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Blaue Lippen

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Meine Enttäuschung darüber, dass ich während Daniels Geburt in einer Vollnarkose gelegen hatte, nagte an mir. Schließlich gehörte es sich doch für eine gute Mutter, bei wichtigen Ereignissen im Leben ihres Kindes gegenwärtig zu sein und nicht durch Abwesenheit zu glänzen – schon gar nicht bei der Geburt. Doch meine Unzufriedenheit darüber verflog relativ schnell, als ich kurz darauf auf ein normales Stationszimmer verlegt wurde, wo schon meine Familie auf mich wartete.

»Überraschung!«, rief mein Vater und wedelte mit seiner Videokamera vor meinem Gesicht hin und her.

Zuerst wusste ich nicht, was dieses Theater sollte, doch dann begriff ich, und meine Augen weiteten sich. »Nein, Daddy! Sag jetzt nicht, dass du die Geburt gefilmt hast!«, rief ich ungläubig, aber hoffnungsvoll.

»Und ob.« Er strahlte mich an. »Ich konnte doch nicht zulassen, dass du Daniels Geburt verschläfst.«

Ein Knaller! Ich wäre ihm am liebsten vor Freude um den Hals gefallen. Das liebte ich so sehr an meiner Familie: Wir waren immer füreinander da und kannten uns in- und auswendig. Der eine kümmerte sich immer um den anderen. Das war eine Selbstverständlichkeit. Sogar dann, wenn derjenige im künstlichen Tiefschlaf lag und keine Wünsche mehr äußern konnte.

»Die Aufnahme kannst du dir in Ruhe anschauen, wenn du mit Daniel wieder zu Hause bist«, sagte er gut gelaunt und stemmte die klobige Kamera mit einer Hand wie eine Hantel nach oben. In den 90er-Jahren war dies beinahe ein kleines Work-out, da die Geräte damals eine beachtliche Größe und ein entsprechendes Gewicht hatten.

»Ein Glück, dass wenigstens du Blut sehen kannst«, sagte ich zu meinem Vater. »Es gibt ja so einige Leute, die da zarter besaitet sind«, meinte ich und bedachte meinen Mann, der bereits beim Anblick eines Blutstropfens käsig um die Nase wurde, mit einem gespielt genervten Seitenblick.

Paul zuckte die Schultern. »Ich habe eben eine Blutal-lergie«, konterte er scherzhaft. »Nur deshalb bin ich ja auch kein Chirurg geworden.«

»Mama, wo ist denn Daniel?«, fragte nun mein ältestes Kind ungeduldig. Ryan brannte geradezu darauf, endlich seinen kleinen Bruder sehen zu dürfen.

Ich klingelte nach einer Schwester, die mir kurz darauf mein neugeborenes Baby in den Arm legte. Mein Vater schaltete sofort wieder seine Videokamera ein und filmte die erste Familienzusammenkunft mit Daniel – ohne dabei zu vergessen, uns Regieanweisungen zu geben.

»Oh, was für ein süßes Baby«, sagte meine Schwiegermutter, wobei ihre Augen verdächtig glänzten. Sie verliebte sich offenkundig sofort in ihren Enkel, so wie es mir zuvor ebenfalls ergangen war. Meine Schwiegermutter strich ihm sanft über den roten Flaum, der sein Köpfchen bedeckte, und hauchte ihm einen Kuss auf die Stirn. »Hallo, Daniel. Ich bin deine Oma.«

»Die Haare hat er von mir«, verkündete Paul aufgeregt das Offensichtliche und war sichtlich stolz auf seinen jüngsten Sohn. »Und kerngesund ist er obendrein. Das wird mal ein richtiger Champion. Einen Kämpfer erkenne ich auf den ersten Blick.«

Dann beugte Ryan sich über seinen kleinen Bruder. Er sagte kein Wort, zog stattdessen seine Nase kraus und schien angestrengt zu überlegen.

»Was hast du denn, Ryan?«, wollte ich wissen.

»Hm, also, irgendwie sieht Daniel komisch aus?«

»Wie meinst du das? Wieso sieht er denn komisch aus?« Ich bedachte mein Baby sogleich mit einem prüfenden Blick, obwohl ich von den Ärzten wusste, dass Daniel quietschfidel war und es überhaupt keinen Grund zur Besorgnis gab. Doch das war vermutlich bloß der normale Mutterinstinkt, der Wunsch, das Baby zu beschützen.

»Er sieht ziemlich verschrumpelt aus, findest du nicht? Fast wie eine Rosine aus meinem Müsli. Bleibt das jetzt für immer so? Habe ich dann einen Schrumpel-Bruder?«, fragte mein Sohn und blickte besorgt drein. Er schien sich wirklich große Sorgen um sein Brüderchen zu machen.

