Читать книгу Mit Wind unter den Flügeln - Tanja Wenz - Страница 9

Оглавление

Jutta von Sponheim:

Himmel oder Hölle?

»Was soll ich nur machen? Wo ist mein Weg, was hat Gott mit mir vor?«

Seine Reise hat ihn weit getragen, die Winde unter seinen Flügeln werden kälter. Erster Frost liegt in der Luft. Der Falke umfliegt die gigantischen Mauern einer riesigen Kirche. Dann schwenkt er zum Klostergarten des Frauenkonventes, der danebenliegt, und lässt sich auf einem großen Baum nieder. Von hier hat er einen guten Blick in den Garten.

Jutta kniet im Untergewand im Klostergarten, die Hände zum Gebet gefaltet, den Kopf gesenkt. Ein eisiger Wind fegt die letzten Blätter von den Bäumen und treibt sie vor sich her. Juttas Hände und Füße sind blau verfärbt, alles Blut ist aus ihnen gewichen, doch sie bemerkt es gar nicht. Der Boden ist gefroren und das Gras ist mit einer dünnen Eisschicht überzogen.

»Mutter, es wird Zeit hineinzugehen!«

Jutta reagiert nicht, und Pauline ist sich gar nicht sicher, ob sie überhaupt ihr Rufen gehört hat.

»Komm, das bringt doch nichts, das weißt du doch«, erinnert Clementina. »Sie ist so tief in der Versenkung, dass sie dich nicht hören wird, egal wie laut du nach ihr rufst. Außerdem tut der stürmische Wind sein Übriges. Wir helfen ihr einfach hoch und bringen sie in ihre Kammer.«

Pauline nickt, und so greifen sie, eine rechts und die andere links, Jutta unter die Schulter und ziehen sie vom Boden hoch. Jutta erschrickt und wehrt sich. Sie hatte doch erst eine Stunde hier draußen gesessen, bis Mitternacht wollte sie hierbleiben.

»Was macht ihr? Lasst mich!«, herrscht sie ihre beiden Mitschwestern an. Doch diese lassen sich nicht beirren, zu oft haben sie in letzter Zeit ihre Magistra nachts aus dem vereisten Garten zurück in die Kammer geholt. Juttas Füße sind gefühllos vor Kälte und so wird sie von den beiden Nonnen mehr getragen als dass sie selber geht. Aber da sie kaum noch etwas wiegt, ist das leicht zu schaffen. Außerdem hat Jutta keine Kraft, sich zu wehren. Sanft aber bestimmt führen die Schwestern sie in ihre Kammer und legen Jutta auf ihr Bett. Liebevoll decken sie sie zu.

»Warum macht sie das bloß immer? Will sie denn nicht mehr leben? Oder will sie ihr Leben verkürzen und nicht mehr bei uns bleiben?«, fragt Pauline traurig.

Da tönt aus der Ecke des Raumes eine klare Stimme: »Schweigt, eure Magistra hat ihre Gründe und die gehen euch nichts an.«

Die beiden jungen Nonnen senken demütig ihre Köpfe und ziehen sich zurück. Hildegard tritt aus dem Schatten heraus und setzt sich auf einen Schemel nahe ans Bett. Sie nimmt Juttas kalte Hände und wärmt sie. Jutta schläft bereits, so erschöpft ist sie. Sie spürt nicht mehr, wie Schauer durch ihren unterkühlten Körper jagen.

In ihren Träumen ist sie wieder jung und vor allem frei von Ängsten. Wie sehr fürchtet sie die Verdammnis, wenn sie wach ist, den Teufel, die Hölle. Doch wenn sie schläft, dann findet sie Frieden. Glocken beginnen zu schlagen. Wo kommen sie her? Haben sie nicht schon längst zum Komplet geläutet?

