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Kapitel 1
ОглавлениеFrankreich, November 1673
Angelique lauschte dem gleichmäßigen Rauschen des Wassers, das in schneller Strömung flussabwärts floss und unbeirrbar gegen die Macht des Winters aufbegehrte, die ihm ihren Willen aufzwingen und es zügeln wollte. Noch gewann es den ungleichen Wettstreit, wenngleich die Ränder allmählich in bizarren Formen erstarrten und das Flussbett schmäler und schmäler werden ließen. Der Klang des Wassers wirkte beruhigend, führte ihre Hände bei der Arbeit wie mit unsichtbarer Magie und gab ihr eine Melodie vor, die sie leise mitsummte.
Ihre Finger waren bereits steif vor Kälte, doch Angelique ließ sich davon nicht beirren. Wieder und wieder tauchte sie die Wäschestücke in die eisigen Fluten des Flusses, um sie anschließend auf den Steinen mit Seife zu bearbeiten, ehe sie sie erneut ins Wasser hielt, um die Lauge auszuspülen und den Stoff zu reinigen. Die Kraft des Flusses war so viel besser als ein Trog in der Küche. Dort würde sie später nur die wenigen Stücke reinigen, die man auskochen musste, wie zum Beispiel das Nachthemd und die Bettwäsche, in der ihre Mutter vor drei Tagen noch mit Fieber geschlafen hatte. Monique Renier war gerade von einer Grippe genesen, die sie nur dank ihrer guten Kräuterkenntnisse überstanden hatte, aber sie war noch schwach und ein Rückfall nicht ausgeschlossen, wenn man die verunreinigten Sachen nicht gründlich säuberte. Es hatte einige Tage nicht gut um Angeliques Mutter gestanden. Wie ernst es tatsächlich war, machte ihr spätestens der Entschluss ihres Vaters klar, nicht nach Paris zu reisen. Er hätte dort geschäftliche Verabredungen gehabt, die er nun an Antoine, seinen langjährigen Assistenten, übergeben hatte. Der Angestellte wurde in Kürze zurückerwartet, weswegen ihr Vater im Augenblick viel Zeit in seinem Geschäft verbrachte. Außerdem waren Warenlieferungen eingetroffen. Häufig half Angelique dabei, diese in den Bestandsbüchern zu verzeichnen, doch im Augenblick wurde ihre Unterstützung im Haushalt dringender benötigt.
Die Arbeit am Fluss war nicht ungefährlich, denn das Ufer war schlüpfrig und überall von einer dicken Eisschicht bedeckt. Schon lange war der Winter nicht mehr so hart gewesen wie in diesem Jahr. Noch dazu war er früh gekommen. Das brachte viele Kranke mit sich, die den harten Bedingungen nicht gewachsen waren. Als Heilerin hatte man alle Hände voll zu tun. Einen Medicus konnten sich die wenigsten leisten, und oft war ein solcher viel zu weit entfernt.
Auch Angeliques Mutter bot ihre Kräuterkunde anderen Menschen an und besuchte all jene, die ihrer Hilfe bedurften, aber zu schwach waren, sie selbst aufzusuchen. So hatte sie sich vor einigen Wochen mit der Grippe infiziert und lange Zeit mit Husten und Fieberkrämpfen das Bett hüten müssen, was ihrem ohnehin eher zierlichen Körper sehr zugesetzt hatte. Einer der Gründe, warum nicht sie, sondern Angelique heute die schweißtreibende Arbeit mit der Wäsche übernahm.
Trotz all der Last und Beschwernis dieser Jahreszeit liebte Angelique den Winter. Die weiße Pracht kleidete alles in ein unschuldiges Tuch, machte es rein und still. Wenn sie die Augen schloss, glaubte sie den Herzschlag der Erde zu hören, der jetzt einen viel langsameren Takt besaß. Alles ruhte, sammelte neue Kraft. Wenn dann der Frühling wiederkehrte, brachte er auch das Leben zurück, damit es in neuer Stärke erblühte.
