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ОглавлениеHildegard von Bingen:
Kräuter und Visionen
»Ich glaube an den liebenden Gott und nicht an den strafenden!«
Der Falke schwebt hoch in der Luft und sieht unter sich ein kleines Mädchen über eine Wiese laufen. Bienen fliegen leise summend von Blüte zu Blüte und bunte Schmetterlinge flattern im warmen Sommerwind. Plötzlich bleibt das Mädchen abrupt stehen.
Der Falke schaut im Flug zurück und sieht eine Gestalt aus Farben und Licht, die schimmernd vor dem Mädchen erscheint. Neugierig breitet er seine Flügel aus und fängt an zu kreisen. Mit seinen scharfen Augen beobachtet er von großer Höhe, was unter ihm geschieht. Die Lichtgestalt spricht mit dem Mädchen, leise – wie das Raunen des Windes. Ein Ruf ertönt von weiter unten.
»Hildegard«, ruft eine ältere Frau, »Hildegard, es wird Zeit!«
Das Mädchen dreht sich um und läuft der alten Frau entgegen, die mühsam auf die Wiese steigt. Sie reagiert nicht auf die Lichtgestalt, die sich wie ein warmer Schimmer vor dem Mädchen ausgebreitet hat und nun ganz leise vergeht.
Das Mädchen ergreift die Hand der Frau und gemeinsam gehen sie zurück zum Hof. Der Falke schraubt sich mit kräftigen Flügelschlägen höher und höher. Er wird dem Mädchen folgen, aber in ihre Zukunft hinein. Er kennt sie bereits, denn er war ja schon in ihrer Zeit, in ihrer Nähe, doch nun widmet er sich allein ihr und keinem sonst.
Hildegard von Bingen steht an dem kleinen Fenster in ihrer Schreibstube und schaut sinnierend hinaus in die Winterlandschaft. Zwischen den kahlen Zweigen der dunklen Bäume ahnt sie die Gestalt eines Vogels, eines großen Vogels.
Es hat sich viel verändert, seit sie als kleines Mädchen über eine blühende Sommerwiese gelaufen ist. Lange Jahre der Einsamkeit und auch der Selbstzweifel folgten. Doch als sie noch Nonne in der Frauenklause auf dem Disibodenberg gewesen war, fand sie einen Vertrauten, der ihr die Zweifel oft nahm: Volmar.
Als sie dann in einer bildgewaltigen Vision die Aufgabe bekam, alles aufzuschreiben, was sie sehen oder hören würde, war er es, der sie zum Schreiben ermutigte. Trotzdem fehlte ihr zuerst der Mut dazu. Sie war nur ein einfaches Weib, Nonne zwar und Magistra dazu, aber das Schreiben stand ihr doch nicht zu. Das war den Gelehrten und vor allem den Männern vorbehalten. Aber Volmar trieb sie immer wieder an, verteidigte sie und sorgte dafür, dass sogar der Papst ihre Texte zu Lesen bekam.
Das brachte die Wende. Der Papst bestätigte den Wahrheitsgehalt ihrer Visionen. In seinen Augen konnten sie nur von Gott stammen. Und wie lange hatte sie schon diese Visionen. So lange, dass sie sich kaum noch zurückerinnern konnte. Warum gerade jetzt der Tag aus ihrer Kindheit vor ihrem Innern aufzog, als sie die Lichtgestalt auf der Wiese traf, wusste sie nicht genau. Aber so, als wäre es erst gestern gewesen, stand dieser besondere Tag plötzlich wieder vor ihr. Wie war sie darüber erleichtert gewesen, dass nicht nur sie es für Visionen von Gott hielt, sondern auch der heiligste Vertreter auf Erden.