Ich wusste nicht, ob ich meinem inneren Impuls nachgeben und schallend loslachen sollte oder es meine mütterliche Pflicht war, meinem Ältesten zu erklären, dass Babys nach der Geburt durchaus auch übergangsweise verschrumpelt aussahen. Ich schaute hilfesuchend zu meinen umstehenden Familienangehörigen, die ebenfalls verzweifelt gegen das Lachen ankämpften. Das gab mir dann den Rest. Ich lachte laut los und meine Familie stimmte mit ein. Ryan verstand zuerst überhaupt nicht, worüber wir uns so köstlich amüsierten. Er schaute sein Schrumpel-Brüderchen die ganze Zeit mitleidig an und brachte uns dadurch nur noch mehr zum Lachen. Nachdem wir uns alle wieder beruhigt hatten, erklärte ich ihm schließlich, dass Daniel schon bald nicht mehr schrumpelig aussehen würde und dass er sich keine Sorgen um seinen kleinen Bruder machen müsse.

Am nächsten Morgen brachte mir eine Säuglingsschwester mein Baby, damit ich ihm die Brust geben konnte. Dies tat ich seit Daniels Geburt alle paar Stunden, je nachdem, wann sich bei meinem Sohn der Hunger meldete.

»So, da ist der kleine Daniel wieder.« Die Schwester lächelte mich an und legte mir meinen Jungen in die Arme. Ein paar Minuten nachdem ich ihn zu stillen begann, bemerkte ich plötzlich, dass mein Baby stark schwitzte. Ich fuhr mit meiner Hand über seine feuchte Haut. Das fand ich merkwürdig. Weder war der Kleine zu dick angezogen, noch konnte ich etwas anderes Ungewöhnliches an ihm feststellen, das ein starkes Schwitzen hätte auslösen können. Ich überlegte kurz, wie es damals bei Ryan gewesen war. Doch ich konnte mich an keine Situation beim Stillen erinnern, bei der er so extrem geschwitzt hatte, dass ich ihm das Gesichtchen abtupfen musste. In mir breitete sich ein ungutes Gefühl aus. Vielleicht reagierte ich über, weil ich haargenau auf jede Kleinigkeit achtete, versuchte ich mich zu beruhigen. Doch mein Instinkt funkte nachdrücklich, dass hier etwas nicht stimmte. Und die Signale wurden immer stärker, je mehr ich versuchte, sie mit Logik zu übertönen. Schließlich klingelte ich wieder nach der Schwester und schilderte ihr zuerst meine Beobachtungen, bevor ich ihr die glänzende Stirn meines Babys zeigte.

»Das muss sich die Hebamme mal ansehen«, sagte sie und kam bald mit Mrs Paige, der Geburtshelferin, im Schlepptau zurück in mein Zimmer. Mrs Paige war eine stämmige Frau mit einer praktischen Kurzhaarfrisur, die gleichzeitig auch als Gynäkologin praktizierte.

»Was ist denn mit Ihrem kleinen Daniel, Mrs Meyer?« Sie setzte sich zu mir ans Bett und blickte mich dabei freundlich an.

»Mein Sohn schwitzt ziemlich stark«, erklärte ich ihr aufgewühlt. »Ich finde das merkwürdig.«

»Lassen Sie mich mal sehen.« Die Hebamme blickte prüfend auf mein Kind. »Ich vermute, dass es lediglich daran liegt, dass Sie das Baby nicht richtig halten. Machen Sie sich keine Sorgen«, beschwichtigte sie mich und zeigte mir, wie ich Daniel beim Stillen besser halten sollte.

Danach verließen die beiden Frauen wieder den Raum und ich beruhigte mich etwas. Doch das merkwürdige Bauchgefühl blieb. Wieso hatte denn Ryan damals beim Stillen nicht so geschwitzt? Ihn hatte ich zu jener Zeit doch auch nicht richtig gehalten. Theoretisch hätte er doch genau wie Daniel glänzen müssen, als ich ihm die Brust gab. Ich wollte ganz bestimmt nicht die Kompetenz von Mrs Paige anzweifeln, und natürlich vertraute ich ihr, immerhin war sie eine Fachfrau, doch meine inneren Alarmglocken schrillten nach wie vor in meinen Ohren. Irgendetwas stimmte hier nicht.