Sehnsüchtig dachte sie an die Mainacht, auch wenn diese noch mehr als fünf Monate hin war. Ob ihre Mutter ihr im kommenden Jahr erlauben würde, an den Beltane-Feuern zu tanzen? In dieser Nacht wäre sie sechzehn und damit alt genug, um an den Riten teilzunehmen. Sie wusste, ihre Eltern fanden sich in jedem Jahr an den Maifeuern ein und schlichen sich später davon, um nahe bei den Feldern den Beltane-Ritus zu feiern. Viele taten das, denn der alte Glaube war im Volk auch Jahre nach dem Schrecken der großen Inquisition noch sehr lebendig, da viele der Menschen hier auf keltische Wurzeln zurückblicken konnten. Auch der Comte Richard de Frené, dem die Ländereien unterstanden. Ein Hauch von Furcht schwang zwar stets mit, denn noch immer gab es vereinzelte Fälle von Hexenprozessen und Hinrichtungen durch Verbrennen, aber man wähnte sich sicher unter dem Schutz des Comte, der auch bei der Kirche einen guten Stand innehatte. Im vergangenen Jahr waren ihnen auch deutlich weniger Berichte über solche Gräuel zugetragen worden. Es schien, als ob der Wahn endlich allmählich abebbte, doch gänzlich sicher konnte man nie sein. Dennoch würde keiner von ihnen auf die Feste verzichten. Nicht auf Jul, nicht auf Imbolc, nicht auf Beltane und auch auf keines der anderen. Es gehörte einfach dazu.
Angelique wünschte sich sehr, Teil der Maifeiern zu sein und vielleicht einem Jungen den Kopf zu verdrehen. Sie war, wie sie fand, kein Kind mehr, sondern längst eine Frau. Sie wusste, dass ihr einige der jungen Männer bereits hinterherschauten, und auch sie fühlte manchmal ein Sehnen, wenn sie an einen ganz bestimmten unter ihnen dachte. Ob er bei den Maifeuern schon ein Mädchen mit sich genommen hatte? Alt genug war er. Die Vorstellung, wie er sich mit einer anderen in den Feldern vereinigte, versetzte Angelique einen schmerzhaften kleinen Stich im Herzen.
„Ach, du bist eine kleine Närrin“, schalt sie sich selbst, strich energisch eine Strähne ihrer hellblonden Haare zurück, in denen sich bereits kleine Eiskristalle bildeten, und fuhr mit ihrer Arbeit fort. „Ein Frené kann jede im Dorf haben, wieso sollte ihn eine einfache Kaufmannstochter interessieren?“
Ihr Atem bildete Dampfwölkchen in der Luft, während sie schnaubend ausatmete und über sich selbst den Kopf schüttelte. Sie kannte Pierre de Frené, den jüngsten Sohn des Comte, ihr ganzes Leben lang. Sie waren sich häufig begegnet, wenn Angelique an der Seite ihrer Eltern den Landsitz der Frenés besucht hatte. Er war vier Jahre älter als sie, und als Kinder hatten sie oft zusammen gespielt. Oder besser gesagt, er hatte sich ihrer angenommen, während sein Bruder Jean sich nicht mit kleinen Kindern abgeben wollte. Gemeinsam hatten sie und Pierre das Anwesen der Frenés erkundet und der Dienerschaft allerhand Streiche gespielt. Doch in den letzten Jahren herrschte zunehmend eine höfliche Distanz zwischen ihnen, wenn sie sich begegneten. Es hatte schleichend begonnen, eine Art Befangenheit. Als wüsste er einfach nichts mehr so recht mit ihr anzufangen.
Seit letztem Jahr aber schien er sie wiederum mit anderen Augen zu sehen. Seine Blicke, wenn sie allein aufeinandertrafen, konnte sie nur schwer deuten. Er neckte sie häufig, doch immer zog er sich von ihr zurück, ehe mehr als ein verbaler Schlagabtausch daraus werden konnte.