Aber nein, das sind die Glocken von Sponheim. Jutta sieht sich wieder als junges Mädchen in ihrer Kammer an einer Stickarbeit sitzen. Es ist ein kalter Wintertag und die fahle Wintersonne spendet nur spärliches Licht. Bald wird es zu dunkel für diese feine Arbeit sein. Leise murmelt die junge Jutta vor sich hin: »Was soll ich nur machen? Wo ist mein Weg, was hat Gott mit mir vor?« Es klingt wie ein monotoner Singsang und ihr Oberkörper pendelt dabei hin und her.

Ihr Bruder hatte ihr vor zwei Wochen mitgeteilt, dass sie nicht an einer Pilgerreise nach Compostela teilnehmen dürfe. Das hatte sie so erschüttert, dass sie für zwei Tage überhaupt nicht mehr gesprochen hat und auch jetzt ist sie schweigsam und redet nur das Nötigste mit ihrer Familie und mit ihrer Lehrmeisterin. Für Jutta war die Pilgerreise Hoffnung gewesen, Hoffnung für einen ersten Schritt auf ihrem Weg zu Gott. Hier ist er ihr oft fremd geworden, bei all der täglichen Arbeit und den vielen gesellschaftlichen Ablenkungen, die ein Leben auf einer Burg mit sich bringen. Jutta hat nur ein Ziel, sie möchte Gott nahe sein, ihn mit jeder Faser ihres Körpers fühlen, sie möchte seine Braut werden. Wie soll ihr das, hier auf der heimatlichen Burg, gelingen? Hier, wo sie immer wieder von Heiratswilligen bedrängt wird. Jutta ist sich sicher, dass eine Heirat sie in eine innere Dunkelheit führen würde, es wäre ihr geistiger Tod. Seit zwei Wochen drehen sich Juttas Gedanken um ihren weiteren Lebensweg. Sie hatte so sehr gehofft, auf ihrer Pilgerreise neue Hinweise von Gott zu bekommen, einen neuen Lebensweg aufgezeigt zu bekommen, einen Lebenssinn. Auf der Burg sieht sie für sich keine Zukunft und eine lange Reise hätte Abstand gebracht, vielleicht wäre sie auch der Beginn eines neuen Lebens geworden.

Juttas Mutter betritt den Raum und schaut ihrer Tochter eine Weile schweigend zu, dann sagt sie: »Jutta, für dich wäre es das Beste, wenn du heiraten würdest, es wäre für uns alle das Beste.«

Jutta hebt den Kopf und antwortet: »Nein, ich werde nicht heiraten, niemals!« Die Wintersonne sinkt hinter den Burgfried und lange Schatten legen sich auf die Kammer, auf das Mädchen und die Mutter. Es wird finster in dem Raum, bald ist nichts mehr zu erkennen. Es rückt alles in den Hintergrund, verschwimmt, und über allem liegt nun eine erdrückende Dunkelheit, die sich wie Schatten auf die Seele legt. Die Worte hallen in Jutta nach, dringen zu ihr ins Bewusstsein. Juttas Herz beginnt zu rasen, sie möchte schreien, sich aufbäumen, sie wird nie heiraten, niemals! Da legt sich plötzlich eine warme Hand auf Juttas Gesicht und leise gemurmelte Worte sind zu hören. Jutta versteht, es ist Hildegard, die bei ihr sitzt. Getröstet schläft Jutta wieder ein und versinkt erneut in ihren Träumen. Dieser Traum ist anders, leichter. Die Dunkelheit ist verschwunden, alles fühlt sich wunderbar und aufregend an. Die Sonnenstrahlen funkeln und lösen langsam den Nebel auf, der über allem liegt.

Jutta erkennt, wohin der Traum sie geleitet hat. Sie sieht Menschen den Berg hinaufsteigen, einige Mönche gehen vorweg, danach folgt eine junge Frau, die zwei Mädchen an den Händen hält. Und noch weitere Menschen eilen ihnen hinterher.