Ich schloss kurz die Augen und schüttelte den Kopf. Bekamen frischgebackene Mütter nach der Geburt eigentlich öfters solche Anwandlungen? Eine Art Mutter-Koller vielleicht? Fast musste ich über mich selbst lachen, doch dann fielen mir auf einmal Daniels blaue Lippen auf, mit denen er an meiner Brust saugte. Das war alles andere als normal und für mich die eindeutige Bestätigung, dass ich meinen Mutterinstinkten zu hundert Prozent trauen konnte! Vielleicht sogar mehr als den Aussagen der Hebamme oder eines Arztes. Sofort klingelte ich erneut nach der Schwester und verlangte dieses Mal direkt nach einem Kinderarzt, der sich mein Baby ansehen sollte.

Ich musste nicht lange warten, bis der Kinderarzt das Stationszimmer betrat. Er war mittelgroß und trug eine Nickelbrille. Der weiße Kittel spannte etwas über seinem Bauch, weswegen er die unteren Knöpfe offen ließ – jedenfalls vermutete ich das.

»Wie lange sind seine Lippen schon blau?«, fragte er mich mit einer angenehm ruhigen Stimme, als er Daniel begutachtete.

»Ich … ich weiß nicht genau. Mir ist es erst vor ein paar Minuten aufgefallen«, sagte ich aufgeregt. »Davor war er schon verschwitzt. Die Hebamme meinte, es liege daran, dass ich ihn nicht richtig halte.« Ich fühlte mich mit einem Mal hilflos und starrte wie gebannt auf jede Gesichtsregung des Arztes, als er sich die Hörer seines Stethoskops in die Ohren steckte und mein Baby abhörte. Ich wagte kaum zu atmen aus Angst, zu laute Geräusche zu machen. Stattdessen verspannte ich mich am ganzen Körper und spürte, wie sich mein Herzschlag beschleunigte.

Nach einer Weile hängte sich der Kinderarzt das Stethoskop wieder zurück um den Hals und schaute mich mit ernstem Gesichtsausdruck an. »Wir müssen Daniel beim Kardiologen vorstellen, Mrs Meyer.«

»Oh Gott! Warum das?« Ich griff mir mit einer Hand an mein Herz, das nach wie vor kräftig schlug. Mittlerweile allerdings so schnell, als hätte ich einen Marathonlauf absolviert. »Was haben Sie gehört?«

»Ich bin mir nicht sicher, Mrs Meyer. Deswegen brauche ich die fachliche Aussage eines Kardiologen, um sichergehen zu können.«

Das hörte sich nicht gut an. Ganz und gar nicht gut. Ich spürte wie die Angst durch meinen Körper kroch und sich ein dicker Kloß in meiner Kehle bildete, den ich nicht hinunterschlucken konnte. Mir war klar, dass der Kinderarzt keine sichere Diagnose stellen konnte, sonst würde er mich mit Daniel nicht zu einem Kardiologen schicken. Trotzdem musste ich unbedingt erfahren, welchen Verdacht er hatte. »Bitte sprechen Sie offen mit mir, Herr Doktor. Was glauben Sie, was mit meinem Baby nicht stimmt?«, fragte ich mit zitternder Stimme.

»Es ist wie gesagt bloß eine Mutmaßung. Keine unumstößliche Beurteilung der Gesundheit Ihres Kindes. Deswegen möchte ich die Diagnose eines Kardiologen hinzuziehen. Vielleicht liege ich auch völlig falsch, denn ich habe ein anderes Fachgebiet«, holte der Arzt erklärend aus.

»Herr Doktor, bitte …«, sagte ich leise, während ich Daniel im Arm hielt.

»Die Herztöne Ihres Kindes gefallen mir nicht, Mrs Meyer. Dann das starke Schwitzen und die blauen Lippen. Meine Vermutung ist, dass Ihr Baby eventuell ein Loch im Herzen haben könnte.«

»Bitte was?«, fragte ich schockiert. In meinem Kopf stolperten unzählige Gedanken übereinander. Ich konnte die gestrige Aussage, ein kerngesundes Kind zur Welt gebracht zu haben, nicht mit der heutigen Vermutung zusammenbringen. Wie konnte mein Baby am Tag zuvor gesund sein und heute angeblich ein Loch im Herzen haben?

»Es ist nur eine Vermutung, Mrs Meyer. Ich werde Sie sofort beim Kinderkardiologen in unserem Krankenhaus anmelden. Nach der Untersuchung haben wir dann Klarheit. Es kann alles auch ganz harmlos sein.«

Ich war durch die Aussage des Kinderarztes so schockiert, dass ich leicht fröstelte. Als der Arzt das Zimmer verlassen hatte, zog ich mir meine leichte Strickjacke über, die auf einem Stuhl neben meinem Bett bereitlag. Dabei wiegte ich unablässig mein Baby. Ich sollte warten, bis man mich und Daniel abholte, hatte der Arzt zu mir gesagt. Erstaunlicherweise musste ich nicht lange warten, bis mich eine Stationsschwester bat, mit ihr zu kommen. Ich hatte noch nicht einmal Zeit gehabt, jemanden aus meiner Familie über die neuesten Ereignisse zu informieren. Dafür ging alles viel zu schnell. Ich war mir nicht sicher, ob das nun ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war. Einerseits war es natürlich positiv, so schnell beim Kinderkardiologen vorstellig zu werden. Andererseits konnte dies aber auch bedeuten, dass es wirklich nicht gut um Daniels Gesundheit stand und wir deshalb keine Zeit zu verlieren hatten.