Oder sein Bruder Jean kam dazu, und dann kippte die Stimmung ohnehin sofort. Bei dem Gedanken an den älteren der Frené-Söhne lief ein Schauder über Angeliques Rücken. Jean war Mitte zwanzig, und schon immer funkelte in seinen kalten grauen Augen eine Art höhnischer Spott. Um seine Lippen lag ein grausamer Zug, auch wenn er vermutlich nichts dafür konnte. Trotzdem machte er Angelique schon immer Angst, obwohl es nie einen konkreten Anlass gegeben hatte. Auch jetzt zog sie instinktiv den Umhang fester um ihre Schultern, weil ihr Kälte in die Glieder kroch, und die rührte nicht allein vom Winter. Einzig der Gedanke an die Wärme des Feuers später in der Küche und eine würzige Suppe gaben ihr den Willen, weiter durchzuhalten. Das würde die verdiente Belohnung für einen kräftezehrenden Morgen am Fluss sein.
Natürlich hätte Angelique die Arbeit auch einer Dienstmagd überlassen können, doch die wäre nicht hier hinaus zum Fluss gegangen. Zumal die Angst vor den Wölfen die meisten davon abhielt, sich weiter vom Dorf zu entfernen, und ihr Hof lag ohnehin schon ein Stück außerhalb. Zu Pferd brauchte man eine Viertelstunde von ihnen bis zu den ersten Häusern. Zu Fuß etwas länger. Der Weg entlang des Flusses verlief nah am Wald, von wo man des Nachts oft das Heulen der Wölfe hören konnte.
Angelique fürchtete die Tiere nicht. Selbst jetzt, wo das Futter knapp wurde, war noch keines von ihnen bis zu den Häusern gekommen. Sie waren scheu, blieben lieber in den Wäldern und hielten sich von Menschen fern, weil sie um die Gefahr wussten, die von ihnen ausging. Oh ja, Menschen konnten grausam sein. Das wusste sie wohl.
Hastig schüttelte sie den Kopf und erlaubte der Erinnerung erst gar nicht, wieder aufzusteigen. Es war lange her, und im Grunde wusste sie bis heute nicht, was in jener Nacht tatsächlich geschehen war.
Erneut wanderten Angeliques Gedanken zu Pierre und seinem Bruder Jean. Das war allemal besser, als die altvertraute Panik wieder zuzulassen. Die beiden Frenés waren wie Feuer und Wasser, wie Tag und Nacht. Der eine hilfsbereit, sanft und besonnen, der andere nur auf den eigenen Vorteil bedacht, berechnend und kalt. In ihren Augen war Jean eindeutig gefährlicher als jeder Wolf, auch wenn es rein gar nichts gab, was sie ihm hätte vorwerfen können. Es war bloß ein Gefühl.
Auch er sah sie heute anders an als zu den Zeiten, als sie noch Kinder gewesen waren, doch wenn sein Blick sie streifte, war es wie eine Warnung. Wie ein kalter Hauch, der ihr für einen Moment den Atem raubte. Ganz anders bei Pierre. Wenn sie sich begegneten, schlug ihr Herz schneller, und selbst bei diesen eisigen Temperaturen wurde ihr warm.
Sie erinnerte sich an die zufälligen Berührungen bei ihrem letzten Besuch. Es war nur ein kurzes Streicheln ihrer Finger, als er ihr den Korb mit den Waren abgenommen hatte, doch in seinen Augen war dieser herausfordernde, freche Glanz aufgeflammt, der ihr seitdem nicht mehr aus dem Kopf ging. Noch vier Wochen bis zum Julfest. Dann würde sie ihn wiedersehen. Närrin hin oder her, die Freude darauf konnte ihr keiner nehmen, und ihre Träume ebenso wenig. Ein Lächeln stahl sich auf Angeliques Gesicht. Da traf sie unerwartet etwas Hartes, Kaltes im Nacken.
Sie schrie auf und wirbelte herum. Das Hemd, das sie gerade wusch, entglitt ihren Fingern und wurde vom Strom mitgerissen. Sie wollte dem Angreifer wütend die Meinung sagen, als ihr Herz mit einem Mal einen Takt schneller schlug.
Hinter ihr, etwa zehn Schritte entfernt, stand Pierre, formte einen zweiten Schneeball und lachte. „Träumerin!“, rief er ihr zu und warf das Geschoss nach ihr.
Diesmal war Angelique vorbereitet. Rasch duckte sie sich unter dem Schneeball hinweg, griff ihrerseits in die weiße Pracht und rannte auf Pierre zu. „Na warte!“, rief sie ihm entgegen und fiel in sein Lachen ein.