Der Ruf eines Falken ist zu hören. Er lockt Jutta, er ruft sie. Soll sie ihm folgen? Kurz zögert sie. Aber wovor hat sie Angst? Der Nebel lichtet sich, sie kann nun besser sehen. Der Falke fliegt der Menschenprozession voraus, Juttas Blick folgt ihm und sie versteht, was er ihr zeigen möchte. Sie ist es selbst, die Hildegard und ein anderes Mädchen an der Hand hält und Teil der Prozession ist. Sie ist zwanzig Jahre alt, und dies ist ihr Einzug in die Frauenklause auf dem Disibodenberg. Zusammen schreiten sie den Berg hinauf. Es ist der Aufbruch in ein neues Leben. Alles ist wunderbar hell und die junge Frau und die Mädchen sehen freudvoll ihrem neuen Leben entgegen.

Ja, das hier ist ihr Weg zu Gott. Mit schwungvollem Schritt tritt sie durch die Klosterpforte. Dies also ist ihr neues Zuhause, hier wird sie leben und Gott dienen. Welch eine Freude! Aufmerksam schaut Jutta sich um. Ihre Blicke gleiten an den Mauern der Frauenklause entlang, hinauf und hinunter. Als sie nicht findet, was sie sucht, wird ihre Miene starr vor Schreck.

Mit quaderförmigen Steinen wurde die Klause gebaut, stabil und ohne Lücken, ohne Öffnungen. Langsam begreift sie. Ein Windstoß fegt über die grauen Steinblöcke und dunkle Wolken werfen ihre Schatten darauf. Jutta bleibt abrupt stehen. Sie drückt die Hand ihrer Freundin, sucht Halt. Hildegard erwidert den Druck, begegnet ihrem Blick mit aufgerissenen Augen. Mit Grauen im Herzen stellt Jutta fest, dass die Klause keinen Garten, keine Fenster und keine richtige Tür hat. Soll sie etwa eingeschlossen werden? Hatte ihre Mutter oder ihr Bruder das für sie im Sinn gehabt? Lebendig eingemauert werden, ohne Kontakt zur Außenwelt, mit einer kleinen Luke zum Durchreichen der Nahrung? Soll so ihre Zukunft aussehen? Nie wieder den Tau auf dem Gras unter den Füßen spüren und keinen Himmel mehr sehen dürfen? Für immer eingeschlossen sein? Nein, das darf nicht sein!

Jutta spürt die Angst von damals in ihrem Herzen, unruhig wird sie im Schlaf und doch spürt sie die Hand von Hildegard. Aber der Traum entlässt sie noch nicht. Sie schaut die Mönche an, versucht in ihren verschlossenen Mienen zu lesen. Wo ist der Abt, wo ihre Mutter? Doch da ist nichts. Wieder ergreift Dunkelheit von ihr Besitz, verschleiert ihren Blick. Nebel steigt auf und legt sich milchig wabernd über die Klause, über die Mädchen und schließlich auch über die düsteren Mönche.

Jutta stöhnt und schluchzt auf ihrer Liege, Tränen laufen ihr wie kleine Sturzbäche über die Wangen. Voller Kummer nimmt Hildegard ein Tuch und wischt ihr sanft die Tränen ab. Sogar in ihren Träumen muss ihre Magistra, ihre Freundin, leiden. Reicht es nicht, dass Jutta sich aus Angst vor der Hölle jeden Tag kasteit, geißelt und sich halbnackt in den eisigen Garten setzt?

Unter ihren kundigen Händen beruhigt sich Jutta wieder und schläft weiter. Ihre Atemzüge sind nun ruhiger und gleichmäßiger.

Eine neue Szene taucht im Traum vor Jutta auf. Sie sitzt in der Klosterpforte. Alles ist in helles und funkensprühendes Licht getaucht. Menschen kommen zu ihr und suchen ihren Rat. Liebevoll begutachtet sie ein kleines Mädchen, streicht ihm über den Kopf, das lange blonde Haar ist zu zwei dicken Zöpfen geflochten. Bei diesem friedvollen Bild wird Jutta auf dem Lager ganz ruhig. Ihr Atem geht so leicht, dass er fast nicht wahrzunehmen ist. Nach einer Weile verschwinden die Menschen, nur der Klostergarten bleibt noch für einen Moment, ebenso der Falke hoch auf dem Baum, dann verschwindet auch er. Nun folgen keine weiteren Traumbilder mehr. Traumlos und ruhig schläft Jutta weiter.

