Читать книгу Purpurnacht - Tanya Carpenter - Страница 7
Kapitel 2
ОглавлениеPierre hatte Glück und eben doch eine gute Gesundheit, denn die gefürchtete Erkältung blieb aus. Außer Jean – und natürlich seiner Zofe Amelie – hatte auch niemand seinen ungewöhnlichen Aufzug bemerkt. Die Begegnung mit Angelique am Fluss lag nun bereits zwei Wochen zurück, und er konnte es kaum erwarten, sie in einer Woche an Jul wiederzusehen. Das Bild, das er ihr schenken wollte, war längst fertig, und er hatte noch einen Rahmen dafür gefertigt. Hoffentlich würde es ihr gefallen.
Heute war er mit Jean und seinem Vater auf dem Weg zu Julien, dem Holzfäller, damit dieser eine der großen Tannen für sie schlug. Wie immer an Jul würde die Eingangshalle ihres Hauses von einem geschmückten Baum dominiert werden, der bis ins neue Jahr dort stehen blieb.
Es wurde nicht überall gerne gesehen, dass der Comte de Frené sowohl an den alten Traditionen und Riten festhielt, die über Jahrhunderte in der Bretagne am Leben erhalten wurden, als auch sich dem Christentum verschrieben hatte. Der Schatten der Hexenverbrennungen lag immer noch über Europa, wenngleich hier bei ihnen kaum Prozesse geführt worden waren. Eben weil Richard de Frené sich stets dagegen verwehrt hatte und nicht an derlei Unsinn, wie er es nannte, glaubte. Dass dieser öffentliche Standpunkt nicht gänzlich ungefährlich war, wussten sie, doch das Ansehen ihrer Familie am Hof von Versailles gab ihnen eine gewisse Sicherheit.
Den Holzfäller wusste Pierre nie so recht einzuschätzen. Gerade im Hinblick auf seine religiöse Gesinnung, so er denn überhaupt eine besaß. Er hatte ihn seit dem Tod seiner Frau nicht ein einziges Mal bei der Messe gesehen, allerdings ebenso wenig bei den Jahresradfesten. Jean verachtete den derben Mann, der zurückgezogen in seiner Hütte lebte und allem Anschein nach noch immer seinem Sohn und seiner Frau nachtrauerte, obwohl beide schon seit Jahren tot waren. Das war allerdings kein Maßstab, denn sein Bruder hatte sich von Kindesbeinen an den meisten Menschen überlegen gefühlt, und das war in der letzten Zeit noch schlimmer geworden. Ein Wunder, dass es ihrem Vater bisher nicht aufgefallen war, oder aber er ignorierte es, was Pierre nicht erstaunt hätte. Immerhin war Jean als der Ältere von ihnen auch künftiger Erbe des Titels. Ihr Vater hielt große Stücke auf ihn, obwohl er sich in der Vergangenheit immer wieder rebellisch gezeigt hatte und mehrfach über die Stränge geschlagen hatte.
Pierre und Jean blieben bei den Pferden, während Richard mit Julien tiefer in das Waldstück ging, um dort einen geeigneten Baum auszusuchen. Der Holzfäller würde diesen dann in zwei Tagen mithilfe seiner Pferde zum Gut der Frenés bringen.
„Na, hast du deine Angebetete noch mal wiedergesehen?“ Jean zog Pierre auf, kaum dass die beiden älteren Männer außer Hörweite waren.
Pierre war seinem Bruder dankbar, dass der zumindest in Gegenwart ihrer Eltern schwieg, doch es ärgerte ihn, dass er es einfach nicht gut sein lassen wollte. „Angelique ist nicht meine Angebetete. Und du weißt, dass ich ihr seit dem Tag am Fluss nicht mehr begegnet bin“, antwortete er bissiger als gewollt.
„Na ja, immerhin wusstest du sofort, von wem ich rede, dabei habe ich gar keinen Namen genannt.“ Jeans Lippen verzogen sich zu einem zynischen Grinsen, was Pierre nur ein ärgerliches Schnauben entlockte.
„Ach, Bruderherz, mir gegenüber kannst du doch ruhig ehrlich sein. Wer weiß, vielleicht verrate ich dir dann auch was.“
Er tat geheimnisvoll und Pierre konnte nicht verhindern, dass er sich Jean interessiert zuwandte.
In dessen beinah schwarzen Augen funkelte es herausfordernd. Verschwörerisch beugte er sich herüber. „Ich mag mich zwar irren, aber es scheint, als hättest du Eindruck bei der Kleinen hinterlassen. Jedenfalls habe ich sie in den letzten beiden Wochen mehrfach am Fluss entlangreiten sehen. Allein. Nicht gerade schicklich für eine junge Dame. Aber wenn das Herz spricht …“
Es war nicht zu überhören, dass Jean sich darüber lustig machte. Dennoch ließen seine Worte Hoffnung in Pierre aufkeimen. Es konnte natürlich sein, dass Angelique Besorgungen erledigt hatte, aber er wollte glauben, dass sie zumindest auch Ausschau nach ihm gehalten hatte. Leider war er auf dem Gut so beschäftigt gewesen, dass er kaum zum Ausreiten gekommen war. Vielleicht sollte er das in den nächsten Tagen nachholen.
Jeans Miene wurde fast ein bisschen teuflisch, als er ihm auf die Schulter klopfte. „Es sind ja nur noch ein paar Tage bis zum Wiedersehen. Du solltest dir ein Herz fassen und dafür sorgen, dass sie weiß, wem sie künftig gehören wird. Sonst kommt dir noch jemand zuvor.“
Pierre runzelte die Stirn. „Sie ist ein Mensch. Sie gehört niemandem außer sich selbst.“
Sein Bruder stieß ein abfälliges Schnauben aus. „Sie ist eine Frau. Besser, wenn sie ihren Platz kennt, sonst kommt sie auch noch auf dumme Gedanken. Überleg doch nur, wenn sie plötzlich für jemand anderen die Beine …“
„Hör auf, so über sie zu sprechen“, brach es aus Pierre heraus. Er ballte die Hände zu Fäusten, auch wenn er nicht wirklich die Absicht hatte, seinen Bruder zu schlagen. „Angelique ist keine von deinen Dirnen.“ In seinem Zorn erhob er sogar seine Rechte, was seinen Bruder jedoch weniger beeindruckte denn belustigte.
„Ach, Bruderherz, du musst noch viel lernen“, meinte er. „Nichts ist wankelmütiger als das Herz einer Frau. Man muss ihm nur den rechten Anreiz bieten. Oder es geschickt anstellen. Dann frisst sie einem aus der Hand.“
Eine Erwiderung wurde Pierre verwehrt, denn in diesem Moment kamen ihr Vater und der Holzfäller wieder. Richard blickte irritiert zwischen seinen Söhnen hin und her, als er Pierres erhobener Hand gewahr wurde.
