Читать книгу Purpurnacht - Tanya Carpenter - Страница 5
Prolog
ОглавлениеFrankreich, November 1672
Angelique liebte die Stille dieses Ortes. Es war so friedlich. Hier glitten alle Sorgen, Ängste und jeder Kummer von ihr ab. Das war schon immer so gewesen. Seit sie ein kleines Mädchen war und ihre Mutter sie zum ersten Mal mit hierhergenommen hatte.
Damals natürlich am Tage. Niemand kam des Nachts hierher, nicht einmal ihre Maman. Aber Angelique tat es – und sie liebte es. Das sanfte Licht des Mondes legte einen Schleier auf alles, was sie bedrückte. Ließ sie es für kurze Zeit vergessen. Niemand sagte ihr hier, was sie durfte und was nicht oder schalt sie eine Träumerin, weil sie sich mal wieder in ihren Gedanken verlor. Hier konnte sie ganz sie selbst sein.
Einsamkeit war nichts, was sie schreckte. Ebenso wenig die Dunkelheit oder die Nähe wilder Tiere. Sie lauschte ihrem Gesang – dem Ruf der Eule, dem Heulen der Wölfe, dem leisen Rascheln der vielen Nager im Unterholz – und fühlte sich geborgen. Es war das Lied der Freiheit, und manchmal wünschte sie sich, ebenso frei zu sein. Ohne Verpflichtungen. Ohne Erwartungen, die sie zu erfüllen hatte. Ohne Regeln, die sie einengten. Sich einfach treiben lassen, den eigenen Gefühlen nachgeben und nur für den Moment leben. Ein Lächeln stahl sich auf ihre Lippen. Irgendwann vielleicht. Einmal würde sie tatsächlich diese Freiheit erkunden, wenn das Glück ihr hold war. Allein oder mit jemandem an ihrer Seite, der ihre Sehnsucht verstand und nicht bloß belächelte.
Nein, Angelique konnte sich wahrlich nicht beschweren. Ihr Leben war angenehm und von vielerlei Vorzügen geprägt. Ihre Eltern gehörten zu der besser betuchten Mittelschicht, pflegten Kontakte zu Adligen und hohen Würdenträgern. Ihr Vater kannte als Kaufmann sogar viele reiche Leute in Paris, und ihre Mutter war bei den meisten im Dorf und der Umgebung für ihre Hilfsbereitschaft und ihre Kräuterkunde beliebt und geschätzt. Doch gerade letztere hatte auch ihre Schattenseiten, wie ihr erst heute Abend wieder bewusst geworden war.
Angelique fiel schon länger der Argwohn auf, mit dem mancher ihnen begegnete. Vor allem, wenn ihr Vater nicht zugegen war. Hier, wo sie lebten, hatte es noch keine Hexenverbrennung gegeben, aber andernorts waren die gar nicht so selten. Es schien, als wäre gerade die Zunft ihrer Mutter besonders im Fokus der Verfolgung. So hatte der fahrende Händler zumindest berichtet, der bei ihnen übernachtete, um morgen bei ihrem Vater seine Warenbestände zu füllen. Jemand wie er kam viel herum, hörte und sah allerlei. So hatte er davon erzählt, wie eine Heilerin und Hebamme kürzlich in einem kleinen Ort nahe der Küste der Hexerei bezichtigt und zum Tod auf dem Scheiterhaufen verurteilt worden war. Und sie sei nicht die Einzige. Derlei würde er immer wieder erleben. Seine Erzählungen waren grausam und scheußlich gewesen. Von Folter war die Rede, von erpressten Geständnissen bar jeder Wahrheit. Und warum? Aus Neid, Hass, Missgunst oder Rache. Kaum eine von den Frauen, die gestorben waren, hatte den Tod verdient und einen solch grausamen schon gar nicht. Unschuld war jedoch kein Garant mehr dafür, unbehelligt zu bleiben. Die Zeiten seien längst vorbei, und auch wenn ihr Vater sich bemüht hatte, den Schrecken zu beschwichtigen, so blieb doch eine ungute Ahnung zurück.
Gerüchte dieser Art vernahmen sie immer wieder, Augenzeugenberichte wie dieser hier waren aber anders. Machten es realer. Greifbarer.
Die Furcht hatte sich tief in ihre Gedanken gegraben, als Angelique zu Bett gegangen war. Immer wieder waren Bilder vor ihrem inneren Auge aufgetaucht. Von schreienden Frauen. Blutend, gemartert, brennend im Feuer. Sie hatte es einfach nicht ausgehalten, darum war sie davongeschlichen und hierhergekommen. Die Vorstellung, dass auch ihre Mutter oder sie selbst einmal so enden könnten, war unerträglich. Mochte der alte Glaube auch unterschwellig noch Respekt finden und ihre Dorfgemeinschaft die Jahresfeste feiern, dennoch waren sie alle Christen, und die Angst vor Magie und Hexerei, vor allem aber davor, selbiger beschuldigt zu werden, war immens groß. Im Zweifel war sich jeder selbst der Nächste. Und würde man nicht, um die eigene Haut zu retten, lieber den Nachbarn beschuldigen? Angelique hatte darauf keine zufriedenstellende Antwort finden können, und auch die Tatsache, dass sich der Comte de Frené, dem sie unterstanden, offen gegen den Hexenwahn aussprach, beruhigte sie nur wenig.
