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Auf nach Kapstadt

Ich blieb trotz allem mit Daniel in der Praxis bei Dr. White in Behandlung. Irgendwie hatte ich Vertrauen zu dem jungen Arzt und wollte wegen des einen Misserfolgs nicht gleich wieder wechseln. Er hatte zwar für Daniels Weinen noch keine Lösung gefunden, doch versprach er mir, sich Gedanken zu machen und weitere Dinge auszuprobieren. Mit etwas Glück würden wir dadurch vielleicht doch die Ursache für Daniels Beschwerden finden. Im Juli 1997 wusste Dr. White allerdings nicht mehr weiter. »Wir haben nun alles Mögliche ausprobiert, Mrs Meyer«, sagte er bei einem Termin. »Leider hat nichts davon Ihrem Baby geholfen.«

»Und was nun?«, fragte ich und hatte ein bisschen Angst, Dr. White würde Daniel in Zukunft nicht weiter behandeln wollen.

»Ehrlich gesagt, bin ich an der Grenze meines medizinischen Fachwissens angelangt und möchte Sie deshalb für weitere Untersuchungen zu einem Kollegen nach Kapstadt schicken. Doktor Moore ist Facharzt in einem Krankenhaus und auf die Behandlung von Kindermägen spezialisiert.«

Dr. White kritzelte eine Adresse auf ein Blatt Papier und reichte es mir. Immerhin schob er mich nicht ab und überließ mich und meinen Sohn allein unserem Schicksal, sondern hatte eine weitere Idee in petto. Also machte ich mich ein paar Tage später mit Daniel zusammen auf den Weg ins 750 Kilometer entfernte Kapstadt. Durch Dr. Whites Hilfe hatten wir schnell einen Termin bei dem Facharzt bekommen. Dort erhoffte ich mir endlich Hilfe für meinen Sohn und vor allem eins: keine weiteren Hiobsbotschaften für Daniel.

Besonders wünschte ich mir, dass keine Operationen für meinen Jungen notwendig sein würden und die Untersuchungen möglichst schnell vorbeigingen. Allerdings hatte ich kein sonderlich gutes Bauchgefühl während unserer Reise nach Kapstadt. Da mein Kind noch nicht sprechen konnte, war es uns nicht möglich herauszufinden, ob sich seine Schmerzen, und damit die Ursache für sein Weinen, nicht vielleicht sogar verstärkt hatten. Manchmal glaubte ich das nämlich, weil sein Gesichtsausdruck immer angestrengter wirkte, während er schrie.

Dr. Moore war bestens auf seinen neuen Patienten vorbereitet. Er hatte zuvor Daniels Krankenakte genau studiert, und nach einem kurzen Gespräch mit mir stand für ihn fest, welche Untersuchungen notwendig waren.

»Wir müssen herausfinden, was in Daniels Magen vor sich geht. Deshalb werden wir nicht daran vorbeikommen, uns anzusehen, was darin passiert«, sagte er zu mir.

»Machen Sie eine Ultraschall-Untersuchung?«, fragte ich hoffnungsvoll. Immerhin hatte das beim Kardiologen in der Klinik auch ausgereicht.

»Ich fürchte, so einfach ist das leider nicht. Wir müssen den Magen Ihres Kindes für vierundzwanzig Stunden beobachten, damit wir sehen können, was passiert, wenn es gefüttert wird, wie der Verdauungsprozess ist und so weiter.«

Oh Gott! Ich fasste mir vor Schreck mit einer Hand an den Brustkorb. »Vierundzwanzig Stunden? Ist das denn wirklich nötig?« Mein armes Baby!

»Leider ja. Und angenehm wird die Untersuchung für Ihr Kind auch nicht werden. Deshalb brauche ich Ihre Unterstützung, damit wir den Check wirklich vierundzwanzig Stunden lang durchziehen können. Sind Sie bereit dazu?«

Ich nickte. Natürlich war ich bereit. Ging es um die Gesundheit beziehungsweise um das Leben meines Kindes, dann war ich prinzipiell zu allem bereit.

Doch was dann folgte, hätte ich mir in meinen schlimms­­ten Albträumen nicht vorstellen können. Die Untersuchungen erwiesen sich als eine schlimme Tortur für Daniel – und auch für mich.

»Egal, was passiert, Sie müssen Ihren Sohn festhalten«, erklärte mir eine Krankenschwester mit bestimmtem Ton. »Trauen Sie sich das zu?«