„Was ist denn hier los?“
„Nichts, Vater!“, beschwichtigte Jean sofort. „Nur ein bisschen Geplänkel zwischen Brüdern.“
Er schenkte Pierre einen triumphierenden Blick und schwang sich dann ohne ein weiteres Wort auf seinen Schimmel. Richard zögerte noch einen Moment mit gerunzelter Stirn, ehe er Pierre sanft seine Hand auf die Schulter legte. „Lass dich von Jean nicht ärgern. Du weißt, du kannst jederzeit zu mir kommen, wenn du etwas auf dem Herzen hast.“
Pierre presste seine Lippen aufeinander und nickte stumm. Die Worte seines Vaters waren sicher gut gemeint, doch wenn es darauf ankam … Pierre seufzte innerlich. Zu oft schon hatte er die Erfahrung machen müssen, dass er in dieser Familie einfach hinter seinem Bruder zurückstecken musste, da konnten seine Eltern sagen, was sie wollten. Nicht, dass er sich darüber ernstlich beschweren würde, er hatte alles, was er brauchte, und sowohl seine Mutter als auch sein Vater blickten wohlwollend auf seine eher künstlerisch gearteten Talente. Dennoch wusste er, dass er immer als der Schwächere angesehen wurde. Der Träumer, der Idealist. So liebevoll dies auch gemeint sein mochte, es schmerzte doch, sich stets im Schatten des eigenen Bruders zu wissen. Zumal, wenn der einen dies ständig spüren ließ.
„Pierre?“
Erst jetzt bemerkte er, dass er auf die Geste seines Vaters nicht reagiert hatte. Er zwang sich zu einem Lächeln. „Es ist alles gut Vater. Wie Jean schon sagte. Bloß ein bedeutungsloses Geplänkel unter Brüdern.“
Der Hauch eines Zweifels stand noch für Sekunden in Richards Augen, dann nickte er und klopfte Pierre noch einmal auf die Schulter, ehe sie beide ebenfalls aufsaßen und Jean nach Hause folgten.
***
Die Wochen bis zum Julfest hatten sich ewig hingezogen. Angelique war bemüht gewesen, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr sie dieses Mal darauf hin fieberte. Sie hatte Pierre seit ihrer Begegnung am Fluss nicht wiedergesehen, obwohl sie einige Male draußen am Wald gewesen war. Aber entweder ritt er momentan nicht mehr aus oder einfach zu anderen Zeiten. Sie hoffte, dass er sich nicht tatsächlich eine Lungenentzündung geholt hatte, weil er nur mit dem Umhang und der Fellweste bekleidet nach Hause geritten war. Aber dann hätte der Comte sicher bereits nach ihrer Mutter geschickt.
Monique ging es längst wieder gut, sie war vollends genesen und machte wie gewohnt ihre Krankenbesuche, zu denen Angelique sie einige Male begleitet hatte. Jacques Renier war nicht allzu begeistert davon, wie schnell seine Frau wieder arbeitete, hatte es aber hingenommen.
Angeliques Mutter war die Einzige, der aufgefallen war, wie still und gleichzeitig ruhelos sie war. Mehrmals hatte sie eine Bemerkung fallengelassen, war aber zum Glück nicht weiter in sie gedrungen, wenn Angelique mit vagen Ausflüchten antwortete. Was genau sie dachte, wusste Angelique nicht und würde auch nicht danach fragen. Sie betete nur, dass man ihr die verwirrenden Gefühle nicht allzu deutlich vom Gesicht ablesen konnte, während sie sich heute an Jul nach Sonnenuntergang auf den Weg zum Anwesen der Frenés machten. Ihr Vater hatte den Pferdeschlitten anspannen lassen, den er selbst lenkte, während Angelique, ihre Mutter und Margarete in wärmende Decken und Felle gehüllt hinter ihm saßen.
Angeliques Herz klopfte jetzt schon heftig in ihrer Brust, wie würde das erst sein, wenn sie Pierre gegenüberstand? Sein Geschenk hatte sie in rotes Seidenpapier gewickelt, das ihr Vater auch im Laden für solche Zwecke verwendete. Hoffentlich gefiel Pierre, was sie aus dem Kleidungsstück gemacht hatte. Sie wusste nicht, wie sie damit umgehen sollte, wenn er sich über die Änderungen an seinem Hemd verärgert oder auch nur unzufrieden zeigte.
In den letzten Tagen hatte es noch mal ordentlich geschneit, und die Temperaturen waren weiter gefallen. Heute zeigte sich ein sternenklarer Himmel, und die kalte Luft ließ ihren Atem in weißen Wölkchen aufsteigen.
Nervös knetete Angelique die Hände in ihrem Schoß. Ihre Wangen glühten, was nicht vom winterlichen Wetter rührte, sondern allein ihrer Nervosität geschuldet war.
Jemand drückte sanft ihre Finger, und als sie aufblickte, lag ein liebevolles, fast verstehendes Lächeln auf den Lippen ihrer Mutter. Für eine Sekunde war es ihr unangenehm, doch die Wärme in den vertrauten Augen vertrieb das Gefühl augenblicklich. Stattdessen wurde ihr das Herz eng vor Zuneigung. Niemand kannte sie besser, und auch wenn sie nichts gesagt hatte, schien Monique doch genau zu wissen, was in ihr vorging.
Schließlich tauchte das Herrenhaus vor ihnen auf. In den Fenstern lag ein warmer Lichtschein, der die Besucher willkommen hieß. Es standen bereits zwei weitere Schlitten im Hof, und einige Stallburschen kümmerten sich um die Pferde. Die meisten Gäste waren hergeritten, aber die Beauchamps und die Devilles waren ebenfalls mit der ganzen Familie gekommen und hatten daher die Schlitten bevorzugt.
Als Angelique an der Hand ihres Vaters ausstieg, fühlten sich ihre Knie weich an. Unsicher blickte sie zur Eingangstür, die von zwei Dienern in der Livré der Frenés flankiert wurde. Ihr taten die beiden Männer leid, denn bei dieser Kälte den ganzen Abend hier draußen zu stehen war sicherlich nicht angenehm.
Jacques sprach noch einen Moment mit dem Stallmeister, während Angelique mit ihrer Mutter und Margarethe wartete. Nachdem die Pferde in den Stall gebracht worden waren, kam ihr Vater zurück, und gemeinsam gingen sie die fünf Stufen nach oben, wo man die beiden Türflügel für sie öffnete.