Als sie schließlich in ihr eigenes Kloster auf dem Rupertsberg umzog, war es ihr Wunsch gewesen, dass Volmar als zukünftiger Probst ihres Klosters mit den Nonnen mitziehen durfte. Und so geschah es. Mittlerweile waren viele Jahre ins Land gezogen. Jahre, in denen das Kloster gewachsen war und immer mehr an Bekanntheit erlangt hatte. All die Zeit war Volmar an Hildegards Seite gewesen und hatte ihr geholfen, wo er konnte. Die Zusammenarbeit mit ihm gestaltete sich auch nach all den Jahren als sehr harmonisch und produktiv. Hildegard drehte sich vom Fenster weg, setzte sich und fragte:
»Sagt mir, Volmar, mein treuer Freund, habe ich recht getan, dass ich die Ordensregel gelockert habe?«
Volmar schaute vom Tisch hoch. Er war gerade dabei, Texte von einer Wachstafel auf ein dünnes Pergament zu übertragen. »Ihr meint, weil Ihr die Fastenzeiten gekürzt und die Schlafenszeiten verlängert habt?«
Hildegard nickte und sprach nachdenklich weiter: »Ja, aber nicht nur das. Ihr wisst, was mir das Wichtigste war.«
»Sicher«, erwiderte Volmar. »Wer weiß das nicht. Es ist zwar schon lange her, doch es hat Euch stark geprägt, was Ihr fandet, als Ihr die Totenwäsche von Jutta von Sponheim, eurer Magistra, übernommen habt.«
Hildegard nickte. »Mit Schrecken habe ich den Bußgürtel entdeckt, der sich tief in den Leib meiner Freundin eingegraben hatte. Ihr könnt ganz froh darüber sein, Volmar, dass Euch dieser Anblick erspart geblieben ist.«
Volmar lächelte milde: »Naja, ich als Mann hätte sowieso nie der Totenwaschung einer Nonne beiwohnen dürfen.« Er beeilte sich anzufügen: »Es war richtig, die Selbstkasteiung zu kritisieren. Selbst wenn ich so etwas nie gesehen habe, so kann ich sicher die Schrecken, die Ihr dabei empfunden habt, nachvollziehen!«
»Das macht mich selbst nach so langer Zeit noch traurig«, gab Hildegard zu.
Volmar seufzte. »Auch das kann ich gut verstehen«, erwiderte er leise, »dass Euch diese Bilder einfach nicht loslassen, sooft wir auch darüber sprechen. Aber Ihr tragt keine Schuld daran. Es war ganz allein Juttas Entscheidung, sich so etwas anzutun.«
»Ich weiß, was Ihr jetzt antworten wollt. Es ist zwischen uns wie bei einem Schachspiel mit einem guten Freund, mit dem man dieses Spiel schon sehr oft gespielt hat. Jeden Zug des Freundes ahnt man im Voraus.«
Hildegard nickte und lächelnd sagte sie: »Jetzt sind wir schon alt und grau geworden und trotzdem wiederholen wir immer noch dieses alte Spiel. Wie gut Ihr mich kennt!«
Volmar lachte auf: »Wie sollte ich denn nicht. So viele Jahre sind wir nun schon eng miteinander verbunden. So viele Wege bin ich mit Euch gegangen.«
Volmars dröhnendes Lachen wirkte ansteckend auf Hildegard und sie erinnerte sich lächelnd: »Ihr wart nicht immer so wohlwollend, Volmar, ich erinnere mich nur allzu gut, dass Ihr bei jedem Buch, das ich schrieb, die lateinische Grammatik mit mir besprochen und mich oft kritisiert habt.«
»Und heimlich habe ich Euch immer bewundert.«
Hildegard schaute Volmar überrascht an, solche Gedanken hätte sie nicht bei ihm vermutet. Fragend sah sie ihn an.
»Nun«, fuhr dieser fort, »wie vielen Menschen habt Ihr Trost gespendet, wie vielen den rechten Weg gewiesen? Sogar ein eigenes Kloster habt Ihr bauen lassen. Immer habt Ihr Euch stark gezeigt und sogar dem Abt vom Disibodenberg die Stirn geboten.«
Hildegard stand erneut auf und ging in der Schreibstube auf und ab. Damals war es eine intensive Zeit gewesen und an manchen Tagen hatte sie nicht gewusst, wo ihr der Kopf stand. »Nun ja, gegen Kuno war es für mich nicht leicht anzukommen. Immer wieder hat er mir Steine in den Weg gelegt.«
»Die Ihr aber alle mit Standhaftigkeit aus dem Weg geräumt habt, bis Ihr schließlich mit Glanz und Gloria aus dem Kloster auf dem Disibodenberg ausgezogen seid.«
Hildegard blieb stehen und fing leise an zu kichern. »Wisst Ihr, warum er sich so quer gestellt hat und uns nicht gehen lassen wollte?«
Darüber hatte Volmar damals bereits nachgedacht und schnell war er auch zu einem Ergebnis gekommen. »Kunos Kloster war nur wegen Euch so berühmt und reich an Ländereien geworden, mit Eurem Auszug hätte er sein bestes Pferd im Stall verloren.« Volmar drückte sich gerne drastisch aus, aber Hildegard musste ihm zustimmen, denn das Kloster hatte nach ihrem Auszug seine Bedeutung verloren, während das ihre immer bekannter geworden war.