Er mimte den Ängstlichen, taumelte einige Schritte vor ihr zurück und wehrte den Schnee, den sie in seine Richtung schleuderte, mit der Hand ab. Während sich Angelique wieder bückte, um eine nächste Ladung zu schaufeln, sprang er auf sie zu und packte von hinten ihre Arme. Sie quiekte auf wie ein junges Ferkel und wand sich in seinem Griff, doch Pierre ließ sich mit ihr zu Boden fallen und rollte sie beide durch den Schnee. Gegenseitig schaufelten sie sich das kalte Nass ins Gesicht und in den Kragen ihrer Umhänge, als wären sie wieder Kinder, die völlig unbefangen miteinander albern durften. Das Gefühl war berauschend schön und erfüllte sie mit reinem Glück.
Pierre war ihr gegenüber bei der Rangelei im Vorteil, denn seine Hände steckten in wärmenden Lederhandschuhen. Als sie schließlich beide außer Atem auf dem Rücken nebeneinanderlagen und immer noch lachten, fühlte Angelique ihre Finger kaum noch.
„Gibst du auf?“, fragte er.
„Niemals!“
So nah waren sie einander seit Jahren nicht mehr gewesen. Damals, als alles noch voller Unschuld schien und sich Angelique der Unterschiede zwischen ihnen beiden nur vage bewusst gewesen war. Heute sah das definitiv anders aus. Verstohlen betrachtete sie Pierre von der Seite und fühlte eine fremdartige Wärme in ihrer Mitte. Die Winterkälte, die in ihre Kleider kroch, bemerkte sie hingegen kaum mehr. Erst als er nach ihrer Hand griff, zuckte sie zusammen vor Schmerz.
Pierre bemerkte es sofort und sah besorgt auf ihre Finger, die sich an den Nägeln bereits blau verfärbten. „Du dummes Mädchen. Was ziehst du auch keine Handschuhe an“, schalt er sie, während er mit einer Hand die Ösen der Fellweste löste und sein Hemd aufknöpfte. Zischend sog Angelique die Luft ein, nur um sie dann anzuhalten und sprachlos zuzusehen, was ihr heimlicher Schwarm da tat.
Bei aller Zuneigung, die sie für Pierre empfand, wurde ihr nun doch bang ums Herz und ihre Wangen glühten vor Scham, als er so ungeniert seine Brust entblößte. „Was tust du da?“, keuchte sie, als sie endlich ihre Stimme wiederfand.
„Na was wohl? Du wirst deine Fingerkuppen verlieren, wenn wir sie nicht schnell wieder wärmen.“ Damit schob er ihre Hände in seinen Ausschnitt und drückte ihre gefühllosen Glieder an seinen Oberkörper, wobei er leicht zusammenzuckte und die Zähne aufeinanderbiss, als die Kälte auf seine warme Haut traf.
Angeliques Herz setzte einen Schlag aus, und instinktiv versuchte sie, diese intime Berührung zu beenden, doch er hielt ihre Handgelenke fest, sodass sie sich ihm nicht entziehen konnte.
Wie gebannt starrte sie auf den schmalen Streifen Haut, der zwischen dem Leinenstoff hervorblitzte. Sie sah, wo der Saum ihren Handrücken berührte, doch alles, was sie fühlte, war Pierres feste, glatte Brust und seine Wärme, die sich als glühende Hitze in ihren Wangen wiederfand.
Langsam hob sie den Blick. Über die kräftigen Knochen seiner Schlüsselbeine, die sanfte Grube seiner Kehle, den Adamsapfel und das glattrasierte Kinn bis hinauf zu seinen Lippen, wo sie kurz verweilte in dem Gedanken, wie sie sich wohl auf ihrem Mund anfühlen mussten. Und dann höher hinauf zu seinen Augen, die blau waren wie der Himmel an einem Sommertag. Seine braunen Locken standen feucht und zerzaust in alle Richtungen ab, und vage fragte sie sich, wie wild ihre lange Mähne wohl gerade aussah.
Unter ihren Händen spürte Angelique, wie sich Pierres Brust bei jedem Atemzug hob und senkte, wie sein Herz schlug – ein paar Takte zu schnell, genau wie ihres. Sie zitterte erneut, aber diesmal nicht vor Kälte.
