Читать книгу Mit Wind unter den Flügeln - Tanja Wenz - Страница 8
ОглавлениеRadegundis:
Königin des Frankenreiches
»Jesus Christus war und ist immer mein Ansporn, er ist meine große Liebe. Alles andere interessiert mich nicht!«
Der Falke hat sein erstes Ziel in den Blick genommen. Sein Weg ist weit, doch er sieht es klar vor sich. Nach langem Flug erreicht er schließlich Poitiers und überfliegt ein großes Klostergelände. Nach nur wenigen Augenblicken findet er, wonach er suchte. Im weitläufigen Klostergarten geht eine Frau umher. Sie ist schlank und bewegt sich katzengleich. Sanft landet der Falke auf dem höchsten Turm des Klosters.
Radegundis geht im Klostergarten auf und ab. Sie nimmt sich eine Stunde für die Kontemplation. Normalerweise hätte sie heute Dienst im Krankenraum, denn heute ist der Tag, an dem die Aussätzigen von Poitiers ins Kloster kommen und versorgt werden. Es sind die Menschen, die sonst nirgendwo Zuspruch oder gar Pflege bekommen, doch Radegundis versorgt diese gern und sie entlässt keinen ohne Kuss.
Eine Mitschwester hatte sie darauf einmal angesprochen und entsetzt gefragt: »Wie könnt Ihr diese Menschen küssen? Kein anderer wird Euch mehr den Kuss darbieten, wenn er wüsste, dass Ihr Aussätzige küsst.«
Radegundis hatte ihr ganz eigenes Lächeln gelächelt, ein Lächeln voll liebenswerter Güte, aber auch Überlegenheit und Ironie, hatte ihre grünen, blitzenden Augen auf ihre Mitschwester geheftet und geantwortet: »Nun, da Ihr mir diese Frage stellt, frage ich mich gerade, ob ich Euch noch den Kuss darbieten möchte.«
Mit diesen Worten hatte sie ihre Mitschwester im Hospiz stehen lassen, während diese ihr nur sprachlos hinterher schauen konnte.
Ihre Schritte werden langsamer, ihr Gang ruhiger, sie blickt zum Klostergebäude hinüber und wartet. Nun, die Meinung von anderen hat Radegundis noch nie interessiert. Sie ist immer ihren eigenen Weg gegangen, zumindest soweit ihr das als Frau möglich gewesen ist. Wen sollte sie auch um Rat fragen? Obwohl sie schon so lange im Frankenreich lebt, gibt es kaum einen Menschen, dem sie vertraut. Von Venantius einmal abgesehen. Aber auch er stammt ja nicht aus Poitiers, sondern aus Venetien.
Radegundis hat kaum noch Erinnerungen an ihre alte Heimat Thüringen oder an ihre Eltern. Sie weiß, dass ihre Mutter schon früh bei der Geburt ihres Bruders gestorben ist und ihr Vater von ihrem Onkel ermordet wurde, als sie noch ein ganz kleines Mädchen gewesen war. So zumindest erzählte man es sich hinter vorgehaltener Hand. Offen gesprochen hat niemand mit ihr darüber. Aber das ein oder andere hat sie trotzdem mitbekommen.
Ihr erging es am königlichen Hof ihres Onkels nicht schlecht. Dort lernte sie Lesen und Schreiben und manches mehr. Der Weg dahin war aber gesäumt von Krieg, Tod und Leid. Sie schüttelt sich leicht, als sie daran denken muss. Es sind keine schönen Erinnerungen, die sie an diese Zeit hat. Überall lagen Tote und Verletzte herum. Pferde wieherten in Panik. Ein schrecklicher Anblick. Sie und ihr Bruder wurden von Chlothar I. in sein Reich an die Somme verschleppt, in das ihr völlig fremde Frankenreich. Chlothar I., ihr Ehemann, den sie heiraten musste, obwohl sie nie heiraten wollte. Chlothar I., Frankenkönig, Chlothar I., Brudermörder. Wieder durchfuhr sie ein kalter Schauer. Chlothar, vor dem sie geflohen war und der sie verfolgen ließ.