Hildegard entspannt sich und überlässt sich ihren Gedanken und Überlegungen, als es leise an die Tür klopft und sie aufschreckt. Es ist Pauline, die eine Schale mit warmer Suppe für ihre Magistra in den Händen hält. Als sie sieht, dass Jutta schläft, stellt sie die Schale auf einen kleinen Tisch, der neben dem Bett steht und will wieder gehen.

Hildegard verspürt plötzlich den Wunsch nach einem Gespräch. Sie ist es leid, ihre Sorge um Jutta allein mit sich herumzutragen. Mit einer einladenden Geste fordert sie Pauline auf, einen zweiten Schemel aus der Ecke zu holen und sich neben sie zu setzen.

Pauline sieht etwas überrascht aus, es kommt nicht oft vor, dass Hildegard am Bett von Jutta Gesellschaft wünscht. Als wieder Ruhe im Zimmer eingetreten ist, nimmt Hildegard das Wort: »Clementina und du, ihr habt euch vorhin gefragt, wieso sich eure Magistra diese Sachen antut.«

Pauline reißt die Augen auf und hört gespannt zu.

»Jutta hat Angst vor der Hölle und dem Fegefeuer, das hatte sie schon immer. Doch nun wird es schlimmer, je näher sie dem Tode kommt. Deshalb kasteit sie sich selbst. Sie denkt, dass sie der Hölle entrinnen kann, wenn sie dem Leid Christi in ausreichender Weise folgt.«

Pauline ist unsicher, ob es erwünscht ist, dass sie auch etwas sagt, aber nach kurzer Überlegung traut sie sich zu sagen: »Viele von uns haben Angst vor der Hölle.« Hildegard nickt und antwortet: »Ja, ich weiß, aber schlagt Ihr euch deswegen auch blutig? Harrt Ihr bis zur Besinnungslosigkeit draußen in der Kälte aus?«

Betreten senkt Pauline den Kopf. Hildegard bemerkt das gar nicht, sondern fährt fort: »Ich frage mich die ganze Zeit, wann Jutta begonnen hat, sich in diese extreme Richtung zu verändern. Was war der Auslöser?«

Sie geht in ihrer Erinnerung zurück zu dem gemeinsamen Einzug auf den Disibodenberg. Sie weiß noch, wie ein Falke ihnen vorausgeflogen war. Der Vogel hatte sich seltsam vertraut gezeigt, so als würde er sie kennen. Darüber hatte sie nie mit Jutta gesprochen, aber Hildegard war sich insgeheim sicher, dass der Falke eine Bedeutung gehabt hatte. Sie erinnert sich, wie entsetzt sie alle gewesen waren, als sie verstanden hatten, dass ein Leben als Inklusinnen für sie vorgesehen gewesen war.

Alles war so schrecklich zugemauert gewesen, dunkel, ohne Ausblick, Fenster und Garten. Zum Glück hatte Juttas Bruder später dafür gesorgt, dass die Klause Fenster und einen Zugang zu einem kleinen Garten bekam. Nach dem ersten Schrecken war dann alles neu und aufregend gewesen und Jutta schien zufrieden zu sein und ganz in ihrem Leben als Ordensfrau aufzugehen. Doch irgendwann muss etwas passiert sein, das in ihr die Ängste schürte. Was ist es gewesen? Pauline holt sie aus ihren Gedanken zurück und flüstert mit zittriger Stimme: »Ich glaube, die Magistra fing an sich zu verändern, nachdem sie von Bernhard von Clairvaux gehört hatte.«