Volmar seufzte: »Lasst uns nicht mehr von Kuno sprechen, es gibt so viel Schöneres im Leben.« Nachdenklich betrachtete er die dünne Wachstafel, die er immer noch vor sich liegen hatte. »Mir macht die Arbeit an Euren Büchern immer große Freude. Das war damals so und so ist es auch heute noch.«
Hildegard stellte sich neben Volmar und bemerkte: »Ja, aber Ihr wisst so gut wie ich, dass ich nach meinen Visionsbüchern nur noch das Wissen dieser Zeit zusammengetragen und keine eigenen Heilverfahren entwickelt habe. Ich habe nur alles gut strukturiert und das Wissen über die Heilkunde, über Edelsteine und die Ernährung in Büchern vereint.«
Entrüstet blickte Volmar zu Hildegard hoch: »Was heißt hier denn nur? Ich sehe Euch noch vor mir, wie Ihr in der Bibliothek über den alten Büchern gesessen und danach alles geordnet, zusammengefasst und niedergeschrieben habt. Das war unglaublich viel Arbeit und steht Euren Visionsbüchern in nichts nach.«
Hildegard straffte die Schultern und erwiderte: »Das war nur Fleiß, aber wie viel intensiver war die Arbeit an meinen ersten Büchern. Welch eine Gnade, das aufschreiben zu dürfen, was Gott mir eingab. Ach, ich weiß noch genau, wie er mir in einer bildgewaltigen Vision zeigte, dass ich alles aufschreiben solle, was ich sehen und hören würde. Und das, was ich dort sah, war unbeschreiblich, schön und erschreckend zugleich. Die Farben und das alles überstrahlende Licht strömten mit aller Macht in mein Herz und brachten mein ganzes Sein ins Schwingen gebracht. Ich erlangte augenblicklich eine Klarheit und Weitsicht, die normalerweise nur ein langes Studium hervorzubringen vermocht hätte. Und so früh in meinem Leben habe ich die erste Begegnung damit gemacht, als ich als Kind …«
In diesem Moment klopfte es und eine Nonne trat lächelnd mit einem dicken Stapel Briefen in den Händen ein.
»Oh, du warst schon an der Pforte.«
Genefa nickte leicht und gab Hildegard die Post. Als sich die Tür wieder hinter der Nonne geschlossen hatte, sagte Volmar: »Genefa ist sehr fleißig, nie muss man sie zur Arbeit ermuntern. Das gefällt mir.«
»Das ist sie in der Tat. Außerdem denkt sie selber und ist nicht nur Befehlsempfängerin. Ich habe noch viel mit ihr vor.«
»Das kann ich mir gut vorstellen. Aber ich wollte noch etwas zu Euren Büchern sagen. Was war es nur?« Nachdenklich kratzte sich Volmar an der Stirn. »Meiner Meinung nach sind die Visionsbücher wirklich besonders und sie gefallen mir von Euren Arbeiten am besten. Es ist berührend, wenn Ihr die Bilder beschreibt, die Ihr von Gott gesandt bekommen habt. Auch wenn Ihr meint, dies nicht in Worte fassen zu können, gelingt es Euch doch, die Lebendigkeit der Visionen in den Text Eurer Bücher zu transportieren.«
Hildegard ergänzte lächelnd: »Vergesst meine Lieder nicht.« Volmar griff sich gespielt ans Herz und sagte: »Wie könnte ich das vergessen! Eure Lieder, Eure Liturgien sind unvergleichlich. Wenn sie in der Abteikirche erklingen und den Raum förmlich zum Schwingen bringen, ist es wie der Kampf zwischen den Tugenden und den Lastern, das Spiel zwischen der Seele und den Engeln. Es ist dann, als hättet Ihr ihnen allen eine Stimme gegeben.«
Hildegard seufzte und sagte: »Genug des Lobes, kommen wir lieber wieder zum Thema zurück.«
Volmar seufzte leise und fragte dann behutsam: »Wie oft haben wir schon darüber gesprochen, wie oft haben wir uns darüber ausgetauscht? Ihr könnt es nicht mehr ändern.«
»Ihr habt ja recht. Und trotzdem kann ich mir die Gedanken an Jutta nicht aus dem Kopfe reißen. Manchmal wache ich nachts auf und habe diese schrecklichen Bilder von ihr vor Augen. Es kann nicht Gottes Wille sein, dass wir uns dergestalt verletzen. Deshalb ist es auch richtig gewesen, ihr Handeln zu hinterfragen.« »Eben«, fuhr Volmar fort, »in Liebe hat der Herr uns erschaffen und mit Liebe hat er uns angefüllt.«
Hildegard nickte bestätigend und sagte: »Und deshalb glaube ich an den liebenden Gott und nicht an den strafenden!« Mit wehmütiger Stimme fuhr sie fort: »Die Menschen entscheiden für sich selbst, jeder muss seinen Weg gehen.«
»Eben«, sagte Volmar erneut.