Es war eine gewaltige Umstellung für Radegundis, denn sie musste eine neue Sprache lernen und sie hatte alles verloren, was sie kannte und liebte. Bis auf ihren Bruder. Aber sie hatte auch Neues kennengelernt. Das Wertvollste darunter war wohl der christliche Glaube, Jesus Christus, dem sie folgte. Der ihr Trost spendete und sie auf einen ganz anderen Weg als bisher führte. Vergessen waren die heidnischen Götter, nun zählten nur noch Jesus Christus und das Reich Gottes. Voller Liebe dachte sie an die Gebete zu ihm, die Gemeinschaft mit anderen Christen. Sie hatte beschlossen, ihr Leben Gott zu weihen und nicht zu heiraten.
Noch immer wird sie rot vor Zorn, wenn sie daran denken muss, dass es Chlothar I. war, der ihr einen Strich durch die Rechnung machte. Chlothar, immer wieder Chlothar, denn er begehrte sie zur Frau, besser gesagt er begehrte ihre thüringischen Erbansprüche, die sie noch immer hatte. Ihr Blick wird etwas milder. Nun ja, sie hat das Beste aus ihrer Ehe gemacht, da ist sie sich sicher.
Die Rosen im Spalier verströmen ihren betörenden Duft und holen Radegundis aus ihren Erinnerungen zurück. Sie bleibt stehen und genießt eine Weile die wärmende Sonne. Wann endlich kommt Venantius? Venantius Fortunatus, der Priester des Klosters, Berater, Freund und Glaubensgenosse. Er hat vor, zu ihr zu kommen, um Briefe mit ihr zu besprechen. Der gute Venantius! Es ist ihr immer eine Freude, mit ihm zu plaudern. Nicht nur über die Briefe an hochgestellte Persönlichkeiten, sondern auch ganz allgemein über das Leben innerhalb und außerhalb der Klostermauern. Wenn sie es recht bedachte, war es oft ein richtiger Tratsch, den sie zusammen abhielten. Doch gerade das tat so gut! Venantius hatte aber auch die wunderbare Gabe, andere Menschen parodieren zu können. Es war so herrlich, wie er die näselnde Stimme der Äbtissin im Kloster Metz nachahmte oder den Gang ihres Gemahls Chlothar. Wie er den Zeigefinger auf eine bestimmte Art beim Reden oder Rezitieren hob, wedelte und senkte. Radegundis hatte oft Tränen gelacht. Das Schöne an der Freundschaft und Vertrautheit zu Venantius war, dass sie beide schweigen konnten wie ein Grab. Wenn sie über König Chlothar oder über die neue Äbtissin im Kloster witzelten, blieb das alles unter ihnen. Sie vertrauten sich blind, und das war einmalig. Keinem anderen Menschen würde sie so viel von sich anvertrauen.
Radegundis lächelt wieder still in sich hinein. Auch eine Frau hat ihre Macht. Sie braucht dafür keine Waffen, keine Pferde und kein Gold. Sie muss nur eine gute Menschenkenntnis haben und die richtigen Hebel ansetzen und schon bekommt eine Frau, was sie begehrt, in ihrem Fall ein eigenes Kloster. Obwohl der Prozess bis hierhin, wie sie zugeben muss, doch etwas langwieriger war als sie gehofft hatte, denn Chlothar ist in der Tat etwas schwer von Begriff. Sicher liegt es daran, dass er schon betagt an Jahren ist und das war ja auch schon so gewesen, als sie ihn hatte heiraten müssen.