Von drinnen schlug ihnen Wärme entgegen, begleitet von leisen Stimmen, die aus dem Salon zu kommen schienen. In der Eingangshalle, die gemäß dem alten Brauch mit frischem Stroh ausgelegt war, stand der mächtige Julbaum und erstrahlte in hellem Glanz. Auch in diesem Jahr beeindruckte es Angelique, mit wie viel Sorgfalt er geschmückt war und wie die Frenés es schafften, die alten Riten und den christlichen Glauben miteinander zu vereinen.
Keltische Symbole hinten in den Zweigen, während unter dem Baum die Krippe mit dem neugeborenen Heiland, seinen Eltern, den drei Königen und dem Vieh aufgebaut war. In ihrem Herzen breitete sich Wärme aus, und für einen Moment legte sich friedvolle Ruhe auf ihre angespannten Nerven.
Der alte Kammerdiener Oliviér begrüßte sie, hieß zwei Dienstmädchen, ihnen Mäntel und Umhänge abzunehmen und geleitete sie dann in den großzügigen Salon, in dem alljährlich die Julfeier zelebriert wurde. Staunend blieb Angelique kurz in der Tür stehen und ließ ihren Blick eingeschüchtert über die Gäste wandern. Dabei fühlte sie sich mit jeder Sekunde unbehaglicher, und der gerade noch empfundene Frieden verblasste zusehends. Zum ersten Mal in all den Jahren kam sie sich hier deplatziert vor, so als gehöre sie nicht hierher in diesen erlauchten Kreis vornehmer Herrschaften.
Natürlich waren sie alles andere als arm. Ihres Vaters Geschäfte liefen gut. Darum waren die Kleider, die sie, Margarete und ihre Mutter heute Abend trugen, aus feinem Stoff und mit edlen Stickereien besetzt. Dennoch kam sich Angelique wie eine graue Maus vor, wenn sie die anderen pompösen Gewänder betrachtete, in die sich die anwesenden Damen gekleidet hatten. Überall erblickte sie Seide, Satin, Brokat und Pelz. Die Frisuren waren kunstvoll, einige trugen sogar Perücken. Sie hingegen hatte sich lediglich zwei schmale Zöpfe geflochten und am Hinterkopf zusammengesteckt, sodass ihr die langen, offen getragenen Locken nicht in die Stirn fielen. Auch war ihr Kleid lediglich aus blauem Musselin gefertigt und mit ein paar Stickereien am Kragen und den Ärmeln verziert. Kein Vergleich zur Garderobe der anderen Anwesenden.
Sie stellte sich neben ihre Mutter, versteckte sich beinah hinter ihr, weil sie so nicht länger das Gefühl hatte, neben dem überragenden Glanz der anderen völlig zu verblassen.
„Jacques, Monique! Wie schön, dass ihr gekommen seid.“ Richard de Frené eilte mit ausgebreiteten Armen auf sie zu, hinter ihm folgten in einigem Abstand seine beiden Söhne Jean und Pierre. Beide mit höflichen Mienen, wobei Angelique erneut auffiel, wie abfällig Jean Margarete betrachtete, die in seinen Augen einfach nicht den angemessenen Stand besaß, um zu derlei Festlichkeiten eingeladen zu werden. Aber Richard respektierte sie als einen Teil der Familie Renier, und so blieb Jean keine Wahl, als sich höflich zu verhalten. Dennoch sorgte seine unübersehbare Arroganz dafür, dass Angelique sich noch unwohler fühlte und am liebsten geflüchtet wäre. Aber das ging natürlich nicht.
Nachdem Richard Angeliques Eltern begrüßt hatte, wandte er sich zunächst ihr zu und begrüßte sie mit einem Kuss auf jede Wange und einem Kompliment, wie erwachsen sie doch geworden sei. Danach hieß er auch Margarete willkommen, wobei er einen Handkuss andeutete, was deren Wangen leicht erröten ließ. Pierre hielt sich noch immer im Hintergrund, während nun sein Bruder, als der Erstgeborene, die Neuankömmlinge begrüßte. Nur Pierres Blick ruhte unablässig auf Angelique – und auf dem seidenen Paket, das sie unbeirrt an sich presste. Jetzt, unter dem neugierigen Flackern in seinen Augen, kam sie sich mit einem Mal töricht vor, dass sie ihm sein eigenes Hemd mit einer Stickerei versehen zum Geschenk machen wollte. Wie armselig das doch sicher war verglichen mit all den anderen Geschenken, die er und seine Familie heute erhalten würden. Was sollten seine Eltern bloß denken? Oder sein Bruder? Oder all die anderen Gäste. Ihre Wangen glühten, und erneut überkam sie der Wunsch zur Flucht. Vielleicht wäre sie besser zu Hause geblieben. Der Abend, auf den sie sich gefreut und dem sie entgegengefiebert hatte, löste gerade nur mehr Scham und Minderwertigkeitsgefühle in ihr aus.
Fahrig erwiderte sie die obligatorischen Wangenküsse von Jean, registrierte nur vage, dass er sie ungewohnt fest an sich zog und einen Hauch zu lange hielt. Vielleicht kam es ihr in der Nervosität aber auch nur so vor.
Als Pierre vor ihr stand, schlug ihr das Herz bis zum Hals. Was wäre wohl schlimmer? Seine Enttäuschung, weil sie so ein einfallsloses Geschenk für ihn brachte? Oder ihre eigene, weil er ihre Mühe und ihre Arbeit daran nicht zu schätzen wusste? Ihre Hand, mit der sie sein Hemd noch immer hielt, zitterte. Sollte sie es ihm jetzt sofort geben? Oder lieber warten, bis … ja, bis wann? Vor Verlegenheit biss sie sich auf die Unterlippe.
„Weißt du, wie hinreißend das aussieht?“, fragte er unvermittelt und grinste sie an, woraufhin sie nur noch unsicherer wurde.
Er deutete auf ihre kostbare Fracht. „Ist das ein Geschenk?“
Sie wusste, sie hätte ihm antworten sollen. Ihm sagen, dass es für ihn war, doch sie brachte keinen Ton heraus, sondern nickte nur.
„Sehr schön. Dann kannst du es dort hinübertragen.“ Er deutete auf einen langen Tisch an der Wand und grinste frech. „Alle Geschenke werden da abgelegt und bevor wir später das Licht nach Hause tragen, darf jeder sich seines holen und auspacken.“
Vor Nervosität konnte sie ihm nicht in die Augen sehen, sondern nickte erneut und wandte sich dann hastig um, damit sie das Hemd bei den anderen Geschenken platzieren konnte. Sie kam nicht weit, da wurde sie von der Schärpe ihres Kleides gebremst. Ein Blick über ihre Schulter zeigte ihr nicht nur, dass Pierre deren Ende in seiner Hand hielt, sondern auch, wie nah sein Gesicht dem ihren war.