»Natürlich«, sagte ich, obwohl ich mir da gar nicht so sicher war. Würde ich es durchhalten? Würde ich die Qualen meines Kindes ertragen können? Vierundzwanzig Stunden am Stück? Aber was wäre die Alternative? Daniel einer Krankenschwester anzuvertrauen? Nein, das kam überhaupt nicht in Frage. Also hielt ich mein Baby fest an mich gedrückt, während ihm zwei Schläuche mit Kamerasonden durch die Nase eingeführt wurden, die dort vierundzwanzig Stunden verbleiben sollten, um den Magen auch während der Nahrungsaufnahme zu zeigen. Daniel schrie schrecklich, als ihm die Sonden eingeführt wurden, und mir standen ebenfalls Tränen in den Augen. Ich litt so sehr mit meinem Kind, dass mir das Atmen schwerfiel. Zu allem Überfluss fing ich auch noch an zu zittern. Ich fühlte mich wie in einem schlechten Film. Die Situation war so unwirklich und gleichzeitig so real, dass mein Körper seinen Schutzmechanismus aktivierte, damit ich nicht zusammenbrach. Doch kurze Zeit später übermannten mich meine Gefühle und ich spürte, wie mein Kreislauf sich verabschiedete und ich mich am Rand einer Ohnmacht befand. Unter Tränen gab ich schließlich auf. Diese Situation überstieg alles, was ich ertragen konnte. Daniel leiden zu sehen und sein Weinen zu hören – das war einfach zu viel für mein Mutterherz. Eine Schwester musste meine Aufgabe übernehmen. Schweren Herzens verließ ich den Raum und ließ mich vor der Tür auf einem Stuhl nieder, auf dem ich sofort zusammensackte. Ich war komplett durchgeschwitzt und fühlte mich so erschöpft, als hätte ich zwei Wochen nicht mehr geschlafen. Meine Akkus waren komplett leer. Auf der gegenüberliegenden Seite befand sich ein Wasserspender. Ich raffte mich auf und füllte einen Pappbecher mit Wasser, den ich in einem Zug leerte. Vermutlich hatten hier schon unzählige Mütter gestanden, die in der gleichen Lage gewesen waren wie ich, und sich ähnliche Gedanken gemacht. Mir war bewusst, dass dies hier erst der Anfang der Reise mit meinem Sohn war. Eine von vielen Untersuchungen, die noch kommen würden. Ich fragte mich, wie ich die Dinge, die auf mich und Daniel zukommen würden, überhaupt durchstehen sollte, wenn ich jetzt schon schlapp machte. Wie schafften das andere Eltern? Mit einem Mal fühlte ich mich wieder sehr allein – wie die einsamste Mutter auf der ganzen Welt.

Ich war mit Daniel ohne Begleitung nach Kapstadt gereist. Mein Mann musste arbeiten und außerdem waren die Reisekosten schon für Daniel und mich sehr hoch gewesen. Zum Glück wohnte meine Schwägerin ebenfalls in Kapstadt und wir konnten bei ihr unterkommen und uns wenigstens einen teuren Hotelaufenthalt sparen.

Daniel hielt die Tortur nur achtzehn statt der geplanten vierundzwanzig Stunden aus. Wobei das Wort nur hier nicht passend ist. In Wirklichkeit war mein Sohn unheimlich tapfer, ein echter kleiner Held. Ich weiß nicht, ob ich das Verfahren auch nur eine halbe Stunde ausgehalten hätte, so furchtbar fand ich diese Prozedur. Dabei sage ich das als Erwachsene, die den Sinn einer solchen Untersuchung versteht, und nicht als Baby, das überhaupt nicht begreift, was mit ihm gemacht wird und warum. Nach der Untersuchung bestellte mich Dr. Moore sofort ins Behandlungszimmer. Er machte ein ernstes Gesicht. Ein sehr ernstes Gesicht sogar, das mir prompt wieder Wackelpuddingknie bescherte und meinen Herzschlag beschleunigte.

Ich schluckte und rechnete mit dem Schlimmsten. »Was ist mit meinem Kind, Herr Doktor«, brachte ich bloß leise hervor.

»Daniel hat schlimmes Sodbrennen, und weil er sich so häufig übergeben musste, hat er schlimme Verätzungen in der Speiseröhre, was ihm natürlich Schmerzen bereitet.«

Ich zog die Luft zwischen meinen Zähnen ein. »Nein!«

»Deshalb müssen wir schnell handeln, um den Prozess aufzuhalten. Gleich morgen werde ich für Daniel eine OP ansetzen, wobei wir den Magen umdrehen werden, damit er sich nicht mehr übergeben kann.«

In meinen Augen sammelten sich Tränen. »Mein armes Baby«, sagte ich tonlos und spürte, wie sich mir förmlich der Magen bei der Vorstellung ganz von allein umdrehte. »Muss das wirklich sein?«

»Unbedingt.«

Ich schnäuzte mich in ein Papiertaschentuch.

»Da wäre noch etwas, was ich mit Ihnen besprechen muss. Uns ist ein kleiner Huckel an Daniels Rücken aufgefallen, weshalb wir ihn vorhin zusätzlich noch geröntgt haben.« Er schaltete hinter sich eine Lichterwand an, an die er Röntgenbilder hängte.