Hildegard nahm ihren unruhigen Gang durch die Kammer wieder auf. Es war schon später Nachmittag und die fahle Wintersonne schickte ihre letzten spärlichen Strahlen durch das kleine Fenster. Bald würde sie schon wieder über dem Binger Wald untergehen. Wahrscheinlich lag es an der Kürze des Tageslichts oder allgemein an der ungemütlichen Winterzeit, dass sie so schwere Gedanken mit sich herumtrug. Denn nicht nur Jutta hatte sie heute im Sinn.
»Eigentlich ist es etwas anderes, was mich schon den ganzen Morgen umtreibt«, nahm Hildegard erneut das Wort. »Es sind ganz andere Gedanken, die sich in meinem Kopf drehen. Obwohl ich Euch so gut kenne, mein treuer Volmar, habe ich doch manch schweren Gedanken für mich behalten. Vielleicht ist es nun aber endlich an der Zeit, sie mit einem anderen Menschen zu teilen.« Sie holte tief Luft, während Volmar gebannt schwieg.
»Es sind meine Erinnerungen an Richardis, die mich bewegen. Und das nicht nur heute. Jeden Tag denke ich an sie.«
Volmar hob überrascht den Kopf und sagte leise: »Das ist es also, was sich hinter Eurer Stirn versteckt, wenn Ihr wieder einmal mit leerem Blick in den Raum schaut. Es sind dann doch wohl nicht immer neue Visionen.«
»Nein, fürwahr, das sind sie nicht«, lachte Hildegard auf. »Da gibt es noch eine ganze Menge anderes, was mich umtreibt. Aber eines belastet mich neben der Sache mit Jutta sehr.«
Volmar schaute sie erwartungsvoll an. »Ihr wisst, dass Richardis für mich eine Tochter dem Geiste nach war.«
»Sicher weiß ich das. Sie hat auch mir viel bedeutet. Sie war intelligent, neugierig und aufgeweckt. Schon als sie noch ein junges Mädchen war, war ihr Latein von einer solchen Leichtigkeit, dass es mich immer wieder erstaunte.«
Hildegard klopfte mit den Fingern auf den schweren Eichentisch, den sie als Schreibtisch benutzten. »Ja ja, haltet mir nur unter die Nase, dass mein Latein holprig war und ist.«
Sie schaute Volmar so genervt an, dass er unwillkürlich grinsen musste, denn Hildegard hatte durchaus recht. Er war stets froh gewesen, dass Richardis sie bei der anstrengenden Arbeit in der Schreibstube unterstützt hatte. Aber als er den traurigen Unterton in Hildegards Stimme bemerkte, verging ihm das Lachen.