„Dort liegt auch ein Geschenk von mir für dich“, flüstere er, und ehe sie noch eine Antwort über ihre Lippen brachte, hatte er sie losgelassen und folgte seinem Vater und seinem Bruder zu den nächsten Gästen.
Verdattert blickte sie ihm nach, dann riss sie sich zusammen und legte ihre Gabe auf den Tisch neben die Geschenke, die ihre Eltern für die Gastgeber mitgebracht hatten. Auch dort wirkte ihres geradezu schlicht. Sie hatte weder eine Schleife darumgebunden noch es anderweitig verziert. Das war jetzt nicht mehr zu ändern.
Sie warf einen Blick auf die Geschenke, aber natürlich gab es keine Möglichkeit, das für sie bestimmte zu identifizieren. Jede Gabe war in mehrere Lagen Geschenkpapier eingeschlagen. Und auf jeder davon, so wollte es der Brauch, stand ein anderer Name, um die Zuordnung unmöglich zu machen. Sie hätte schon durch das Papier hindurchschauen müssen, um den jeweils entscheidenden Namen auf der innersten Verhüllung lesen zu können. Da es müßig war, zu spekulieren, kehrte sie bald wieder zu ihrer Mutter zurück, die in ein Gespräch mit Madame Beauchamp vertieft war, von dem Angelique kaum etwas mitbekam.
Auf der anderen Seite des Raumes war der Tisch für die unsichtbaren Gäste aufgebaut. Die bonnes dames, deren Segen man sich heute Nacht erhoffte, damit das Feuer bis zum Morgen brannte und das Licht der Welt zurückkehren konnte. Genau wie auf dem Tisch für die Gäste fanden sich dort drei Julbrote und kunstvolle Trinkhörner in silbernen Halterungen. Honigwein stand in Krügen bereit. Die menschlichen Gäste bekamen außerdem noch gebratenes Fleisch, eingelegtes Gemüse, Käse und Süßigkeiten. Die Feierlichkeiten würden andauern, bis sich der erste Streifen Morgenrot am Horizont zeigte.
Mit einem Seufzer begann Angelique, durch den Raum zu wandern.
Verstohlen sah sie immer wieder zu Pierre, der mit allen Gästen redete und scherzte, nur nicht mit ihr. Ja, er schaute nicht einmal zu ihr herüber.
Diesen Abend hatte sie sich in den letzten Wochen immer ganz anders vorgestellt. Hatte sie doch zu viel Hoffnung gehegt? Sein Verhalten falsch interpretiert? Er hatte von einem Geschenk für sie gesprochen, doch was sagte das schon aus? Es konnte sich um eine rein freundschaftliche Geste handeln.
Sie war wahrlich eine Närrin. Eine Träumerin, wie er schon richtig erkannt hatte. Es tat weh, aber ihm konnte sie keine Schuld geben. Es war ihre Schuld, wenn sie ihn missverstand.
Eine Weile verharrte sie vor dem riesigen Kamin, in dem heute nicht das übliche geschichtete Holz brannte, sondern der geweihte Julklotz. Ein spöttisches Lächeln spielte um ihre Lippen. Der Dorfpriester hatte den Segen dafür gesprochen. Kirchentreu wie er auch war, den Jahresfesten blieb er nie fern. In Angeliques Augen schloss das eine das andere nicht aus, aber sie war sich wohl bewusst, dass die Kirche selbst das anders sah und der Priester es daher eigentlich ebenfalls strenger halten sollte. Doch er war stets mittendrin, wenn die Dorfgemeinschaft den alten Riten huldigte.
Als zwei Stunden später das Essen eröffnet wurde, nahm Angelique wie alle anderen ihren Platz an der Tafel ein, obwohl sie keinen Appetit verspürte. Sie war enttäuscht, weil Pierre sie seit der Begrüßung ignorierte, und kam sich schrecklich dumm vor.
„Du machst ein Gesicht, dass der Met sauer wird. Dabei haben sich meine Bienen extra viel Mühe mit dem Honig gegeben.“
Augenblicklich schlug ihr Herz ein paar Takte schneller. Pierre zog sich wie selbstverständlich den Stuhl neben ihrem zurecht und nahm darauf Platz. Offenbar würde er ihr Tischnachbar sein.
„Was ist?“, fuhr er fort, als sie nicht antwortete. „Schenkst du mir ein Lächeln, oder muss ich es bereuen, dass ich Vater darum bat, mit dir gemeinsam die Fackel tragen zu dürfen?“
Überrascht hob sie den Kopf und blickte ihm direkt in die strahlend blauen Augen. „Du willst mit mir die Fackel tragen.“
Er zwinkerte ihr zur Antwort zu. „Es wäre mir eine Ehre, Mademoiselle Renier.“
„Aber … aber du hast …“ Sie klappte den Mund wieder zu, ehe sie etwas Dummes und Peinliches sagte. Ihm vorzuwerfen, dass er sich den ganzen Abend noch nicht um sie gekümmert hatte, stand ihr nicht zu. Und wie sähe das denn aus? Als würde sie sich praktisch anbiedern.
Zum Glück wurden in diesem Moment Fleisch und Brot angeschnitten und an die Gäste verteilt, was Richard de Frené dazu veranlasste, eine kurze Rede zu halten. So kam Angelique fürs Erste um eine Antwort herum.
„Liebe Freunde, ich bin auch in diesem Jahr wieder dankbar und glücklich, dass ihr alle meiner Einladung gefolgt seid und mit mir gemeinsam beweist, dass sich alte Traditionen und der christliche Glaube nicht widersprechen müssen, sondern miteinander Hand in Hand gehen, weil sie uns dasselbe lehren: Liebe im Herzen. Mitgefühl gegenüber unseren Mitmenschen. Respekt und Achtung vor Mutter Erde und ihrem Rad des Lebens, das sich Jahr für Jahr in immer gleicher Weise dreht. Lasst uns heute Nacht der Heiligen gedenken und das Licht der Hoffnung am Leben erhalten, auf dass es uns auch in den kommenden zwölf Monaten leuchten werde.“
Er hob sein Trinkhorn, und alle anderen taten es ihm gleich. Danach widmeten sie sich den Köstlichkeiten.
Nachdem Angelique einen vorsichtigen Schluck von ihrem Met genommen hatte, musste sie Pierre zustimmen. Er war außerordentlich gut, von einer würzigen Süße und nicht zu schwer. „Welche Blüten hast du deinen Bienen denn kredenzt, dass sie Honig für solch einen Met sammeln konnten?“, fragte sie und hoffte, dass ihm dies nicht zu plump für eine Unterhaltung erschien.