Hildegard schaut Pauline direkt an. »Ja«, sagt sie schließlich nachdenklich, »da magst du recht haben. Dieser Mann, dieser Mönch, der für die radikale Askese wirbt, für langes Fasten, Selbstkasteiung und wenig Schlaf, der hat sie wahrlich stark geprägt. Zeitgleich hat Jutta angefangen, von ihrer Angst vor der Hölle zu sprechen.« Hildegard hat jetzt wieder alles vor Augen. Dieser Mönch war der Auslöser für Juttas Wandel zur extremen Askese. Stück für Stück hatte sie ihren bisherigen Lebenswandel innerhalb des Klosters verändert. Hildegard überlegt, ob sie Pauline auch davon erzählen soll, was Jutta einmal zu ihr gesagt hatte. Sie schätzt die junge Nonne sehr und beschließt, ihr zu vertrauen und sich ihr zu öffnen. »Einmal hat Jutta mir mitgeteilt, dass alles Übel der Welt im menschlichen Fleische wohne und die einzige Rettung der menschlichen Seele darin bestünde, die Schwäche des Körpers zu überwinden und mit der Kraft des Geistes darüber hinauszuwachsen«, sagt sie leise und behält Pauline und Jutta dabei im Blick. Wie erwartet, erschrickt die junge Nonne bei diesen Worten. Stumm beginnt sie zu weinen, und auch Hildegard schüttelt sich leicht bei diesen Erinnerungen.

Im Nachhinein erscheint es ihr so, als wolle Jutta ihren Köper nicht mehr fühlen, als sei er nur ein Hindernis für sie auf ihrem Weg zu Gott. Immer wieder hatte Hildegard mit ihr darüber gesprochen und sie angefleht, ihr Leben zu ändern. Aber ohne Erfolg. Manchmal hatte es ihr förmlich das Herz zerrissen, wenn sie Jutta beim Waschen behilflich gewesen war und die vielen Narben und auch die frischen blutigen Striemen auf ihrem knochigen Rücken gesehen hatte.

»Hat unsere Magistra deshalb vor Jahren für uns Nonnen eine strenge Askese gefordert und auf der Verlängerung der Fasten- sowie der Gebetszeiten bestanden?«, fragt Pauline vorsichtig und wischt sich die Tränen fort.

»So ist es«, erwidert Hildegard. Sie weiß noch, als wäre es erst gestern gewesen, wie entsetzt sie damals gewesen war. »Ich habe ihr energisch widersprochen«, fügt Hildegard leise an, »sodass sie nicht alle ihre Wünsche und Forderungen durchsetzen konnte.«

»Aber unserer Magistra konntet Ihr nicht helfen«, stellt Pauline mit trauriger Stimme fest.

Hildegard nickt ebenso traurig. »Wenn Jutta so weitermacht, wird sie ihren Körper zerstören und wir können nichts dagegen unternehmen. Jetzt schon ist sie an manchen Tagen zu schwach, um ihre Kammer verlassen zu können, oder sie liegt von Schmerzen gepeinigt in ihrem Bett.«

Pauline zuckt zusammen, als Hildegard hinzufügt: »Wie oft habt ihr sie schon halb erfroren aus dem Garten gezerrt und zurück in ihre Kammer gebracht? Wie oft habe ich sie nach einer viel zu langen Fastenzeit wieder langsam mit Suppe und Heilkräutern wie ein krankes Kätzchen aufpäppeln müssen?«

Pauline sitzt ganz still und Hildegard weiß, wie schlimm es für sie ist, ihre Magistra so entkräftet zu sehen. Aber auch für alle anderen ist es schlimm.

