Читать книгу Leuchtfeuerherzen - Tanja Janz - Страница 12

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5. KAPITEL

Alicia holte ein paar frische Anziehsachen und Waschzeug aus ihrer Tasche und stellte dabei fest, dass sie ihre Gummistiefel zu Hause vergessen hatte. Sie seufzte kurz auf. Jedes Mal vergaß sie mindestens eine Sache, wenn sie verreiste. Nach einer kurzen Katzenwäsche in dem kleinen Bad, das zu dem Zimmer gehörte, zog sie ein frisches T-Shirt und Jeans an. Ihr Gesicht, die Arme und Beine schmierte sie mit Sonnencreme ein, was wetterunabhängig an der Küste wichtig war, um einen Sonnenbrand zu vermeiden. Danach schlüpfte sie in flache Stoffschuhe und griff nach ihrer Sonnenbrille.

Schon auf der Treppe hörte sie Tante Heides Stimme, bevor sie sie sah. Ihre Tante unterhielt sich auf der Terrasse mit einer Frau und einem Mädchen, die aussahen wie Mutter und Tochter und vermutlich Feriengäste in der Pension waren. »Den Reiterhof können Sie gar nicht verfehlen, wenn sie auf dem Deich Richtung Ortsteil Böhl laufen«, erklärte ihre Tante.

Sie hielt sich im Hintergrund, bis die beiden sich verabschiedet hatten, und ging dann zu ihrer Tante. »Feriengäste von dir?«

Tante Heide nickte. »Mutter und Tochter«, bestätigte sie Alicias Vermutung. »Sie sind das erste Mal in St. Peter und wollten wissen, ob es hier die Möglichkeit gibt, Strandausritte zu machen.«

»Darauf hätte ich auch mal wieder Lust. Ist in der Stadt einfach nicht dasselbe.«

»Sie sind auf dem Weg zum Reiterhof in Böhl. Wenn du dich beeilst, dann holst du sie bestimmt noch ein.«

»Quatsch. Reiten kann ich auch an einem anderen Tag«, erwiderte Alicia und hakte sich bei ihrer Tante unter. »Jetzt will ich mit dir St. Peter unsicher machen. Wo fangen wir an?«

»Lass dich überraschen. Hol dir ein Fahrrad aus dem Schuppen und folge mir unauffällig.«

Wenig später fuhren sie mit den Rädern südwärts über den Deich. Alicia hatte den Oberkörper weit nach vorne geneigt und musste kräftig in die Pedale treten. Sie hatten tüchtigen Gegenwind, der Alicias Haare wild durcheinanderwirbelte und in ihren Ohren laut rauschte.

Immer wieder ließ sie ihren Blick über blühende Salzwiesen gleiten, aus denen sich Vögel in die Lüfte erhoben und durch die Wasserläufe wie ein Geflecht aus Adern flossen. Durch die Priele lief bei Ebbe das Wasser in die Nordsee ab und bei Flut wieder herein. Früher war sie oft mit ihrer Tante bei Niedrigwasser auf den ausgeschilderten Naturpfaden in den Salzwiesen unterwegs gewesen und hatte in den Wasserrinnen Meerestiere wie Garnelen oder Fische beobachtet. Ob sie das auch während ihres Praktikums tun und dabei noch mehr über die Meeresbewohner erfahren würde?

»Wir gehen ins Zentrum!«, rief Tante Heide ihr über die Schulter zu, als sie den Vorplatz an der Seebrücke erreicht hatten. Sie stiegen von ihren Rädern ab und schoben sie über den Platz. Hier war mächtig was los – wie immer. Touristen flanierten über die lange Seebrücke, die zum Strand führte, oder machten eine Pause auf einer der zahlreichen Sitzgelegenheiten der Strandpromenade. Kinder hüpften lachend durch die künstlich angelegten Wasserläufe und die Terrasse des Fischrestaurants vor der Brücke war voll besetzt mit Gästen.

Laute Musik zog Alicias Aufmerksamkeit auf sich. Sie drehte sich unwillkürlich nach den Hip-Hop-Klängen um. Eine Gruppe Jungs mit Sporttaschen und laut aufgedrehtem Gettoblaster gingen an ihr vorbei. Sie schaute i hnen hinterher. Einer der Jungs hatte sich einen Fußball unter den Arm geklemmt. Er trug eine verspiegelte Sonnenbrille und ein blaues Basecap. Ihr stockte der Atem. Diese Statur und die Art, wie er ging. Das war doch Elias! Ihre Gedanken überschlugen sich. Was machte er in St. Peter-Ording? Das Fußball-Sommercamp war doch in München, dachte sie völlig konfus.