„Ich habe die Stöcke auf der südlichen Lichtung im Wald aufgestellt. Dort, wo der Bach hindurchfließt und die Wildblumen blühen.“
Angelique lächelte und nahm einen weiteren Schluck. Sie kannte die Stelle sehr gut. Als Kinder waren sie oft dort gewesen. Viel Honig dürften seine Bienen dort nicht gefunden haben, aber sie wollte ihm nicht absprechen, dass gerade dieser den Met in ihrem Becher verfeinert hatte.
„Ich habe gehört, du bist in letzter Zeit öfter am Fluss entlanggeritten“, erwähnte er fast beiläufig.
Sie warf ihm einen Seitenblick zu und fühlte, wie erneut Röte in ihre Wangen schoss.
„Ja, das mag sein. Ich hatte einige Dinge zu erledigen, da führte mich der Weg öfter dort vorbei.“
Der Versuch, möglichst gleichmütig zu klingen, misslang, das merkte sie selbst. Falls er sie durchschaute, ließ er es sich jedoch nicht anmerken. „Ja, als Tochter eines Kaufmanns bist du gewiss sehr beschäftigt. Und nicht zu vergessen, dass du deiner Mutter bereits zur Hand gehst. Bald haben wir eine zweite Heilerin im Dorf, ist es nicht so?“
Sie musste lachen, obwohl sie das Gefühl hatte, dass er sie freundschaftlich auf den Arm nahm.
„Ich denke nicht, dass ich je Mamans Talent besitzen werde. Aber ich begleite sie, wenn es nötig ist, und kleinere Verletzungen und Leiden kann ich durchaus behandeln und mildern.“
Jetzt grinste Pierre breit. „Sag ich doch. Eine zweite Heilerin. Wofür brauchen wir da noch einen Medicus?“
Beschämt senkte Angelique den Blick, würde sie sich doch nie anmaßen, einen Gelehrten infrage zu stellen. Schön wäre es, wenn die studierten Männer mit den traditionellen Heilerinnen zusammenarbeiten würden. Aber das würde sicher nie geschehen.
„Ich fürchte, ich muss dich enttäuschen, aber es ist wahrscheinlicher, dass ich meinem Vater bei der Buchführung und im Lager helfen werde, bis ich einen Ehemann finde und meinen eigenen Haushalt führe.“
Er schob enttäuscht eine Unterlippe vor. „Das klingt nicht gerade aufregend. Bist du sicher, dass du dir so dein Leben vorstellst?“
Sie schluckte und fühlte sich immer noch etwas unbehaglich. „Es ist das, was ich erwarten darf. Schließlich bin ich nur eine Frau.“
Versonnen betrachtete er sie eine Weile. Dann griff er plötzlich nach ihrer Hand, lächelte sanft und meinte: „Man sollte sich nie mit weniger als seinen Träumen zufriedengeben, Angelique. Es wäre doch schade um all die Möglichkeiten, die sonst verloren gingen.“
Auch nachdem er sie wieder losgelassen und sich seinem Essen gewidmet hatte, spürte sie ihre Haut noch immer prickeln, wo er sie berührt hatte. Und seine Worte sandten Wärme in ihr Herz, das nun erst recht für ihn zu schlagen begann. Sie wusste, dass der Respekt, den er offenkundig einer Frau entgegenbrachte, nicht die Regel war. Auch bei ihnen zu Hause waren die Rollen klar verteilt. Nur weil ihr Vater ihrer Mutter zugestand, als Heilerin zu arbeiten, bedeutete dies noch lange nicht, dass er ihr freie Hand ließ, ihr Leben selbst zu bestimmen. Ja, Jacques Renier war moderner als viele andere Männer in seinem Alter und in diesen Zeiten, doch eine Ansicht wie jene, die Pierre gerade ausgesprochen hatte, würde auch ihm zu weit gehen.
Bis weit nach Mitternacht genoss Angelique Pierres Aufmerksamkeit und die Unterhaltung mit ihm und ihren anderen Tischnachbarn. Es fiel ihr jetzt leichter, sich zu entspannen, was sicher auch am Met lag, aber vor allem an den Blicken, die er ihr ein ums andere Mal zuwarf, und an den beiläufigen Berührungen. Die Welt war rosig und schön, auch wenn das nervöse Flattern in ihrem Magen ihr zu schaffen machte. Doch sie kam sich nicht mehr unauffällig und farblos vor. Ein paar Mal fiel ihr Margaretes strenge, argwöhnische Miene auf, worüber sie jedoch innerlich bloß schmunzelte. Sie würde sich von ihr den Spaß nicht verderben lassen, auch wenn sie am nächsten Tag sicher einiges zu hören bekam.
Endlich war es so weit, dass die Geschenke verteilt wurden. Es herrschte großes Geraschel, während alle die ersten Lagen Papier entfernten, dann den darunter verborgenen Namen nannten und das Präsent an den folgenden Empfänger weitergaben. Eine halbe Stunde zog sich dieses Spiel hin, bis der erste Gast zum eigentlichen Inhalt vorgedrungen war. Yvette Deville hielt eine kleine Brosche in der Hand. Feines Silber in Form einer Rose mit stilisierten Blütenblättern.
„Vergänglich ist nur der äußere Schein, die Seele bleibt“, las sie den dazugehörenden Vers vor. Ahs und Ohs erklangen im Raum und der Schenkende war rasch als Yvettes Verlobter Paul enttarnt.
Als Nächstes kamen Seidenschals und Duftwässer, Zigarren und Weinbrand, weitere Schmuckstücke, goldene Knöpfe, fein geschmiedete Messer und allerhand Kleinigkeiten zu Tage. Angelique hielt schließlich ein viereckiges, flaches Päckchen in Händen, dessen Papier mit getrockneten Rosenblüten verziert war, die noch immer einen leichten Duft verströmten. Behutsam löste sie die Schleife und schlug die Verpackung auseinander. Nicht nur sie, sondern auch ihre Mutter und Margarete, die direkt neben ihr standen, atmeten hörbar ein.
„Mein Gott, Angelique. Das ist … Mir fehlen die Worte.“
Da ging es ihrer Mutter genau wie Angelique selbst. Es war beinah, als blicke sie in einen Spiegel, nur dass der verzaubert sein musste, denn so makellos und schön sah sie sich nie.
Ein Schatten fiel auf das Portrait, das mit viel Liebe zum Detail gezeichnet worden war. Sie musste nicht aufsehen, um zu wissen, dass es der Urheber dieses Bildes war, und dass es sich dabei um Pierre handelte.