Er hielt ihrem Blick stand. Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. „Du schuldest mir was“, flüsterte er. „Ich habe dir deine Hände gerettet.“
Angeliques Keckheit kehrte bei dem spöttischen Funkeln in seinem Blick zurück und sie grinste ihn an. „Ich denke eher, dass du mir etwas schuldest. Wegen deines Schneeballs habe ich eines von Vaters besten Hemden verloren.“
Er sah zum Fluss, und sie tat es ihm gleich.
„Da ich nicht davon ausgehe, dass du hinterherschwimmen und es mir zurückholen wirst, musst du es mir wohl ersetzen.“
Pierre ließ ihre Hände los, was sie nutzte, um wieder einen respektablen Abstand zwischen sie beide zu bringen. Doch er junge Frené erschreckte sie erneut, als er seinen Umhang löste, ihn mitsamt der Fellweste von den Schultern gleiten ließ und dann begann, sein Hemd vollends aufzuknöpfen.
„Was … was tust du?“
Er grinste sie schelmisch an. „Meine Schulden bezahlen, natürlich. Du willst ein Hemd für deinen Vater, dann sollst du meines haben.“
Im eisigen Hauch des Winters stand er mit bloßem Oberkörper vor ihr und zeigte kaum ein Anzeichen von Kälte, außer dass sich seine dunklen Brustwarzen zusammenzogen.
„Du wirst dir den Tod holen, wenn du dich nicht sofort wieder anziehst.“
Er gab sich unbeeindruckt von ihrer Sorge, schien es sogar zu genießen, wie ihr Blick über seinen Körper wanderte. Gemächlich streifte er die Weste wieder über und legte seinen Umhang um die Schultern, den er mit der Spange verschloss. Dann reichte er Angelique sein Hemd. Die Wärme seines Körpers stieg noch daraus empor, ebenso wie sein verlockender männlicher Duft. Zögernd streckte sie ihre Hand danach aus. Als sie den Stoff mit den Fingerspitzen berührte, griff er blitzschnell mit der Linken nach ihr und zog sie in eine noch innigere Umarmung als die vorherige.
„Mhm! Wenn ich es mir recht überlege, ist mein Hemd vielleicht doch mehr wert als das deines Vaters. Immerhin war seines aus grober Wolle, meines ist aus feinem Leinen. Und seins hatte bestimmt schon Flicken, während meines noch neu ist.“
Angeliques Herz drohte unterdessen vor Aufregung zu zerspringen. Was war nur in ihn gefahren? So kannte sie Pierre gar nicht. Wenn jemand sie beobachtete? Wie sollten sie das erklären?
Seine Hitze und sein Duft machten sie schwindlig. Sie durften einander nicht so nah sein.
„Willst du nicht wissen, was ich zur Herausgabe des Hemdes noch verlange?“
Seine Stimme klang rau und hallte in ihrem Körper wider. Das war längst kein unschuldiges Spiel mehr.
„Pierre, nicht. Wir dürfen das nicht tun. Bitte lass mich gehen.“
Widerstrebend kam er ihrer Bitte nach. Angelique eilte hastig ans Ufer zurück und sammelte die Wäschestücke ein. Dabei bemühte sie sich, seinen Blick in ihrem Rücken zu ignorieren.
Als sie alle Kleider wieder im Korb hatte, ihn auf ihre Hüfte hob und sich zum Gehen wandte, stand er direkt hinter ihr.
„Du hast etwas vergessen“, sagte er und legte sein Hemd obenauf. Behutsam hob er ihr Kinn mit dem Zeigefinger an, bis sie ihm erneut in die Augen sehen musste. „Den Kuss heb ich mir für später auf. Wir sehen uns beim Julfest, Angelique.“
Ehe sie etwas darauf erwidern konnte, war er die Böschung hinaufgeeilt und in den Sattel seines wartenden Pferdes gestiegen.
„Aber vergessen ist er nicht, Angelique. Der Kuss, meine ich.“
Lachend wendete er den Rappen und preschte in Richtung des Dorfes davon. Eine Weile blieb Angelique allein in der Kälte zurück und starrte ihm nach. Erst, als der Schneefall einsetzte, machte auch sie sich auf den Heimweg.