Jutta bewegt sich wieder unruhiger und fängt im Schlaf an zu reden. Hildegard beugt sich über sie, kann aber nichts verstehen. Schließlich wacht Jutta auf und ihre Zähne beginnen heftig zu klappern. Sie erkennt Hildegard an ihrem Bett und bittet sie mit einer schwachen Kopfbewegung, näher zu kommen. Juttas Worte sind nur ein Flüstern und Pauline kann kein einziges Wort verstehen: »Wenn ich sterbe, dann sollst du meine Nachfolgerin werden. Ich bin mir sicher, dass du das Kloster gut leiten und deinen Nonnen eine gute Magistra sein wirst.«

Hildegard erschrickt und drückt Juttas Hand ganz sanft. Alles hätte sie sich vorstellen können, aber Magistra werden, das liegt ihr völlig fern. Bevor sie etwas erwidern kann, schließt Jutta die Augen und schläft wieder ein. Nun sind ihre Atemzüge völlig ruhig und absolut gleichmäßig. Hildegard bleibt an ihrer Seite sitzen. Nun ist sie es, die lautlos weint.

Der Wind hat aufgefrischt und peitscht das Gefieder des Falken. Er erhebt sich von dem Baum, breitet seine Flügel aus und kreist ein letztes Mal über dem Kloster. Dann dreht er ab und überquert dabei die Nahe.

Steckbrief: Jutta von Sponheim

Um 1092 Geburt in Sponheim bei Bad Kreuznach

1095 Tod des Vaters

1104 Lebensbedrohliche Erkrankung mit wundersamer Genesung

1106 Jutta weiht ihr Leben Gott und legt vor dem Bischof in Mainz die Jungfrauenweihe ab

Ab 1106 Unterricht zusammen mit Hildegard von Bingen auf Burg Sponheim

Um 1108 Juttas Wunsch nach einer Pilgerreise nach Santiago de Compostela wird von ihrer Familie abgelehnt

Um 1110 Die Familien von Jutta und Hildegard stiften Geld für den Bau einer Frauenklause auf dem Disibodenberg

Um 1112 Einzug in die Frauenklause auf dem Disibodenberg, Jutta wird Magistra der ihr anvertrauten Mädchen

1136 Jutta stirbt auf dem Disibodenberg und wird dort beerdigt. Hildegard von Bingen berichtet in ihrer Biografie von Wundern, die sich am Grab von Jutta zugetragen haben sollen. Das Grab war lange Zeit eine häufig besuchte Wallfahrtsstätte.

Wissenswertes­ Jutta wurde auf Burg Sponheim in der Nähe von Bad Kreuznach geboren. Mit 20 Jahren zog sie mit Hildegard von Bermersheim (später Bingen) in die Frauenklause auf den Disibodenberg ein. Jutta war fortan Magistra, Leiterin der Nonnen. Ob sie Inklusinnen waren oder doch Kontakt zur Außenwelt hatten, lässt sich nicht genau sagen. Sicher ist jedoch, dass Jutta auf einer gigantischen Baustelle gelandet war. Gleich gegenüber der heute vermuteten Frauenklause wurde die Abteikirche gebaut, die so groß wie der damalige Mainzer Dom war. Die Kirche wurde erst sechs Jahre nach Juttas Tod fertiggestellt und geweiht. Obwohl heute nur noch die Ruine des Klosters steht, kann man seine gewaltigen Ausmaße gut erahnen. Im Laufe der Zeit entwickelte Jutta einen immer stärkeren Drang zur Askese und Selbstkasteiung. Sie verlängerte die Gebets- und Fastenzeiten für alle und fing zunehmend an, sich selbst zu schlagen, sodass sie mit nur 44 Jahren an Unterernährung und Krankheit starb. Hildegard von Bingen wurde Juttas Nachfolgerin. Nachdem sie die Totenwaschung übernommen, den Büßergürtel und die vielen Narben an Juttas Leichnam gesehen hatte, verkürzte sie die Gebets- und Fastenzeiten und verurteilte Selbstkasteiungen. Jutta von Sponheim soll unter der Marienkapelle auf dem Disibodenberg beerdigt worden sein.

Übrigens: Zu Juttas Zeiten lag die Stadt mit den meisten Einwohnern in China. Heute jedoch hat Tokio mit 38 Millionen die meisten Einwohner der Welt und damit auch mehr Einwohner als ganz Kanada.

Mit Wind unter den Flügeln

Подняться наверх