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4. KAPITEL

Auf dem Bahnsteig war es zugig. Alicia zog den Reißverschluss ihres roséfarbenen Blousons hoch, den sie am Shoppingtag mit ihrer Mutter gekauft hatte. Ihre Hände vergrub sie in den Jackentaschen und stieß dabei an ihr Handy darin. Sie hatte es lautlos und auf Vibrationsalarm gestellt, sodass sie eingehende Nachrichten sofort bemerkte.

Insgeheim hoffte sie doch noch auf eine Nachricht von Elias, auch wenn sie bis jetzt nichts mehr von ihm gehört hatte. In den letzten Schultagen war er ihr aus dem Weg gegangen und sie hatte sich immer wieder Claras Worte und ihren Entschluss in Erinnerung gerufen, um nicht schwach zu werden und ihm hinterherzulaufen. Und obwohl sie standhaft geblieben und kurz davor war, zu einem neuen, unvergesslichen Kapitel in ihrem Leben aufzubrechen, nagte ein dumpfer Schmerz an ihrem Herzen.

»Melde dich, sobald du in St. Peter-Ording angekommen bist«, sagte ihre Mutter. »Hast du auch alles dabei? Dein Ticket?«

Alicia zog die Fahrkarte aus dem vorderen Fach ihrer Umhängetasche hervor und hielt sie ihrer Mutter entgegen. »Ist immer noch da. Mach dir nicht so viele Sorgen, Mama.«

»Kaum das Fachabi in der Tasche und dabei, den nächsten großen Schritt zu tun, schon bin ich zu gluckenhaft«, witzelte ihre Mutter, auch wenn ihr Lächeln dabei ein wenig zittrig war.

»Auf Gleis zwei fährt der Regional-Express zwei Richtung Münster ein«, tönte die automatische Ansage durch die Lautsprecher.

Alicia steckte die Fahrkarte wieder zurück in die Tasche. »Du bist ja auch wirklich komisch. Ich bin nicht ganz alleine da und Tante Heide wohnt auch in der Nähe. Mir wird nichts passieren.«

»Das weiß ich. Aber es ist so ein großer Schritt für dich. Ich hab schon Angst davor, was als Nächstes kommt. Der Auszug?« Ihre Mutter schüttelte den Kopf und umarmte sie. »Mach’s gut, meine Kleine. Bis in vier Wochen. Hab eine unvergessliche Zeit, ja? Und grüß Heide von uns.«

»Ich melde mich nachher«, versprach Alicia und stieg in den Zug ein. Sie drehte sich noch einmal um und winkte, dann suchte sie sich einen freien Platz.

In Münster stieg sie in den IC Richtung Husum um. Dort war ein Fensterplatz in der zweiten Klasse für sie reserviert. Alicia packte ihre Tasche auf eine Gepäckablage und zog ihren Blouson aus. Alicia beobachtete, wie die Welt draußen an ihr vorbeiflog, und ließ ihre Gedanken in die Ferne schweifen. In Husum musste sie noch einmal umsteigen, um dann bis zu ihrem Ziel an der nordfriesischen Küste, der Bahnstation Bad St. Peter-Ording, zu fahren. Die Strecke kannte Alicia im Schlaf. In den Ferien war sie schon häufiger mit dem Zug zu ihrer Tante gefahren.

Sie dachte an Tante Heides schönes, reetgedecktes Backsteinhaus mit der blau-weißen Klöntür, das an der nördlichsten Spitze von St. Peter-Ording lag, den großen vorgelagerten Garten mit seinen unzähligen Hortensien-Sträuchern und die duftenden Rosenranken, die über der Eingangstür wuchsen. Und natürlich an den unglaublich weiten Strand, der zwölf Kilometer lang und an manchen Stellen bis zu zwei Kilometer breit war. So groß wie 2.000 Fußballfelder, sagte ihre Tante Heide immer. Alicia verzog den Mund, weil sie daraufhin wieder an Elias denken musste, der nichts anderes als Fußballfelder im Kopf hatte.

Verärgert schüttelte sie den Kopf und lenkte ihre Gedanken zurück nach St. Peter-Ording und die nächsten Wochen. Ihre Mutter hatte vielleicht ein wenig übertrieben, aber sie hatte recht damit, dass das Praktikum im Nationalpark ein wichtiger Schritt für sie war. Und sie konnte es nicht erwarten, ihn zu gehen.

»Nächster Halt, Bad St. Peter-Ording«, kündigte eine Frauenstimme sechs Stunden später das Ziel ihrer Reise an. Der kleine Bahnhof von St. Peter-Ording, der bloß aus einem Gleis bestand, war gleichzeitig auch die Endstation auf der Strecke. Viel weiter hätte man ohnehin nicht fahren können, es sei denn, die Deutsche Bahn hätte einen Meereswasserbahnhof bauen wollen. Bis zum Strand war es von dort aus bloß ungefähr einen Kilometer.

Alicia klappte ihr Buch zu, in das sie sich nach ihren Tagträumen vertieft hatte, stand auf und schnappte sich ihre Taschen. Kaum dass sie ausgestiegen war, atmete sie tief die salzige Luft ein, die keinen Zweifel daran aufkommen ließ, dass das Meer nicht weit entfernt war. Sie schaute sich um, musste aber nicht lang suchen.

»Alicia!« Ihre Tante stand vor dem aus roten Backsteinen erbauten ehemaligen Bahnhofsgebäude, in dem nun ein schickes Surfer-Café mit Shop untergebracht war, und winkte ihr zu. Alicia lief auf sie zu und ließ sich in eine feste Umarmung ziehen. »Moin! Endlich bist du da!«

»Ja endlich. Die Bummelbahn von Husum bis hierher braucht ja immer eine Ewigkeit.«

»Die eine Stunde! Wir im Norden mögen es eben gemächlich«, lachte ihre Tante. »Lass uns gehen, wir müssen die Zeit nutzen, die wir zusammen haben.«

Sie gingen auf einen klapprigen Kleinwagen zu. Den fuhr Tante Heide schon, solange Alicia denken konnte. »Du hast ja immer noch dein altes Auto«, stellte sie überrascht fest.

