien, Förderprogramme für den neurologischen Nachwuchs und den jährlichen Kongress mit jeweils mehr als 6.000 Teilnehmenden.

Denn wie wir auch im Kapitel 4.1 (Anatomie des Hirnstammes) gesehen haben, erscheinen die Zusammenhänge mit Hirnstammfunktionen im Anfallsgeschehen absolut logisch. Warum ein Zweifel hieran überhaupt aufkommt, um zugunsten einer unwahrscheinlicheren, noch komplizierteren Erklärung zu argumentieren, mag sich nicht recht erschließen. Es entsteht der Eindruck, dass eventuell persönliche Motive der Zweiflerin hier eine Rolle spielen. Welche dies sein könnten, und ob diese einen Nutzen für die Betroffenen haben, lässt sich nicht beurteilen.

Nutzen für die Betroffenen

Die Debatten der Mediziner um Diagnosekriterien und Ursache hat für die Betroffenen im Alltag praktisch keine Bedeutung. Sowohl die Symptomatik, als auch die Behandlungsmöglichkeiten sowie Komplikationen und Koerkrankungen bleiben in jedem Falle ähnlich, wenngleich zu überdenken ist, ob die Einschränkung bei der Einnahme von Triptanen, bei denen die basiläre Migräne als Kontraindikation gilt, im Falle einer kortikalen Ursache unter Umständen entfallen könnte.

Für Betroffene wäre es wesentlich wichtiger, dass Ärztenachwuchs generell mit Informationen über die Migräne mit Aura und im Speziellen über die besonderen Migräneformen (auch die mit Hirnstammaura) versorgt würden, bevor man sich auf pathophysiologische Nebenschauplätze begibt. Sinnvoller wäre es, Studien- und Ausbildungspläne zu modifizieren, so dass (potenziell) Betroffene schnelle und treffsichere Diagnostik erhalten, um sie einer adäquaten Behandlung zuführen zu können.

Weiterhin sollte dringend dafür gesorgt werden, dass die durchweg unnütze und schädliche Psychopathologisierung der Hirnstamm-Migräne-Patienten ein Ende hat. Dies liegt nicht nur im Interesse der Betroffenen, es könnten so auch Kosten und Ressourcen im Gesundheitssystem eingespart werden, die heute immer wieder durch falsche Diagnostik, Medikation, Verschlimmerungen und Folgeerkrankungen entstehen.

Migräne mit Hirnstammaura - Leben mit einer seltenen, schweren Form der Migräne - auch bekannt als

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