Aber letztlich hatte sie ihn dahin bekommen, wohin sie ihn haben wollte, nämlich außerhalb ihres Bettes. Anscheinend musste sie auf ihn eine geradezu betörende Anziehung ausgeübt haben, obwohl sie dazu selber nie aktiv Anlass gegeben hatte. Sie hatte nie, wirklich niemals heiraten wollen und hatte das auch vehement kundgetan. Chlothar jedoch hatte sie gezwungen. Vielleicht war es ihre innere Unabhängigkeit, die er so geschätzt hatte, redete sie sich manchmal ein, wenn sie es in den wenigen Minuten ihres gemeinsamen Lebens gut mit ihm meinte, oder aber ihr Erbe, oder ihr frisches Fleisch, wenn sie es nicht gut mit ihm meinte. Gerade diese Unabhängigkeit wurde ihm eines Tages zum Verhängnis.
Radegundis Lächeln wird hart, als sie daran denkt, dass er meinte, mit ihr sein übliches Machtspiel spielen zu können und darüber hinaus mit ihren Mitmenschen verfahren zu können, wie es ihm beliebte. Er hat wohl nicht damit gerechnet, dass der Mord an ihrem Bruder sie veranlassen würde, das Weite zu suchen.
Radegundis nimmt ihren Gang über das Klostergelände wieder auf, lässt den Duft der Rosen hinter sich. Sie weiß noch genau, wie erstaunt sie war, als Chlothar sie dann verfolgen und suchen ließ und sie anflehte, zu ihm zurückzukehren. Doch diese Sentimentalität hatte sie keine Sekunde zu einer Umkehr bewogen. Sie lächelt bei diesen Gedanken immer noch, als sie endlich Venantius auf sich zukommen sieht.
»Zu dir wollte ich gerade«, sagt sie verschmitzt, und ihre grünen Augen blitzen vor Belustigung. »Mein Herz wurde etwas ungeduldig und wollte nicht mehr warten, bis du kommst. Da hätte ich sogar die kalten Mauern des Klosters in Kauf genommen.«
Venantius strahlt übers ganze Gesicht. »Ach, ich denke, es ist schöner, wenn wir uns hier im Garten die Beine vertreten. Das Wetter ist einfach herrlich und hier draußen gibt es weniger Ohren und Augen, die mitlauschen oder sehen können.« Auch er lächelt verschmitzt.
»Nur der Falke dort oben«, lacht Radegundis und zeigt auf den höchsten Turm. »Woher er wohl kommt?«
»Wohin er wohl fliegt?« Beide sehen sich voller Vertrautheit an und lächeln.
Radegundis liebt diese kleinen Neckereien, und sie liebt den Sommer und die Wärme. Seite an Seite gehen sie die schmalen Wege entlang. Das Besondere an Venantius ist, dass sie auch mal gemeinsam schweigen können. Es ist dann kein unangenehmes Schweigen, sondern ein stilles Einvernehmen zwischen verwandten Seelen. Reden können viele Menschen, aber Schweigen nur die wenigsten. Beide müssen sich nun etwas aneinanderdrücken, denn die Wege sind nicht überall dafür gedacht, zu zweit nebeneinander auf ihnen zu wandeln. Überhaupt sind sie nicht dazu gedacht, auf ihnen voller Muße zu wandeln. Die Arbeit im Kloster steht an erster Stelle und das Wandeln ist ein Luxus.
Aber Radegundis sieht das etwas anders: Wer viel betet, viel fastet, Kranken hilft und die niedersten Arbeiten im Kloster verrichtet, darf manchmal im Garten wandeln. Natürlich würde sie das nie zu ihren Nonnen sagen, aber für sich selbst findet sie so einen Spazierganz ganz legitim. Für sie ist auch das ein Dienst für Gott. Hier wird sie ganz still im Gebet. Hier begegnet sie ihm ganz persönlich.
Die Gespräche mit Venantius reiht sie da mit ein. Schließlich müssen die Gedanken auch einmal fließen dürfen und sich nicht nur auf die Arbeit konzentrieren. Denn Gedanken können sich auf diese Art und Weise weiterentwickeln und manchmal eine ganz bestimmte Form annehmen.
»Venantius, weißt du noch, wie ich in Noyon die Idee zu diesem Kloster hatte? Wie ich den Plan entwickelte, das erste Frauenkloster im Frankenreich zu gründen?«, fragt sie ihn unvermittelt.