„Ich wusste gar nicht, dass du zeichnen kannst“, sagte sie, unfähig ihren Worten bewusst Gefühl zu verleihen. Dennoch klang ihre Stimme bewundernd und gleichzeitig scheu.
Pierre räusperte sich. Auch er war offenkundig verlegen. „Ich hoffe, es gefällt dir und du fühlst dich nicht davon beleidigt.“
Nun sah sie ihn doch direkt an. „Beleidigt?“, hauchte sie. „Eher beschämt. Ich … dass du dir so viel Mühe gemacht hast. Das muss doch Wochen gedauert haben, es zu zeichnen.“
Er lächelte und atmete erleichtert auf. „Ich freue mich, dass du es magst. Und um ehrlich zu sein, habe ich nur wenige Tage daran gesessen. Wenn mich ein Motiv gefangen nimmt, dann schweben meine Finger wie von selbst über das Papier. Ich muss es dann einfach festhalten. Nur die Feinheiten brauchen dann noch ein paar zusätzliche Stunden. Es wird dir nicht gerecht, doch es würde mich freuen, wenn du ihm dennoch einen Platz in deinem Zimmer geben würdest.“
Angelique nickte und lächelte ihn dankbar an. Kurz zögerte sie, doch ein solches Geschenk verlangte einfach nach einer angemessenen Geste. Darum trat sie mutig einen Schritt auf ihn zu, umarmte ihn und gab ihm einen Kuss auf die Wange. „Ich danke dir, Pierre. Es ist ein besonderes Geschenk, ich werde es in Ehren halten.“
„Ja“, stimmte ihre Mutter zu. „Dieses Geschenk ist wirklich etwas Besonderes. Genau wie dein Talent. Du solltest es dir unbedingt erhalten, Pierre. Solch eine Gabe wird nicht jedem geschenkt.“
Gerade als sich Angelique darüber freuen wollte, dass auch ihre Mutter den ideellen Wert des Bildes erkannte, machte eine Stimme hinter ihnen die liebevolle Stimmung zunichte.
„Nein, zum Glück gibt es auch noch diejenigen, die mit notwendigen Talenten gesegnet werden. Irgendjemand muss schließlich auch das Geld verdienen, damit ein Teil der Familie sich brotlosen Künsten zuwenden kann.“
Es war Jean, der das sagte und mit missmutiger Miene zu ihrer kleinen Gruppe hinzustieß. Abfällig betrachtete er das künstlerische Werk.
„Ich gebe zu, du hast noch ein wenig nachgebessert. Als ich es mir das letzte Mal angesehen habe, hatte ich schon befürchtet, wir müssten uns schämen, wenn du es ihr tatsächlich schenkst.“
Angelique erkannte, wie sich Pierre versteifte. Seine Wangen wurden blass, seinen Mund presste er zu einem schmalen Strich zusammen. Sie bewunderte, dass er trotz dieser Beleidigung vom eigenen Bruder schwieg. In diesem Moment war sie unendlich froh, dass alle mit ihren eigenen Geschenken beschäftigt waren, und sie nur mäßig Aufmerksamkeit auf sich zogen. Das hätte sie Pierre nicht gewünscht. „Ich finde es wunderschön“, betonte sie noch einmal.
Jeans Lächeln fiel kalt und zynisch aus. „Natürlich tust du das. Wie könntest du auch nicht? Alles andere wäre ein Affront gegen den Gastgeber, nicht wahr? Und für jemanden wie dich muss es zweifellos schmeichelhaft sein, die Aufmerksamkeit eines Frenés auf sich zu ziehen.“
„Jean! Bitte!“, presste Pierre hervor.
Ohne um Erlaubnis zu bitten, griff Jean nach dem Zettel mit dem Vers.
„Augen sind die Spiegel zur Seele, und manches Mal erblicken wir in den Augen eines anderen Menschen uns selbst“, las er mit übertriebener Intonation vor, ehe er das Stück Papier achtlos zu Boden fallen ließ und höhnisch auflachte. „Nicht gerade sehr geistreich, Brüderchen.“
Schweigend ging Angelique in die Knie und nahm den Streifen an sich. Ihr Blick ließ Pierre dabei nicht los. Sie hoffte, er verstand, was sie ihm sagen wollte und nicht aussprechen durfte.
Es ist egal, was er sagt oder denkt. Ich habe es verstanden. Und ich bin froh.
Doch scheinbar war sie nicht sehr gut darin, Gedanken mittels ihrer Mimik zu bekunden, denn Pierre drehte sich unvermittelt um und hastete in Richtung der Tür davon. Andere Gäste schoben sich zwischen sie und ihn, sodass sie ihn aus den Augen verloren hatte, als plötzlich jemand seinen Namen rief und das Päckchen mit dem roten Seidenpapier durch die Luft flog. Da sie nicht hörte, dass es auf dem Boden aufkam, wagte sie zu hoffen, dass er es gefangen hatte, doch als ihre Sicht zur Tür wieder frei wurde, war von Pierre keine Spur.
***
Wie betäubt stand Angelique im Raum. Hörte, wie Richard de Frené seinen Ältesten zurechtwies und anschließend auf sein Zimmer schickte. Jean lachte bloß und eröffnete der anwesenden Gesellschaft, dass er diesen ganzen Firlefanz ohnehin lächerlich fand und sich anderweitig amüsieren würde.
Jemand legte tröstend seinen Arm um ihre Schultern. Es war ihre Mutter. Ihr Vater unterhielt sich leise mit Richard, der fassungslos ob Jeans Verhalten war und sich immer wieder entschuldigte. Auch die anderen Gäste hatten nun, entweder selbst oder durch das Gerede der anderen, mitbekommen, was zwischen den Brüdern und Angelique passiert war. Wortfetzen drangen an ihr Ohr. Bedauern, Bestürzung und milder Spott. Die Scham schnürte ihr die Kehle zu. Mit einem Mal hielt sie es im Raum nicht mehr aus und konnte Pierres Flucht nur allzu gut verstehen. Ohne auf ihre Eltern oder Margarete, die sie noch festhalten wollte, zu achten, rannte sie hinaus. Das Portrait und den kleinen Vers fest an sich gedrückt. Sie durchquerte den Raum mit dem Julbaum und wandte sich neben der Treppe nach rechts. Dieses Haus kannte sie fast so gut wie ihr eigenes, so oft wie sie von Kindesbeinen an hier gewesen war. Sie wollte nicht über den Hof laufen, aber wenn sie sich in Richtung der Küche hielt, gab es eine kleine Seitentür, die praktisch direkt an die Ställe grenzte. Dort hoffte sie, für ein paar Minuten allein zu sein, um ihren Gefühlen freien Lauf zu lassen. Aber offenbar wurde ihr auch diese Atempause nicht gegönnt. Direkt vor der Tür am Boden saß Pierre. Als er das Gesicht hob, sah sie, dass er geweint hatte. Er versuchte nicht einmal die Tränen wegzuwischen, schämte sich ihrer offenbar nicht, was ihr Mitgefühl für ihn nur stärker machte.