Erst jetzt, hier, wo die Stille und der Friede dieses Ortes sie wieder erdeten und sie innerlich zur Ruhe kam, ließ das Grauen allmählich nach und der klare Verstand siegte.
Hier würde so etwas niemals geschehen. Der Comte war ein kluger und gerechter Mann, der nichts von bäuerlichem Aberglauben hielt. Noch weniger von unnötiger Gewalt und Grausamkeit. Er handelte stets besonnen und gütig, weshalb sie ihn schon immer sehr gemocht hatte. Solange er hier das Sagen hatte, musste niemand etwas befürchten, der kein Unrecht beging.
Sie atmete tief ein und aus, als könnte sie all die finsteren Gedanken damit loslassen und in die Nacht hinausschicken. Langsam ging es ihr besser, und sie war froh, trotz der kühlen Witterung hierhergekommen zu sein. Allmählich hielt der Winter Einzug. Vor ein paar Tagen war der erste Schnee gefallen, auch wenn er sich noch nicht hielt. Doch das konnte in einer Woche schon anders aussehen.
Plötzlich hörte Angelique Geräusche von draußen. Instinktiv zog sie sich weiter in ihr geheimes Versteck zurück. Das waren keine Waldbewohner. Es klang eher wie ein Murmeln.
Je näher es kam, desto klarer vernahm sie, dass es sich um Stimmen handelte. Männliche Stimmen und mindestens drei verschiedene. Sie klangen seltsam gedämpft und verzerrt. Darunter mischte sich noch ein anderer Laut, den sie zunächst nicht zuordnen konnte, der ihr aber eine Gänsehaut über den Rücken trieb. War das ein Wimmern? Ein Winseln?
Etwas zischte und Sekunden später fiel rötlich gelbes Flackern durch den niedrigen Eingang herein. Sie hielt den Atem an, presste sich an den kühlen Fels in ihrem Rücken. Unwahrscheinlich, dass, wer auch immer dort draußen war, sie entdeckte. Nicht einmal der Zugang war von dort zu erkennen, wenn man nicht genau wusste, wo er sich befand. Dennoch fühlte sie sich schlagartig wie ein in die Falle getriebenes Tier. Wer war dort im Wald, und was ging da vor sich?
Ihr Herz schlug so heftig in ihrer Brust, dass sein Trommeln alle anderen Geräusche übertönte. Sie war fast sicher, diese Männer müssten es hören, aber niemand näherte sich ihrer kleinen Zuflucht. Erneut erklang ein Wimmern. Unmenschlich und voller Angst. Die Stimmen murmelten etwas in einer Sprache, die sie nicht kannte. Der leise Chor glich einem Singsang, hob und senkte sich wellenartig, fast wie ein Gebet. Es machte etwas mit ihr, ließ sie schwindlig werden, und kalter Schweiß rann über ihren Körper. Das konnte doch nur ein Traum sein. Die Geschichten des fahrenden Händlers verfolgten sie in ihren Schlaf und gaukelten ihr etwas vor. Sie wollte aufwachen, gleichzeitig wollte sie davonlaufen, doch sie rührte sich nicht. Blieb wie erstarrt, wo sie war, und betete, dass das hier bald vorüber sein würde oder am besten gar nicht wirklich geschah.
Jetzt zischte es, die zuckenden Flammen des Feuers loderten hoch, und das angstvolle Wimmern schwoll zu nackter Panik an. Sie konnte die Todesangst des fremden Wesens spüren, fast auch dessen Schmerz. Dann war es vorbei. Das Leid erstarb, ebenso wie der Gesang. Das Feuer erlosch. Einige Augenblicke war es praktisch still, ehe ein dumpfer Laut zu ihr vordrang, als wäre etwas gegen das Gestein geprallt. Dann noch mal Rascheln, das schnell leiser wurde – und schließlich wieder völlige Stille.
Sie lauschte, wagte kaum zu atmen. Ihr ganzer Körper pulsierte, während ihr Kopf sich anfühlte wie im Nebel. Jegliches Zeitgefühl ging verloren. Sie konnte nicht mehr sagen, wie lange sie bewegungslos dort ausgeharrt hatte, ehe ein beißender Gestank von Verbranntem sie unvermittelt würgen ließ und aus ihrem Versteck trieb. Für einen Moment blieb sie benommen auf der Lichtung vor den Höhlen stehen und blickte sich um. In der Dunkelheit war kaum etwas zu erkennen. Der wolkenverhangene Himmel gab kein Licht preis. Das Einzige, was unverkennbar in der Luft hing, war der Geruch von Petroleum und verbranntem Fleisch. Mit einem Mal waren die Geschichten des Händlers realer als je zuvor, und in blinder Panik rannte sie los. Immer weiter durch den Wald. So schnell sie nur konnte nach Hause.