»Ja, deswegen war ich auch schon mit Daniel bei einem Kinderarzt in Port Elizabeth. Dort wurde mir gesagt, dass es daher kommt, weil das Herz gegen die Wirbelsäule drückt. Doch ich fand es irgendwie komisch, dass das Herz dafür verantwortlich sein soll. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass das der Grund für diesen Huckel ist.«

»Ihren Eindruck muss ich leider bestätigen. Neben einer Skoliose haben wir festgestellt, dass Daniels Wirbelsäule und seine Hüften nicht richtig entwickelt sind. Sehen Sie hier?« Dr. Moore zeigte auf die Stellen der Röntgenbilder, an denen die Befunde sichtbar waren. »Ihr Sohn hat außerdem auch noch zwei zusätzliche Halbwirbel und eine extra Rippe, die normalerweise nur Frauen haben.«

Mein Gefühl hatte mir von Anfang an signalisiert, dass es etwas anderes sein musste, dass diese Verformungen hervorgerufen hatte. Es war zwar schön, sich auf sein Bauchgefühl verlassen zu können, doch in diesem Moment verfluchte ich meine Vorahnungen. Wie gern hätte ich mich in diesem Fall getäuscht! Zugunsten von Daniel.

Daniel musste in der Klinik bleiben und wurde für die OP vorbereitet. Ich blieb ebenfalls im Krankenhaus und schlief auf einer Art Pritsche neben dem Krankenbett meines Kindes. Nach der neuen schockierenden Diagnose machte ich mir schwere Vorwürfe. Wieder kamen in mir die Gedanken hoch, dass ich eventuell schuld an Daniels Krankheit sein könnte. Ich starrte an die Decke und ließ noch einmal die Ereignisse Revue passieren, die sich in jener Zeit abgespielt hatten, bevor ich erfahren hatte, dass ich mit Daniel schwanger war. Dann fuhr mir plötzlich ein Gedanke wie ein Blitz durch den Kopf und ich richtete mich kerzengerade auf.

Bevor ich von meiner Schwangerschaft wusste, hatte ich eine Zahn-OP unter Narkose durchführen lassen, in der auch Stoffe verwendet wurden, die eine Fehlgeburt auslösen konnten. Das wusste ich so genau, weil ich ein Papier unterschreiben musste, worin darüber aufgeklärt wurde. Erst zwei Wochen nach der Zahn-OP blieb damals meine Periode aus und ich ging deshalb zum Gynäkologen, der mir nach der Untersuchung mitteilte, dass ich schwanger war. War die Narkose vielleicht die Ursache für Daniels schlimmen Gesundheitszustand? War ich im Endeffekt für Daniels Leiden verantwortlich? Mir liefen Tränen über die Wangen. Diese dumme Zahn-OP! Hätte ich damals nur schon von meiner Schwangerschaft gewusst! Zur Not hätte ich die OP ganz ohne Narkose durchführen lassen. Egal, wie sehr ich darunter gelitten hätte. Ich wischte mir die Tränen mit dem Handrücken ab und ging zu Daniel, der leise wimmerte. »Ist schon gut, mein Kleiner«, sagte ich und hob ihn auf meinen Arm. »Die Mama ist ja bei dir.« Dann küsste ich ihn auf seine Stirn und schloss dabei die Augen.

Am nächsten Morgen lagen meine Nerven blank. Beim Frühstück kippte ich mir erst vor lauter Nervosität heißen Kaffee über die Hand und ließ danach meinen Marmeladentoast fallen, der zuverlässig mit der Marmeladenseite auf meiner Hose landete. Daniel wurde gegen neun Uhr in den OP gebracht. Kurz davor hatte ich nochmals mit Dr. Moore gesprochen, der mir zum wiederholten Male versicherte, dass wir die Operation nicht aufschieben konnten, da durch die Magensäure schon zu große Teile der Speiseröhre angegriffen waren.

Während der OP lief ich die ganze Zeit den Gang auf und ab, wie ein Tiger in seinem Käfig. Ich machte mir große Sorgen und hoffte nur, dass Daniel die Operation gut überstand. Eine Garantie dafür hatte mir Dr. Moore nämlich nicht geben können. »Aber wir tun unser Bestes, darauf können Sie sich verlassen, Mrs Meyer«, hatte er zu mir gesagt. Ich hoffte, dass das Beste auch gut genug für Daniel war.

Daniel überstand die Operation und lag danach fünf Tage auf der Intensivstation, wo er einiges an Morphin verabreicht bekam, damit er die schlimmen Schmerzen überhaupt aushalten konnte.

Mein Baby musste nach der Operation noch eine Weile im Krankenhaus bleiben. Ich blieb tagsüber bei ihm und schlief nachts bei meiner Schwägerin. »Mach dir keine Sorgen, Debbie. Du kannst so lange bleiben, wie es nötig ist«, hatte sie mir versichert. Ich war so froh darüber, einen Menschen aus meiner Familie an meiner Seite zu haben. Und ich war froh, dass Paul und meine Eltern sich in der Zwischenzeit um Ryan kümmerten, sodass ich mir um meinen Ältesten keine zusätzlichen Sorgen zu machen brauchte.

Vier Wochen später durfte Daniel das Krankenhaus verlassen. Ihm ging es endlich besser und ich schöpfte neue Hoffnung, dass sich vielleicht doch noch alles zum Guten wenden würde.

Nur ein halbes Herz

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