Die Krankenschwester begleitete mich und Daniel in die Kinderkardiologie, wo ich vor dem Behandlungszimmer auf einem Plastikstuhl im Flur Platz nahm. Neben der Tür prangte ein Schild. Edward Williams, Kinderkardiologe, las ich. So hieß also der Mann, der gleich entscheiden würde, ob Daniel völlig gesund oder todkrank war.

»Einen Moment bitte. Es wird nicht lange dauern«, sagte die Krankenschwester. Sie klopfte an die Tür des Zimmers und verschwand dann darin.

Obwohl es sicherlich nur Sekunden gewesen waren, die ich warten musste, kamen sie mir vor wie Stunden. Schon erstaunlich, wie viele Horror-Szenarien das menschliche Gehirn innerhalb kürzester Zeit vor dem inneren Auge ablaufen lassen kann.

Die Tür öffnete sich wieder. »Sie können reinkommen.« Die Schwester hielt mir die Tür auf. Als ich eintrat, hatte ich schreckliche Angst davor, Mr Williams könnte die Vermutung des Kinderarztes bestätigen. Daniel durfte nicht krank sein. Er war doch noch so klein. Sein Leben hatte noch gar nicht begonnen. Nein, Daniel hatte ein Recht darauf, gesund zu sein, so wie andere Kinder auch, beschloss ich.

Der Kardiologe bat mich, vor seinem Schreibtisch Platz zu nehmen. »Wir werden bei Daniel ein Herzecho machen. Das ist eine Ultraschalluntersuchung des Herzens, womit eine Herzerkrankung diagnostiziert oder eben entkräftet werden kann. Ihr Kind wird davon nichts spüren. Es ist absolut schmerzfrei«, beantwortete der Arzt meine dringlichsten Fragen.

Die Untersuchung fand in einem Nebenzimmer statt. Ich legte mein Baby auf eine Art Liege, dann setzte der Kinderkardiologe einen Ultraschallkopf auf Daniels Brust-korb, direkt über seinem Herzen. Der Kleine verhielt sich dabei ganz ruhig, als wüsste er, wie wichtig diese Untersuchung war. Ich war trotz der Aufregung mächtig stolz auf mein Kind. Auf einem Monitor erschienen Bilder, die seine Herzstrukturen zeigten. Dr. Williams machte während der Untersuchung ein paar Ausdrucke. Dabei beobachtete ich ihn aus den Augenwinkeln, versuchte aus seinem Gesicht abzulesen, ob alles mit meinem Kind in Ordnung war – was mir allerdings nicht gelang.

Nach der Ultraschalluntersuchung setzte ich mich mit Daniel auf dem Arm wieder vor Dr. Williams' Schreibtisch und wartete. Der Kardiologe war im Nebenraum geblieben, um die Aufnahmen auszuwerten. Kurz darauf setzte er sich mir gegenüber. Sofort klopfte mein Herz wieder schneller. Ich hielt Daniel fest an mich gedrückt. Nun würde ich das Ergebnis der Untersuchung erfahren. Dr. Williams schaute mich ernst an. Ich hatte den Eindruck, dass er nicht recht wusste, was er sagen sollte. Dann holte er tief Luft und machte mit einem Arm eine große Bewegung. »Ich bin Arzt geworden, um Menschenleben zu retten, Mrs Meyer. Meistens macht mir meine Arbeit große Freude. Besonders dann, wenn ich Krankheiten heilen und Leben verlängern kann. Aber es gibt auch Tage, da würde ich viel lieber Koch sein, Autoverkäufer oder Lehrer. Und gerade jetzt ist wieder ein Moment, in dem es mir schwerfällt, meinen Beruf zu lieben.« Er griff über den Tisch nach meiner Hand und sah mir dabei fest in die Augen. »Mrs Meyer, Sie haben mit Ihrem Sohn einen langen Weg vor sich. Daniel hat nur ein halbes Herz. Die linke Herzseite ist ausgebildet. Die rechte fehlt komplett«, stellte er die furchtbare Diagnose.

Nur ein halbes Herz

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