»Ich weiß nicht, was mich schwerer getroffen hat«, fuhr Hildegard fort, »dass Richardis nach Bassum ging, um dort im Norden Äbtissin zu werden, oder ihr unerwarteter Tod kurz darauf.«
»Nun«, antwortete Volmar »sie wurde ja von ihrem Bruder dorthin beordert. Was hätte sie denn für eine Wahl gehabt? Sie musste doch dem Ruf, oder besser gesagt, der Anordnung ihrer Familie folgen.«
»Nein, das musste sie nicht!«, fuhr es laut aus Hildegard heraus. »Sie hatte eine Wahl und ich hätte sie dabei unterstützt. Aber nein, sie war auf Ruhm und Ehre aus, wollte dort im Kloster selbst entscheiden können und ihrer Eitelkeit frönen. Oh, wie habe ich sie angefleht, dass sie hierbleiben solle. War nicht der Rupertsberg ihr Zuhause? Sogar den Papst hatte ich um Hilfe gebeten. Aber es war alles vergebens. In dem Moment, als Richardis hier fortging, war sie für mich verloren. Noch nie habe ich um einen Menschen so getrauert wie um sie.«
Hildegard war vor dem Fenster stehengeblieben und schaute wieder nach draußen. Es dämmerte bereits und die beginnende Dunkelheit einer weiteren kalten Winternacht legte sich wie ein bleierner Schatten über die Gebäude und Bäume.
Immer noch saß reglos, wie eine Statue, der Vogel hoch im Wipfel eines großen Baumes. Ihr gedankenvoller Blick blieb auf ihm haften.
»Es ist nicht gut, eine Mitschwester mehr zu lieben als eine andere. Ich hätte gegen meine Gefühle ankämpfen müssen. Sie wie eine Tochter zu lieben war nicht gut. Sie war nur eine Nonne unter vielen.«
Volmar erwiderte: »Nein, das war sie nicht und das wisst Ihr auch genau.«
Hildegard schüttelte den Kopf. »Wenn ich sie nicht so geliebt hätte, wäre es vielleicht gar nicht zu ihrem Tod gekommen.«
Nun war es Volmar, der mit Vehemenz den Kopf schüttelte. »Das hieße ja, dass Gott Euch dafür gestraft hat, dass Ihr Richardis in Eurem Herzen den Vorzug gegeben habt. An solch einen Gott glaubt weder Ihr noch ich!«
»Und doch befürchte ich, dass es so ist«, entgegnete Hildegard.
»Nein, das glaube ich nicht!« Volmar war jetzt ernst und sprach mit Autorität in der Stimme: »Wie Ihr glaube auch ich an den liebenden Gott. Ihr habt Richardis wie eine Tochter geliebt, aber Ihr habt Eure Nonnen trotzdem nicht vernachlässigt. Man kann sich die Liebe nicht aussuchen, man kann sie nicht lenken.«
»Da bin ich mir aber gar nicht so sicher. Anderseits habe ich jahrelang gegen meine Gefühle angekämpft, ich habe versucht in Richardis nur eine meiner Nonnen zu sehen und sie nicht in meinem Herzen zu bevorzugen. Ohne Erfolg.«
Hildegard drehte sich abrupt vom Fenster weg und schritt wieder durch die Kammer, die Hände hatte sie hinter dem Rücken verschränkt. »Vielleicht«, fuhr sie nachdenklich fort, »ist ihr früher Tod die Strafe Gottes gewesen, weil Richardis unbedingt Äbtissin werden wollte, weil sie nur auf ihren Kopf, nicht aber auf ihr Herz gehört hat.«
Aber hierbei hatte Volmar eine klare Meinung: »Eben haben wir noch von dem liebenden Gott gesprochen, erinnert Ihr Euch? Außerdem solltet Ihr nicht zu hart mit Richardis ins Gericht gehen. Wir haben alle unsere Fehler und treffen manchmal falsche Entscheidungen. Aber sind wir deshalb sogleich schlechte Menschen, die von Gott abgestraft werden müssen?«
Hildegard schaute ihn sprachlos an. Das waren Gedanken, die sie ihm gar nicht zugetraut hätte. »Fahrt fort«, forderte sie ihn auf.
»Nun, Richardis wollte zu Euch zurückkehren. Damit hat sie doch eindeutig bekundet, dass sie ihre erste Entscheidung bereut und auf Ruhm und Ehre verzichten wollte und auch konnte. Nicht jeder Mensch kann sich falsche Gedanken oder Entscheidungen eingestehen. Sie hat einen Fehler begangen und sie hat diesen eingesehen. Das ist es, was für mich zählt.«
Hildegard seufzte.