Ihr Freund nickt mit dem Kopf und antwortet: »Ich war zwar nicht dabei, weil ich ja erst später in dein Leben getreten bin, aber ich habe es von anderen gehört, und auch du hast mir schon davon berichtet. Doch das hat mich, als ich es dann hörte, stark beeindruckt. Deine Haltung und Gradlinigkeit.«
Radegundis blickt ihn direkt an und für einen kurzen Augenblick ist da ein tiefes Verständnis zwischen ihnen. Radegundis nickt leicht mit dem Kopf. Schon manches Mal hatte sie geglaubt, in Venantius‘ Augen einen verborgenen Schatten einer ungestillten Leidenschaft zu entdecken. Nur ein kleiner Funke davon, doch nie so viel, dass es ihr unangenehm wurde. Aber sie glaubte fest, wenn er kein Priester geworden wäre, sondern geheiratet hätte, dann hätte er sich ganz sicher für eine Frau wie sie selbst es war entschieden.
Als hätte er ihre Gedanken gelesen, sagt er nun lächelnd: »Du hast mich erwischt. Es ist deine Schönheit, die mich fasziniert, oh Holde, und die Art, wie du dich bewegst. Deine starke Ausstrahlung, Blume der Somme, die fast eine magische Anziehung auf mich ausübt.« Durch die leicht dahingesprochenen Worte wird es nie schwer zwischen ihnen. »Und übrigens auch auf die meisten Menschen, die dir begegnen«, setzt er hinzu, »auch wenn du selbst das nie siehst oder wahrhaben willst, weil dich das schnöde Weltliche nicht zu interessieren scheint.«
»Jesus Christus war und ist immer mein Ansporn«, erwidert Radegundis leise, »er ist meine große Liebe. Alles andere interessiert mich nicht!«
»Das weiß ich«, sagt Venantius, »obwohl es dich nicht davon abgehalten hat, einen weitreichenden Briefwechsel mit allen möglichen Persönlichkeiten zu führen, geistlich …« Er macht eine kleine Pause und fährt dann fort: »… wie auch weltlich. Du bist eine beliebte Briefpartnerin, von manchen sicher etwas gefürchtet, denn du bist überaus schlagfertig und nimmst nie ein Blatt vor den Mund.«
»Du sagst das so, als sei dies etwas Wunderbares«, meint Radegundis nachdenklich, »doch das verschaffte mir nicht immer nur Freunde, wie du genau weißt.«
»Dennoch«, sagt Venantius mit Nachdruck, »ich bleibe dabei. Ich habe das sichere Gefühl, dass das Christentum im Frankenreich durch dein Charisma und deine Gläubigkeit fester in den Gedanken und Handlungen vieler Menschen, besonders auch der Mächtigen, verankert worden ist.«
Radegundis räuspert sich. Sie weiß genau, dass Venantius auf Chlothar anspielt. »Weißt du, Venantius, Chlothar ist kein ganz so schlechter Mensch wie ich zuerst gedacht habe, oder alle anderen das meinen. Er ist sehr gläubig und hat mich selbst immer in meinem Glauben bestärkt. Auch wenn ich mehr Nonne als Ehefrau für ihn war, hat er mich stets gut behandelt. Wenn unsere Dienerschaft schlecht über mich gesprochen hat und Freunde und Verwandte die Nase gerümpft haben, weil ich die Fleischschüsseln wortlos weitergereicht und nichts davon genommen habe, hat er mich stets vor ihnen verteidigt.«
Venantius zieht die Stirn kraus und überlegt: »Vielleicht hatte er Angst vor der Strafe Gottes, wenn er seine Frau nicht unterstützt in ihrem Glauben.« »Wer weiß, aber nur durch ihn habe ich die nötigen Geldmittel bekommen, um das Kloster verwirklichen zu können«, erwidert Radegundis. »Als er endlich verstanden hat, dass ich nicht zu ihm zurückkehren, sondern eine Braut Christi werden würde, hat er viele Hebel in Bewegung gesetzt, um mich zu unterstützen.«