Wie vor den Kopf gestoßen, stand sie da und starrte den Jungen an, als er sich plötzlich zu seinem Kumpel umdrehte, sodass Alicia ihn von vorne sah. Augenblicklich entwich ihr ein erleichterter Seufzer. Das war gar nicht Elias, bloß ein Typ, der eine große Ähnlichkeit mit ihrem Ex-Freund hatte.

Ex-Freund? Hatte sie das gerade wirklich gedacht? Es fühlte sich fremd, falsch an und ihr Herz zog sich schmerzhaft zusammen.

»Alicia?« Ihre Tante war in einiger Entfernung vor einem Coffee-to-go-Stand stehen geblieben und blickte sich nach ihr um. »Wo bleibst du denn?«

»Ich komme!« Alicia fühlte sich ertappt, wenngleich sie wusste, dass Tante Heide ihre Gedanken nicht lesen konnte. Sie war die letzten Tage so stolz auf sich gewesen, dass sie nicht oft an Elias gedacht und ihn noch nicht einmal auf Instagram gestalkt hatte. Doch in ihrem Unterbewusstsein schien es anders auszusehen. Clara hatte recht, sie brauchte dringend Ablenkung, die ihr dabei half, über Elias hinwegzukommen.

»Geht es dir gut? Du siehst ja aus, als hättest du einen Geist gesehen.« Tante Heide schaute sie forschend an.

Alicia winkte ab und versuchte, wieder ihre Fassung zurückzugewinnen. »Jaja, alles gut. Ich dachte bloß, ich hätte jemanden gesehen, den ich kenne.«

»Und?«

»Habe mich vertan.« Alicia zuckte leichthin mit den Schultern.

Ihre Tante legte den Kopf schräg und sah sie forschend an. »Ich glaube dir kein Wort. Ich sehe dir doch an der Nasenspitze an, dass etwas nicht stimmt.«

Tante Heide kannte sie zu gut, da war abstreiten zwecklos. »Du hast recht. Ich bin ziemlich durch den Wind. Elias hat letzte Woche mit mir Schluss gemacht«, gab sie leise zu. Dieses Mal war sie auf den schmerzhaften Stich gefasst, verfluchte ihr Herz aber dennoch, weil es einem Typen hinterhertrauerte, dem sie egal war.

»Und das erzählst du mir erst jetzt? Ich könnte schon auf dem Weg nach Recklinghausen sein und diesem Jungen einen Fußball zwischen …«

»Ist schon gut«, fiel Alicia ihr ins Wort, damit ihre Tante sich nicht weiter aufregte. »Ich wollte nicht die gute Stimmung deswegen kaputt machen. Er hat mir schon die letzte Woche versaut«

»Papperlapapp.« Sie überlegte einen Moment. »Planänderung. Wir gehen jetzt sofort ins Eiscafé Venezia.«

»Das machen wir doch sonst immer ganz zum Schluss.«

Tante Heide nickte. »Sonst hat ja auch noch kein Junge einfach mit dir Schluss gemacht.«

Sie schlossen die Räder an einen Ständer, unweit vom Dünen-Hus, und gingen zum Eiscafé, das mitten im Zentrum lag. Sie hatten Glück und fanden einen freien Tisch vor der Eisdiele. Bei einem Schokoladenbecher mit Sahne erzählte Alicia ihrer Tante die ganze Geschichte mit Elias. Sie war froh, neben Clara auch mit einem Erwachsenen darüber reden zu können. Ihrer Tante konnte sie schon immer alles erzählen. Obwohl sie zehn Jahre älter als ihr Vater war, nicht verheiratet und keine Kinder hatte, hatte ihr Alicia schon von klein auf alle Geheimnisse anvertraut. Heide hörte geduldig zu.

»So ein Idiot!« Ihre Tante schüttelte den Kopf. »Der wird schon noch feststellen, dass er einen großen Fehler gemacht hat, und dann wird er kleinlaut bei dir ankommen und sich entschuldigen.«

»Glaubst du wirklich?«, fragte Alicia zweifelnd.

»Habe ich jemals mit dem, was ich gesagt habe, unrecht gehabt?«

Alicia überlegte kurz. Tante Heide hatte schon häufiger Dinge »vorausgesagt«, die dann tatsächlich eingetroffen waren, obwohl es zunächst unmöglich schien, dass sie recht behalten sollte.