***
Als sie das Haus ihrer Eltern betrat, glühten ihre Wangen immer noch. Sie hoffte, dass Margarete, ihre Haushälterin, es auf die Kälte zurückführen würde. Außer ihr war zum Glück niemand in der Nähe.
„Wo ist mein Vater?“, fragte Angelique und begann sogleich, die Wäschestücke vor dem Ofen aufzuhängen. Pierres Hemd lag obenauf. Es war nur leicht feucht und verströmte noch immer seinen Duft. Verdammt, wie sollte sie überhaupt erklären, wo dieses Hemd herkam? Das hatte sie gar nicht bedacht. Verstohlen blickte sie sich nach Margarete um, aber die war mit der Vorbereitung des Abendessens beschäftigt. Also legte Angelique das fragwürdige Geschenk rasch zusammen und ließ es im Ausschnitt ihrer Bluse verschwinden, um es später in ihrem Zimmer zu verstecken. Sie würde es Pierre an Jul zurückgeben. Bis dahin musste sie dafür sorgen, dass niemand es fand und Fragen stellte.
„Er ist noch im Geschäft“, antwortete Margarete derweil. „Heute sind doch die neuen Waren angekommen, da dauert es ja meist länger.“
„Ach ja, das hatte ich ganz vergessen“, erwiderte Angelique und beäugte die ältere Frau angespannt. Hoffentlich bemerkte sie nichts von dem ungewöhnlichen Füllmaterial an ihrem Busen. Margarete war nicht gerade für Verschwiegenheit bekannt. Noch weniger dafür, dass man sie mit fadenscheinigen Ausreden abspeisen konnte. Wenn sie das Hemd entdeckte, würde sie nicht eher Ruhe geben, bis Angelique ihr alles erzählte. Und dann würde sie es ihren Eltern sagen. Allein der Gedanke daran ließ Angelique vor Scham fast im Erdboden versinken.
„Die Wäsche deiner Mutter habe ich bereits ausgekocht und anschließend nach draußen gebracht, damit sie abkühlt. Ich denke, du kannst sie nun ebenfalls auswringen und aufhängen.“
Hastig nickte Angelique und murmelte ein Dankeschön.
„Du warst recht lange am Fluss“, bemerkte Margarete über ihre Schulter hinweg, und Angelique erschrak, weil sie mit den Gedanken schon wieder bei der Begegnung mit Pierre gewesen war. „Ich hatte schon Sorge, dass dir etwas passiert wäre.“
Die Worte ließen erneut Blut in ihre Wangen schießen, trafen sie den Nagel doch auf den Kopf, auch wenn Margaret sicherlich etwas anderes dabei im Sinn hatte. „Was soll mir schon passieren?“, meinte Angelique leichthin und hoffte, dass ihre Stimme nicht so zitterte, wie es ihr vorkam.
„Na ja, der alte Rouven aus der Schmiede meinte vor ein paar Tagen, dass er einen frisch gerissenen Hirsch an der Biegung am Waldrand gesehen hätte. Das heißt, die Wölfe treiben sich dort rum. Außerdem ist das Wasser eisig und das Ufer längst rutschig geworden. Von herumziehenden Räuberbanden ganz zu schweigen.“
„Du hast wirklich eine blühende Fantasie“, warf Angelique der älteren Frau vor.
Sie war mit der Wäsche fertig und wollte sich auf ihr Zimmer zurückziehen, als Margarete sie bat, noch Holz von draußen zu holen. Eilig griff Angelique sich den Korb im Vorbeilaufen, hoffend, dass das Hemd unter ihrer Bluse nicht auffiel, wenn sie ihn fest an ihren Brustkorb drückte. An der Tür zum Hof schielte sie vorsichtig über ihre Schulter zurück. Von der Haushälterin war nichts zu sehen.
Auf Zehenspitzen schlüpfte Angelique in ihr Zimmer und stopfte Pierres Hemd unter ihr Kopfkissen. Später würde sie sich ein besseres Versteck dafür suchen müssen, aber auf die Schnelle musste es so gehen. Ehe sich Margarete wundern oder nach ihr sehen konnte, lud sie draußen Holz in den Korb und trug ihn zurück in die Küche. Als sie dort ankam, ließ sie ihn vor Schreck beinahe fallen, denn ihre Mutter saß auf dem Stuhl am Tisch und unterhielt sich leise mit ihrer Haushälterin.