„Es tut mir leid“, sagte sie leise.
In der Stille des Flures hörte sie ihn schlucken.
„Was tut dir leid? Du kannst ja nichts dafür, wie sich mein Bruder benommen hat. Aber jetzt ist er weg. Zusammen mit zwei seiner Freunde. Eigentlich wollte ich in den Stall und flüchten, aber als ich sie dort habe stehen sehen … Offenbar haben sie schon eine Weile im Hof mit gesattelten Pferden auf ihn gewartet.“ Er schnaubte halb zornig, halb enttäuscht. „Er muss den ganzen Abend schon vorgehabt haben, zu gehen, aber er wollte mich wohl unbedingt noch bis auf die Knochen blamieren.“
Wortlos überwand sie die wenigen Schritte bis zu ihm und setzte sich neben Pierre auf den Boden. Dass ihr Kleid dabei schmutzig wurde, ignorierte sie. Sanft griff sie nach seiner Hand und drückte sie. „Wenn sich einer blamiert hat, dann er selbst. Dein Vater war sehr wütend.“
Er verzog sie Lippen zu einem freudlosen Lächeln. „Das kümmert Jean nicht. Und morgen ist alles wieder vergessen und er Papas Liebling. So ist es immer.“
Da sie nichts darauf zu antworten wusste und keine Ahnung hatte, wie sie ihn trösten sollte, lehnte sie sich stumm an ihn in der Hoffnung, damit das Richtige zu tun. Ihm das zu geben, was er gerade brauchte.
Ein tiefer Atemzug hob seine Brust, dann neigte er den Kopf, bis seine Stirn auf ihrem Scheitel zu ruhen kam. So verharrten sie eine gefühlte Ewigkeit, ohne ein Wort zu sagen.
Als Pierre sich eine Weile später bewegte, knisterte es leise, was Angelique aufmerken ließ.
„Du hast mein Geschenk noch nicht ausgepackt“, flüsterte sie.
Er legte das Päckchen auf seinen Schoß und strich wie abwesend mit den Fingern darüber.
„Ich habe leider keinen Spruch dazu“, gestand sie etwas beschämt. „Mir fiel keiner ein.“
„Das macht nichts“, erwiderte er leise und drückte ihre Hand.
Nervös warf Angelique einen Blick zurück Richtung Salon. „Meinst du, sie schauen bald nach, wo wir bleiben?“
Pierre ließ ein Schnauben vernehmen. „Nein, ich denke nicht. Obwohl … deine Eltern vielleicht. Wenn sie deine Tugend gefährdet sehen.“ Sie warf ihm einen ungläubigen Blick zu und er zuckte gleichmütig die Schultern. „Könnte doch sein.“
Angelique räusperte sich und deutete auf ihr Geschenk. „Magst du es nicht auspacken? Vielleicht …“ Sie biss sich wieder auf die Unterlippe, bis ihr bewusst wurde, was Pierre vorhin über diese Geste gesagt hatte. Unwillig schüttelte sie den Kopf.
„Was?“
„Nichts!“, gab sie zurück. „Nun pack es doch aus. Ich will wissen, was du dazu sagst. Und ich bin ehrlich gesagt ganz froh, wenn nicht jeder mitbekommt, was ich dir schenke.“ Mit glühenden Wangen drehte sie ihren Kopf zur Seite.
Abermals knisterte es leise neben ihr, dann hörte sie Pierre scharf die Luft einziehen. „Angelique!“
Verdammt, es gefiel ihm nicht. Sie schloss die Augen, die Enttäuschung lag wie ein Kloß in ihrer Kehle. Was hatte sie sich auch bloß dabei gedacht. Vermutlich würde er jetzt von ihr erwarten, dass sie ihm das Hemd ersetzte, das sie so leichtfertig verschandelt hatte.
„Hast du das gemacht?“
Zu ihrer Überraschung lag Bewunderung in seiner Stimme, also wagte sie es, ihn anzusehen. Ehrfürchtig strich Pierre über die Stickereien, die sie auf der Rückseite angebracht hatte. Keltische Triskele in Nachtblau für Nord und Süd sowie die bretonische Hermine in Silber für Ost und West. In deren Mitte die Lilie von Frankreich, bei der Angelique die mittlere Blüte silbern, die äußeren wiederum blau gestickt hatte.
„Das ist … mystisch. Und vor allem wunderschön.“
Ein warmes Leuchten erfüllte seine Augen, als er sie mit einem Lächeln ansah. Vielleicht war es aber auch nur die Reflektion der Fackeln an den Wänden.
„Ich dachte, die Symbole würden den alten und den neuen Glauben vereinen.“ Sie nahm ihm das Kleidungsstück ab und drehte es um. An der Vorderseite hatte sie keltische Kreuze aufgestickt. Eines in Silber, eines in Blau. „Gefällt es dir? Oder findest du es unangemessen?“
Pierre runzelte die Stirn. „Warum sollte ich es unangemessen finden? Da sagst du vorhin zu mir, wie lange ich wohl an deinem Portrait gesessen habe, und dann schenkst du mir das hier?“
Erneut fühlte sie Hitze in ihren Wangen, die sich noch verstärkte, als er zart mit den Fingerknöcheln darüberstrich. „Ich werde es mit Stolz tragen und dabei an dich denken.“
Die Luft um sie herum schien zu vibrieren, vielleicht waren es aber auch nur ihre Nerven. Die Stille und die Intimität des Augenblickes waren fast zu viel für Angelique. Dennoch war sie enttäuscht, als plötzlich Schritte erklangen. Gleich darauf rief ihre Mutter nach ihr.