»Nun lasst Eure Gedanken um Richardis und auch um Jutta zur Ruhe kommen. Es ist alles gut so, wie es ist. Jeder Mensch geht seinen eigenen Weg, waren das nicht Eure Worte?«
Hildegard nickte nachdenklich: »Ja, das waren meine Worte. Vielleicht habt Ihr Recht.«
»Sicher habe ich das«, sagte Volmar mit einem Lächeln.
Endlich kann Hildegard diese ganzen schweren und erdrückenden Gedanken beiseite wischen. Es erstaunt sie ein wenig selbst, aber langsam kehrt ein tiefer Frieden ein in ihr Herz. Sie dankt Gott dafür, dass er ihr Volmar als ihren Vertrauten an die Seite gestellt hat und er ihr immer wieder ein guter Ratgeber war und sicher auch weiter sein würde. Bevor die Nacht gänzlich über den Rupertsberg hereinbricht, sieht sie noch aus den Augenwinkeln den Vogel sich erheben und einem neuen Ziel entgegenfliegen.
Der Falke ist bereit, seinen Weg fortzusetzen. Er hat gesehen, was er sehen wollte, gehört, was er zu hören hoffte. Nun breitet er seine Schwingen aus und erhebt sich von den höchsten Zweigen des Baumes, auf dem er stiller Beobachter gewesen war.
Steckbrief: Hildegard von Bingen
1098 Geburt in Bingen als zehntes Kind einer Adelsfamilie
1101 Erste Visionen
1106 Erziehung und Unterkunft bei Jutta von Sponheim
1112 Einzug in die Frauenklause Disibodenberg
1115 Hildegard nimmt den Schleier
1136 Nach Jutta von Sponheims Tod wird sie Magistra der Frauenklause Disibodenberg
1141 Visionen und Verschriftlichung: »Scivias«
1147 Papst Eugen III. erkennt ihre Sehergabe an
1148 Planung Frauenkloster auf dem Rupertsberg
1150 Einzug ins Kloster Rupertsberg bei Bingen am Rhein
1151 Fertigstellung des Visionsbuches »Scivias«
1159–71 Vier Predigtreisen u. a. nach Mainz, Würzburg, Trier oder Köln
1165 Erwerb von Kloster Eibingen für nichtadelige Nonnen
1179 Hildegard stirbt im Kreise ihrer Nonnen
1632 Zerstörung des Klosters auf dem Rupertsberg während des Dreißigjährigen Kriegs durch schwedische Truppen
2012 Heiligsprechung durch Papst Benedikt XVI. und Ernennung zur Kirchenlehrerin
Wissenswertes Der Name Hildegard von Bingen ist auch heute noch vielen Menschen bekannt. Es gibt Hildegard-Tee, Kekse, Kräutermischungen, Koch- und Backbücher. Hildegard hat das damals vorhandene Wissen über Krankheit, Ernährung und die Wirkung von Heilkräutern zusammengetragen und ihre eigenen Beobachtungen hinzugefügt. Sie wusste sehr genau um die Zusammenhänge zwischen Ursache und Wirkung von Gesundheit und Krankheit. Ein großer Schritt war es für sie, als ihre Visionen von Papst Eugen III. öffentlich anerkannt wurden und sie die Genehmigung bekam, diese auch niederzuschreiben. In einer ihrer Visionen bekam sie den Auftrag, ein eigenes Kloster zu bauen und mit ihren Nonnen auf den Rupertsberg bei Bingen umzusiedeln. Hildegard hatte nur wenige enge Vertraute, darunter war der Probst Volmar, der auch ihr Beichtvater war, und eine junge Nonne, Richardis von Stade, der sich Hildegard bis zu ihrem Auszug aus dem Kloster eng verbunden fühlte. Hildegard kam mehrmals mit Kaiser Friedrich Barbarossa zusammen, um ihn zu beraten und zu maßregeln. Sie hinterlässt ein umfangreiches Werk aus Büchern zu Themen der Religion, Musik, Ethik und Heilkunde. Seit dem Dreißigjährigen Krieg befinden sich ihre Reliquien in einem Schrein in der Kirche des alten Klosters in Eibingen. Das Kloster auf dem Rupertsberg wurde bei Sprengungen für die Eisenbahn bis auf einen Gewölbekeller zerstört.
Übrigens: Um 1170 wird Wolfram von Eschenbach geboren. Er ist der Autor des Versromans »Parzival«.