»Denk an das Praktikum. Ich habe ja von Anfang an gesagt, dass es klappen wird«, erinnerte sie Alicia.

»Das stimmt … aber gerade kann ich mir wirklich nicht vorstellen, dass das mit Elias wieder was wird. Für ihn ist nur Fußball wichtig.«

Tante Heide schwang den Löffel in der Luft und sah sie eindringlich an. »Das werden wir sehen!«

»Ich sage dir auf jeden Fall sofort Bescheid, wenn Elias sich meldet.« Alicia aß den Rest ihres Schokoladeneises und ließ sich von der Geschmacksexplosion in ihrem Mund auf andere Gedanken bringen.

»Geht es dir jetzt besser?«

»Viel besser, dank dir und dem Eis. St. Peter-Ording hat einfach zu viele verlockende Dinge. Ich wünschte, ich könnte öfter hier sein.«

»Wichtig ist, dass du die Zeit hier genießt und keinen Gedanken an diesen Jungen verschwendest. Lass uns shoppen gehen.«

»Gute Idee. Ich brauch auch noch Gummistiefel, hab meine zu Hause vergessen.«

Sie bummelten durch die kleinen Geschäfte im Zentrum von St. Peter-Ording. Tante Heide fand in einer kleinen Boutique ein T-Shirt und Alicia kaufte gelbe Gummistiefel mit weißen Punkten.

»Weißt du, was ich am jetzt liebsten machen würde?«, fragte Alicia, als sie den Schuhladen verließen.

»Nein. Was denn?«

»Im Meer schwimmen gehen. Das habe ich schon so lange nicht mehr gemacht.«

»Okay, dann lass uns zurückradeln und unsere Badesachen holen. Es ist ein herrlicher Sommertag. Am besten gehen wir am Ordinger Strand schwimmen. Hier im Bad ist es doch immer sehr rummelig.«

Sie fuhren mit den Rädern zurück zur Pension nach Ording und kurze Zeit später stürzten sich Alicia und ihre Tante in die Fluten der kühlen Nordsee.

»Das Wasser ist heute herrlich«, sagte ihre Tante, die auf dem Rücken neben Alicia herschwamm.

»Stimmt! Gar nicht so kalt, wie ich es in Erinnerung hatte.« Alicia tauchte und schwamm einige Meter unter Wasser. Als sie wieder auftauchte, rieb sie sich die Augen. »Dafür hatte ich nicht mehr an das Brennen durch das Salzwasser in den Augen gedacht.«

»Je öfter du im Meer tauchst, umso weniger brennt es. Das lässt sich trainieren.« Tante Heide kraulte zu ihr herüber. »Mir reicht es für heute, ich schwimme zurück an Land. Willst du noch im Wasser bleiben?«

»Ja, ich bleibe noch ein bisschen hier«, sagte sie gut gelaunt.

»Dann bis später.« Ihre Tante schwamm zurück zum Strand und Alicia kraulte immer schön parallel zum Ufer, da sie über die Tücken von Strömungen und Wellen Bescheid wusste, die selbst sehr gute Schwimmer in Seenot bringen konnten.

Auf der Höhe der Surfschule ließ sie sich auf dem Rücken mit den Wellen zum Strand treiben. Sie schloss die Augen und genoss das schwerelose Gefühl, die warmen Sonnenstrahlen auf ihrem Gesicht und gleichzeitig das kühlende Salzwasser, das sie umgab. Der Ausflug mit ihrer Tante und das Gespräch im Eiscafé hatten ihr gutgetan. Selbst wenn sie sich nicht vorstellen konnte, dass Elias sie jemals um Entschuldigung oder gar um eine zweite Chance bitten würde.

Mit einem kräftigen Ruck schleuderte die Brandung sie auf den nassen Strandboden und vertrieb damit die Gedanken an Elias. Alicia blieb noch einen Moment auf dem Rücken liegen, während die schäumende Gischt ihren Körper umspülte. Als sie aufstand, entdeckte sie nicht weit von ihr entfernt eine Gruppe Surfer, die draufgängerisch mit ihren Brettern über die Wellen sprangen. Alicia bewunderte sie für ihren Mumm und wünschte sich insgeheim, ein kleines bisschen mutiger zu sein, denn bisher hatte sie sich noch nicht getraut. ein Surfbrett zu besteigen. Doch dieser Sommer schien ihr ideal zu sein, ihren Respekt vor dem Windsurfen endlich zu überwinden. Sie spürte eine ungekannte Abenteuerlust in sich aufkeimen, wollte neue Dinge erleben und dabei über sich hinauswachsen. Vielleicht blieb ihr ja neben dem Praktikum noch genügend Zeit, um einen Surfkurs zu belegen.