»Manchmal redest du zu gut von ihm«, sagt Venantius ernst, »du weißt sehr wohl, dass dein Mann durchaus seine grausamen Seiten hat. Da er sie dir persönlich gegenüber aber oft nicht zeigt und sich fast immer zivilisiert verhält, scheinst du das manchmal zu vergessen.«
»Nicht zu vergessen, lieber Venantius«, sagt Radegundis mit Nachdruck, »aber zu verzeihen. Ich rechne es Chlothar tatsächlich hoch an, dass er sich mir gegenüber stets höflich verhalten hat, denn das ist, nachdem ich kinderlos blieb, keine Selbstverständlichkeit.«
Venantius verlangsamt seine Schritte und bleibt stehen. Neugierig fragt er: »Und wie hat Chlothar reagiert, als du Agnes, eure Adoptivtochter, als Äbtissin eingesetzt hast? Über diesen Punkt haben wir noch nie gesprochen.«
»Agnes ist ein Juwel«, antwortet Radegundis mit Liebe in der Stimme, »sie ist eine überaus liebreizende junge Dame und sicher hätte Chlothar sie gut mit dem Sohn eines benachbarten Königshauses vermählen können. Darauf spielst du sicher an, nicht wahr, mein Freund? Du wunderst dich bestimmt, dass Chlothar seine Tochter einfach so ziehen ließ.«
»Du liest in mir wie in einem offenen Buch«, lacht Venantius, der nicht zum ersten Mal denkt, dass Radegundis ihn mit ihren grünen, leicht schrägstehenden Augen an eine Katze erinnert. Die Antwort erstaunt ihn. »Darüber habe ich auch immer wieder nachgedacht. Obwohl Agnes nicht seine Tochter dem Fleische nach ist, liebt er sie sehr. Sie wollte ihr Leben schon immer Gott weihen und er wusste, dass er gegen ihren Willen handeln würde, sollte er sie zu einer Heirat zwingen. Außerdem hat er schon bei mir gemerkt, dass es einer Ehe nicht zuträglich ist, wenn sie gegen den Willen der Frau geschlossen wird. Nein, er hat sie traurigen Herzens, aber mit seinem Segen dem Kloster überlassen.« Erneut kommen beide an den Rosen vorbei. Der süße Duft hüllt sie ein.
»Ich bin meinem Mann dafür sehr dankbar«, ergreift sie erneut das Wort, »denn so weiß ich eine Person meines Vertrauens an der Spitze meines Klosters. Und Agnes macht sich wirklich gut. Das Kloster erhält regen Zuspruch und mittlerweile ist es auf fast 200 Nonnen angewachsen. Eine beachtliche Zahl für die kurze Zeitspanne von der Gründung bis zum heutigen Zeitpunkt, meinst du nicht?«
»Warum hast du den Vorsitz über das Kloster nicht selbst übernommen?«
Ihre großen grünen Augen bohren sich in seine. »Wie kann ich das? Gibt es keine bessere Berufung als den Dienst an Kranken? Hilfst du einem Armen, so hilfst du mir, hat Christus gesagt. Wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöht werden, Venantius, das kann dir doch nicht entfallen sein?« Sie lacht ihr glockenhelles Lachen.
»Auch wenn ich als thüringische Prinzessin aufgewachsen bin und nach meiner Verschleppung am königlichen Hofe in Reichtum und Luxus lebte«, fährt sie fort, »bin ich doch nicht glücklicher in Reichtum gewesen als hier in Armut. Ich habe keine königlichen Gewänder oder Macht nötig, um glücklich zu sein. Ich bin eine Dienerin Gottes.«
»Ich glaube, das ist der Grund, warum dir so viele Frauen ins Kloster folgen«, sagt Venantius anerkennend und voller Stolz, »und warum die großen Persönlichkeiten im Frankenreich mit dir Briefe wechseln. Du verkörperst für viele das lebendige Christentum in seiner reinsten Form.«
»Apropos Briefe«, sagt Radegundis und versucht durch den Themenwechsel von ihrer Verlegenheit abzulenken, »lass uns die Korrespondenz nach einem Gebet besprechen. Nicht mir gebührt so viel Lob, sondern Gott allein.«
Seite an Seite gehen sie in die Klosterkirche für ein gemeinsames Gebet. Aus den Augenwinkeln sieht Radegundis, wie der Falke sich erhebt.