„Wir sind hier, Maman“, antwortete sie. Allein schon, damit kein falscher Eindruck entstehen konnte. „Ich habe Pierre nur Gesellschaft geleistet, als er in Ruhe sein Geschenk auspacken wollte.“
Monique kam langsam auf sie zu. Ihrer Miene war schwer anzusehen, was sie dachte, doch zumindest schien sie nicht verärgert zu sein. Im Gegenteil, als sie vor ihnen stand, lächelte sie mitfühlend. „Alle machen sich schon Sorgen, wo ihr abgeblieben seid. Jeans Verhalten war unmöglich. Dein Vater, Pierre, ist sehr betrübt. Aber jetzt solltet ihr zurückkommen und den Gästen zeigen, dass alles in Ordnung ist. Wir entzünden gleich die Fackeln für den Lichtweg.“
Pierre erhob sich, und man konnte ihm ansehen, wie unangenehm ihm die Situation gerade war. Angelique fühlte sich verantwortlich, schließlich war sie ihm gefolgt. Ein Glück, dass es ihre Mutter war, die sie hier zusammen auf dem Boden sitzend gefunden hatte. Jeder andere hätte womöglich sonst was hineininterpretiert.
„Wir kommen sofort, Madame Renier“, versicherte Pierre und verbarg das Hemd dabei hinter seinem Rücken.
Angeliques Mutter nickte, blickte dann von Pierre wieder zu ihr und drehte sich schließlich zögerlich um. Sie lauschten ihren Schritten und atmeten beide gleichzeitig auf.
„Es ist wohl besser, wenn wir nicht zusammen zurückgehen“, meinte Pierre, und obwohl ihre Mutter aufgetaucht war, hatte er vermutlich recht. Es war eine Sache, dass Monique sie gesehen hatte, eine andere, wenn die gesamte Julgesellschaft sie Seite an Seite zurückkommen sah. Es würde auch so schon genug Gerede geben.
Als Angelique sich ebenfalls zum Gehen wandte, hielt Pierre sie noch einmal fest, sodass sie sich zu ihm umdrehte. Sein Blick war so tief und eindringlich, dass ihre Haut prickelte und eine seltsame Leichtigkeit von ihr Besitz ergriff, obwohl gleichzeitig ihr Herz wie ein gefangener Vogel in ihrer Brust flatterte. Als er sein Gesicht näher an das ihre brachte, wusste sie kaum noch zu atmen.
„Du schuldest mir noch was“, raunte er nah an ihrem Ohr. „Du erinnerst dich doch an den Tag am Fluss.“
Sie räusperte sich verlegen. „Ich glaube, das hat sich erübrigt“, erwiderte sie tapfer, obwohl ihre Stimme zitterte. „Schließlich habe ich dir dein Hemd ja zurückgegeben.“
„Hm!“, machte er. „Aber vier Wochen sind eine lange Zeit. In der sind Zinsen angefallen.“
„Was soll das denn heißen“, fragte sie entrüstet, während sich auf seine Lippen ein breites Grinsen legte. Er zwinkerte ihr zu und deutete über sie. Als Angelique den Kopf hob, erkannte sie, dass sie unter einem der Bögen standen, und dort war ein Mistelzweig aufgehängt.
„Du weißt doch, was der Brauch sagt, oder?“, fragte er und klang dabei herausfordernd.
Ehe Angelique die Gelegenheit zu einer Antwort gehabt hätte, drückte Pierre bereits seinen Mund auf ihren. Der Kuss ging ihr durch und durch. Es war der erste ihres Lebens. Jedenfalls der erste richtige, denn Pierre beließ es nicht dabei, nur kurz ihren Mund zu berühren, sondern strich lockend mit der Zungenspitze zwischen ihren Lippen entlang, bis Angelique sie instinktiv öffnete und er die feuchte Höhle ihres Mundes erkunden konnte. Es fühlte sich an, als würde er sie in Brand setzen.
Selbst nachdem er sie bereits wieder freigegeben hatte, spürte sie den sanften Druck, schmeckte die Süße dieses Kusses. Sie war verwirrt und glücklich zugleich, und seine geröteten Wangen zeigten, dass es ihm ähnlich ging.
Widerstrebend löste er sich von ihr und trat ein paar Schritte zurück. „Geh jetzt, Angelique. Ich komme bald nach. Und dann tragen wir gemeinsam unsere Fackel.“
Auch wenn ihr Verschwinden zweifellos aufgefallen war, sagte doch niemand ein Wort, als Angelique in den Salon zurückkam. Dort war man bereits im Aufbruch. Draußen vor der Tür warteten die Fackeln, und der Marsch zum großen Julfeuer würde über eine halbe Stunde dauern.
Mehrmals sah sie sich um, konnte Pierre aber nicht entdecken. Ein wenig fürchtete sie bereits, dass er nach der Szene mit Jean doch nicht kommen würde, doch gerade als Oliviér ihren und seinen Namen aufrief, damit sie ihre Fackel in Empfang nehmen konnten, trat er an ihre Seite und lächelte sanft.
Wenig später machte sich die Prozession auf den Weg. Richard de Frené und seine Frau gingen voran, danach folgten die Familie Beauchamp, die Devilles, die Veràcs, Angeliques Eltern und direkt hinter ihnen Angelique und Pierre. Dass er bereit gewesen war, hier hinten mit ihr zu laufen, statt vorn bei seinen Eltern, berührte sie sehr. Hinter ihr reihte sich Margarete mit Frederik Roboir ein, dem verwitweten Bäcker. Und danach der Rest der Gäste, doch für die hatte Angelique keinen Blick. Dafür war sie viel zu aufgeregt. Ihre und Pierres Finger berührten sich am Schaft der Fackel. Die Wärme, die sie von dort durchfuhr, rührte nicht allein von der Flamme. Schweigend schritten sie nebeneinander her, tauschten immer wieder Blicke. Der Zauber der Winterlandschaft nahm sie gefangen, und fast hatte sie das Gefühl, in einer Blase zu schweben, in der die anderen nur vage Schemen waren.
Die letzten Meter führten einen kleinen Hügel hinauf und waren anstrengend, doch Angelique hielt mühelos mit Pierre Schritt. Sein anerkennender Blick freute sie und trieb sie an. Paar um Paar stellte sich nebeneinander auf. Vor jedem von ihnen stand ein von Riemen gehaltenes Rad aus Reisig und Stroh, das man mit Öl begossen hatte. Richard und seine Frau zündeten ihres als Erstes an. Danach folgte einer nach dem anderen ihrem Beispiel.
Als die Reihe an Angelique und Pierre kam, hielten sie gemeinsam die Fackel an ihr Julrad. Rasch fraßen sich die Flammen durch das trockene Reisig, bis schließlich die Schnüre, die das Rad hielten, zerrissen und es zusammen mit all den anderen in die Senke rollte, um das große Julfeuer zu entzünden. Hell loderte das aufgeschichtete Holz in der schwindenden Finsternis. Und gemeinsam hielten sie Wache, bis der erste Streifen Morgenrot am Horizont auftauchte und bewies, dass das Licht ein weiteres Mal die Dunkelheit besiegt hatte und die Feuer des Lebens nicht verloschen.