„Maman! Du bist auf? Ist es nicht noch zu früh?“ Besorgt ging Angelique vor ihrer Mutter auf die Knie und ergriff ihre klammen Hände. Die Grippe hatte Monique schwer gezeichnet. Sie war schon immer schlank gewesen, aber jetzt wirkte sie ausgezehrt, und die dunklen Ringe unter ihren Augen ließen ihre Haut noch blasser wirken. Dennoch rang sie sich ein Lächeln ab.
„Es geht mir gut, mein Schatz. Es wird Zeit, dass ich wieder am Leben teilnehme. Meine Kräfte schwinden nur umso schneller, je länger ich das Bett hüte.“
„Ganz genau“, schaltete sich Margarete ein und stellte eine große Schale der frisch gekochten Brühe vor ihre Brotgeberin. „Die wird deine Lebensgeister schnell wieder wecken. Ich hole auch gleich das frische Brot aus dem Ofen.“ Sie nickte bekräftigend und wischte sich die Hände an der Schürze ab, ehe sie ihren Worten Taten folgen ließ.
Eigentlich war Margarete viel mehr als ihre Haushälterin. Sie und Angeliques Mutter verband eine enge Freundschaft. Monique hatte sich um Margaretes Eltern gekümmert, als der Medicus sich geweigert hatte, ihr Haus zu betreten. Die finanzielle Situation der Familie war ihm zu dürftig erschienen, um tätig zu werden. Monique hatte danach nur noch ihr Leiden lindern, aber den Tod nicht mehr aufhalten können.
Nachdem auch Margaretes Mann wenige Jahre später an den Folgen eines Unfalls verstorben war, war sie dann bei den Reniers eingezogen. Sie hatte sonst niemanden mehr. Keine Familie, keine weiteren Verwandten. Seitdem kümmerte sie sich um den Haushalt, um Monique zu entlasten. Für Angelique war sie mehr wie eine Tante als wie eine Hausangestellte, und sie hatte ihr Mut gemacht, als es um Monique einige Tage schlecht gestanden hatte.
Besorgt zog sich Angelique einen Schemel heran, um sich neben ihre Mutter zu setzen, die mit zitternden Fingern einen Löffel in die Suppe tauchte und zu essen begann.
„Mach dir keine Sorgen. Ich bin wirklich wieder gesund“, versicherte Monique ob ihres angespannten Blickes. „Noch etwas schwach, aber das wird schon wieder. Was hast du heute gemacht?“
„Unten am Fluss war sie“, antwortete Margarete, während sie einen zweiten Teller Suppe vor Angelique hinstellte und ihr, den harschen Worten zum Trotz, einen liebevollen Blick schenkte. „Zum Wäsche waschen. Kann man sich das vorstellen? Wo das halbe Dorf davon spricht, wie nah die Wölfe dieses Jahr sind.“
Angelique warf ihr einen bösen Blick zu. Sie mochte es nicht, dass jeder die Angst vor den Wölfen schürte. So lange, bis bald wieder Jagd auf sie gemacht wurde. Ihr lag schon eine bissige Bemerkung auf der Zunge, als eine tiefe Stimme in ihrem Rücken sie zusammenzucken ließ.
„Du warst allein am Fluss?“ Ihr Vater stand in der Tür und runzelte bei der Frage besorgt die Stirn. „Angelique, so was gehört sich nicht für eine junge Dame. Warum hast du nicht Babette geschickt?“
Sie rollte die Augen. „Weil die wieder nur den Waschzuber genommen hätte. Und die Wäsche wird einfach sauberer, wenn man sie draußen reinigt.“ Jetzt war wohl der Moment für ein Geständnis. „Leider ist mir eins deiner Hemden dabei von der Strömung mitgerissen worden, Papa. Es tut mir leid.“ Sie biss sich auf die Lippen und wartete auf das Donnerwetter.