Der Falke sieht die Frau und den Mann in der Klosterkirche verschwinden. Er drückt sich mit den Beinen vom Gemäuer ab und breitet seine Schwingen aus. Unter ihm liegt das Städtchen Poitiers, das von dem Flüsschen Clain in zwei Hälften geteilt wird. Dann dreht er ab und fliegt davon. Er hat ein neues Ziel.
Steckbrief: Radegundis (Königin der Franken)
Um 520 Geburt bei Mühlburg nahe Gotha
531 Verschleppung nach Neuestrien bei Péronne
540 Erzwingung der Heirat mit König Chlothar
550 Chlothar lässt Radegundis’ Bruder ermorden – sie flieht
556 Aussöhnung mit Chlothar
558 Gründung eines eigenen Frauenklosters »Sainte-Marie-hors-les-Murs«
561 König Chlothar I. stirbt
Ab 565 Schriftsteller, Dichter und Priester Venantius Fortunatus lebt in Poitiers und ist über 20 Jahre Radegundis’ Vertrauter und Freund
569 Der byzantinische Kaiser spendet einen Splitter des heiligen Kreuzes für ihr Kloster
587 Radegundis stirbt in Poitiers im Frankenreich und wird in der Klosterkirche beerdigt
19. Jh. Heiligsprechung
1887 Papst Leo XIII. stiftet eine goldene, mit Edelsteinen geschmückte Krone, diese trägt die Statue der Heiligen im Dom von Poitiers
1987 1400. Todestag: Errichtung eines Gedenksteins an der Kapelle zur Mühlburg
Wissenswertes Radegundis entstammte einem alten thüringischen Adelsgeschlecht. Nach dem Sieg des Frankenkönigs Chlothar I. über die Thüringer wurde sie als 11-Jährige zusammen mit ihrem Bruder in das Land der Franken verschleppt. Hier wurde sie fortan christlich erzogen und lernte Latein. Gegen ihren Willen musste sie Chlothar I. heiraten, der schon früh um sie geworben hatte. Fortan war sie Königin an seinem Hofe, lebte aber asketisch und ernährte sich vegetarisch. Da die Ehe kinderlos blieb, adoptierten sie ein Mädchen, das sie Agnes nannten. Radegundis wurde am königlichen Hof bespöttelt, da sie eher wie eine Nonne lebte denn als Königin. Als Chlothar ihren Bruder ermorden ließ, floh sie. Er wollte sie zurückgewinnen, sie aber weigerte sich. Später versöhnten sie sich, sodass sie mit seiner Hilfe das erste Frauenkloster in Frankreich gründete. Sie kehrte nie an den Hof zurück. Ihr engster Vertrauter war Venantius Fortunatus. Er war Dichter, Musiker und Literat. Später wurde er Bischof von Poitiers. Als Äbtissin setzte Radegundis ihre Adoptivtochter Agnes ein. Radegundis blieb zeit ihres Lebens ihrer asketischen Gesinnung treu. Sie betete viel, schlief und aß wenig. Außerdem versah sie die niedrigsten Dienste im Kloster und kümmerte sich intensiv um Kranke, besonders um die Aussätzigen, deren Schutzpatronin sie wurde. Ihr Gedenktag ist der 13. August.
Übrigens: Zwischen 532-537 wurde die Hagia Sophia, die Sophienkirche, in Konstantinopel, dem heutigen Istanbul gebaut. Sie gilt als eines der bedeutendsten Gebäude aller Zeiten und wurde lange als Museum genutzt.
Heute ist sie zu einer islamischen Moschee umgewidmet.