»Alt, aber zuverlässig seit fast 20 Jahren.« Schwungvoll hievte sie die Reisetasche in den Kofferraum und schloss die Klappe. »Da können die neueren Modelle nicht mithalten.«

Sie stiegen in den Wagen ein. »Stimmt wohl. Unser Auto war letzten Monat in der Werkstatt, obwohl Mama und Papa es erst Anfang des Jahres gekauft haben.«

»Siehst du.« Tante Heide startete den Motor und fuhr los. »Übrigens hast du Glück, dass du heute bei Kaiserwetter angekommen bist. Gestern hatten die Schafe auf den Deichen keine Locken mehr.«

»Oje!« Alicia wusste, was das bedeutete. Das sagte ihre Tante immer, wenn es an der Küste einen schweren Sturm gegeben hatte, der selbst den stärksten Matrosen über die Reling befördert hätte.

»Wie geht es denn Mama und Papa?«

»Ganz gut. Sie haben sich darüber gefreut, dass ich den Praktikumsplatz bekommen habe. Von wegen sturmfreie Bude und so. Aber dann ist Mama doch irgendwie sentimental geworden. Von wegen, ihr kleines Mädchen bricht in die große, weite Welt auf.« Sie grinste ihre Tante an.

»St. Peter-Ording, das Tor zur Welt«, lachte Tante Heide. »Gib ihnen ein paar Tage, dann finden sie sicher wieder Gefallen an der kinderfreien Zeit. Du bist doch sicherlich auch ganz gerne mal alleine mit deinem Freund.«

»Jaa …«, erwiderte Alicia nur und schaute dabei angestrengt aus dem Seitenfenster. Nein, sie würde ihrer Tante nicht erzählen, dass Elias mittlerweile ihr Ex war. Das würde nur die schöne Stimmung verderben.

»Was macht er denn in den Ferien ohne dich?«

»Er ist in einem Fußballcamp in München. Fußball ist für ihn das, was für mich Robben sind. Hast du eigentlich in letzter Zeit Robben gesehen?«, lenkte sie das Gespräch auf ein anderes Thema, um nicht wieder in trübsinnige Gedanken zu verfallen.

»Robben sehe ich immer wieder mal. Du weißt ja, sie sonnen sich auf den Sandbänken und manchmal schauen sie auch am Strand vorbei. Du wirst bestimmt die eine oder andere Robbensichtung in diesem Sommer haben.«

»Darauf freue ich mich schon!« Alicia lächelte ihre Tante an. »Es ist so schön, endlich wieder hier, bei dir, zu sein. St. Peter-Ording hat mir richtig gefehlt! Lass uns heute unbedingt noch was unternehmen.«

»Auf jeden Fall. Vielleicht hat deine Mutter ja recht mit ihrer Sorge. Wer weiß, wo es dich nach der Schule hinzieht und wie viel wir dann noch von dir haben.« Tante Heide schaute weiter nach vorn auf die Straße, aber Alicia konnte das Grinsen in ihrem Gesicht sehen. Das mochte sie so an ihrer Tante – sie war immer so locker und cool. Und wenn jemand wusste, was es hieß, seinen Träumen zu folgen und zu tun, was man wollte, dann war sie es als Freigeist der Familie. Auch sie war schon immer ihrem Herzen gefolgt.

Die Fahrt mit dem Auto dauerte keine fünf Minuten. Die Frühstückspension ihrer Tante lag im Norden vom Ortsteil Ording, direkt am Deich. Ein so vertrauter Anblick für Alicia, der sie manchmal vergessen ließ, dass dieser harmlos aussehende, grasbewachsene Grenzwall die Bevölkerung vor schlimmen Sturmfluten bewahren musste. Abgesehen davon, dass die darauf weidenden Schafe für manchen Bewohner die Existenzgrundlage sicherten … jetzt war sie mit ihren Gedanken schon wieder bei den Tieren gelandet.

Tante Heide ging mit ihr ins Dachzimmer hinauf und stellte ihre Reisetasche neben der Tür ab. »Wie sieht es aus? Möchtest du dich ausruhen oder bist du direkt bereit, dich ins St. Peteraner Getümmel zu stürzen?«

»Auf jeden Fall bereit fürs Getümmel! Aber erst mal muss ich Meldung zu Hause machen, dass ich gut angekommen bin.«

»Gut, dann treffen wir uns in einer Viertelstunde auf der Terrasse?«

»Okay.« Als ihre Tante das Zimmer verlassen hatte, ging Alicia zu dem kleinen weißen Sprossenfenster und öffnete es. Sogleich wehte ihr eine Brise salzige Meeresluft um die Nase und sie konnte das aufgeregte Geschnatter von Möwen hören, die über das Haus und weit auf das offene Meer hinausflogen, das sich vor ihren Augen erstreckte und in dem die Sonne glitzerte wie funkelnde Diamanten.

In der Ferne konnte sie den eindrucksvollen rot-weißen Turm mit seinen beiden baugleichen Häusern erkennen: Der Westerhever Leuchtturm, der ab morgen für vier Wochen ihr Praktikumsplatz und Zuhause sein würde. Alicia musste lächeln und spürte ein kribbeliges Glücksgefühl, das durch ihren Körper strömte. Sie konnte den nächsten Tag kaum erwarten.

Leuchtfeuerherzen

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