Sie beobachtete die vier Surfer noch eine Weile, bis sie mit ihren Brettern zurück an den Strand kamen, wo sich sogleich eine Traube weiblicher Fans um sie scharte. Wie beim Fußball, dachte Alicia und rollte mit den Augen. Ihr fiel auf, dass einer von ihnen besonders umschwärmt wurde. Ein attraktiver Typ mit einem strahlenden, ansteckenden Lachen. Als er auf einmal in ihre Richtung sah, senkte sie rasch den Blick. Schlagartig wurde ihr bewusst, dass sie die ganze Zeit unverhohlen zu ihnen rübergestarrt hatte.

Schnell ging Alicia zurück zum DLRG-Pfahlbau, wo sie ihre Sachen bei Tante Heides Bekanntem gelassen hatten, und zog sich dort um. Von der Veranda des Holzhauses aus blickte sie über den Strand und raus auf die weite Nordsee, über der die Sonne schon tiefer stand. Für einen Moment waren all ihre Sorgen wegen Elias weit weg und eine angenehme Ruhe breitete sich in ihr aus. Eine Möwe landete neben ihr auf dem Geländer und beendete die ruhige Stimmung mit einem hellen Schrei. Alicia schulterte ihre Badetasche und ging die Treppe des Pfahlbaus hinunter. Barfuß schlenderte sie durch den warmen Sand am Strand.

Am Abend lag sie todmüde im Bett unter dem Reetdach. Ihre Glieder fühlten sich schwer an, aber in ihrem Kopf liefen die Gedanken auf Hochtouren. Sie schaute auf ihr Handy. In zwölf Stunden war sie schon am Leuchtturm, jubelte sie innerlich. Und gleichzeitig war sie tief in ihrem Innern enttäuscht, denn sie hatte immer noch keine Nachricht von Elias bekommen. Alicia verzog den Mund. Es war gar nicht so leicht, keinen Liebeskummer zu haben. Obwohl Elias sie wirklich mies behandelt hatte und Clara recht hatte, dass sie etwas Besseres verdient hatte. Das sollte eigentlich Grund genug sein, keinen Gedanken mehr an ihn zu verschwenden.

Sie verschränkte ihre Arme über der Bettdecke und überlegte, was sie von ihren Gedanken an ihn ablenken könnte. Sie könnte Clara eine Nachricht schreiben? Aber mit der Zeitverschiebung würde sie ewig auf eine Antwort warten müssen. Vielleicht brauchte sie auch einfach bloß frische Luft, um ihr Gehirn durchzulüften. Sie stand auf und zog sich eine Sweatshirtjacke über. Da sie keine Lust hatte, sich noch mal komplett umzuziehen, entschied sie, dass auch das geöffnete Sprossenfenster für ihr Vorhaben ausreichen würde.

Sie steckte den Kopf hinaus in die kühle Abenddämmerung, schloss die Augen und atmete langsam tief ein und dann wieder aus. Das wiederholte sie so lange, bis das komische Gefühl in ihrem Bauch, das die Gedanken an Elias auslösten, verschwunden war. Nach einer Weile öffnete sie die Augen wieder. Alicia fühlte sich tatsächlich ein wenig besser und fasste einen Entschluss: In den kommenden Wochen würde sie jeden Gedanken an Elias verdrängen. Sie würde die Zeit am Leuchtturm mit jeder Faser ihres Körpers genießen. Jetzt war Zeit für sie!

Das Meer lag ruhig und friedlich hinter dem Deich und ganz weit hinten konnte sie ein regelmäßiges Blitzen ausmachen. Das Leuchtfeuer vom Westerhever Leuchtturm. Andächtig beobachtete sie die Lichtsignale des Seezeichens, bis es so dunkel war, dass sie den Turm und die beiden kleinen, baugleichen Häuschen nicht mehr erkennen konnte.

Morgen würde sie von dort aus hierherblicken, mehr über die Natur und Tiere lernen, vielleicht neue Freunde finden und hoffentlich viele unvergessliche Erinnerungen schaffen. Der Gedanke ließ sie lächeln und Alicia krabbelte zurück ins Bett, um mit dieser glücklichen Vorstellung einzuschlafen.

Leuchtfeuerherzen

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