Jaques Renier schenkte ihr einen strafenden Blick, ehe sich ein Lächeln auf seine Züge stahl und er den Kopf schüttelte. „Ich hoffe, es war wenigstens eins von den alten.“
Angelique hüpfte von ihrem Schemel, schlang ihre Arme um die Taille ihres Vaters und schmiegte mit einem schüchternen Grinsen ihr Gesicht an seine Brust. „Das ganz alte. Mit den vielen Flicken. Das du nur noch in der Werkstatt anhattest.“
„Dein Lieblingshemd“, bemerkte ihre Mutter und schmunzelte, was ihr Gesicht trotz aller Spuren der Krankheit erhellte.
„Wie ist das denn passiert“, wollte Jacques wissen.
Angelique stieg vor Verlegenheit und schlechtem Gewissen Hitze in die Wangen. Sie konnte wohl kaum mit der Wahrheit rausrücken und erst recht nichts von der Wiedergutmachung erzählen, die sie dafür erhalten hatte. Daher zuckte sie die Achseln. „Meine Finger waren schon so klamm vom kalten Wasser. Irgendwie muss es mir dann wohl aus den Händen geglitten sein.“
Ihr Vater stieß einen langen Seufzer aus und tätschelte ihr den Rücken. „Na ja, es wurde sowieso Zeit, dass das alte Ding fortkam. Vermutlich hätte ich mich nie davon trennen können, also war es wohl … Schicksal.“
Aus den Augenwinkeln sah Angelique, wie Margarete den Kopf schüttelte. „Es war immer noch gut. Heutzutage werden die Sachen viel zu schnell weggeworfen. Selbst wenn du es nicht mehr hättest tragen wollen, Jacques, wäre es noch ein guter Putzlumpen geworden.“
„Es ist nur ein Hemd, Margarete“, sagte der Hausherr sanft. „Schlimmer wäre es gewesen, Angelique wäre im Fluss gelandet.“
Was um ein Haar vor Schreck ja auch passiert wäre.
Die Haushälterin schnaubte und schimpfte noch eine Weile leise vor sich hin, doch Angeliques Eltern grinsten beide verstohlen. Tatsächlich wirkte ihre Mutter viel lebendiger als noch vor ein paar Tagen. Sogar ihre Wangen zeigten wieder einen Hauch von Farbe, jetzt, da sie die Suppe gegessen hatte. Vielleicht war es auch nur die Wärme des Ofens. Aber es machte Angelique glücklich, weil auch die letzten Reste von Sorge um ihre Mutter schwanden.
„Richard war heute bei mir im Laden“, erzählte Jacques, während er seinen Mantel neben den Ofen hängte und sich anschließend auch einen Teller Suppe holte. Ein aufgeregtes Flattern machte sich in Angeliques Mitte breit, als der Name von Pierres Vater fiel. „Er hat mich noch einmal an seine Einladung zum Julfest erinnert und lässt dir seine besten Genesungswünsche übermitteln.“ Liebevoll tätschelte er seiner Frau die Hand.
„Oh, bis Jul werde ich sicherlich vollständig wiederhergestellt sein“, meinte sie mit zaghaftem Lachen. „Es sind ja noch fast vier Wochen. Eigentlich dachte ich daran, kommenden Montag wieder die ersten Besuche zu machen.“
Die Miene von Angeliques Vater zeigte eine Mischung aus Sorgen und Strenge. „Hältst du das für eine gute Idee? Du bist noch immer nicht ganz bei Kräften.“
Monique neigte den Kopf zur Seite und sah ihren Mann zärtlich an. „Du weißt, dass die Leute mich brauchen. Ich bin die einzige Heilerin hier. Für den Medicus wären sie einen halben Tag unterwegs, und die meisten können sich seine Dienste nicht einmal leisten. Sie verlassen sich auf mich. Und es geht mir gut.“
Angelique sah ihrem Vater an, dass ihm die Antwort nicht gefiel, aber wie immer würde sich ihre Mutter durchsetzen. Dafür liebte sie ihre Arbeit zu sehr.
„Richard hätte sich längst darum bemühen müssen, einen Medicus hierherzuholen.“
Monique verzog das Gesicht. Sie hielt nicht viel von den Quacksalbern. Zu oft schon hatte sie miterlebt, wie sie Leuten ihre Hilfe verweigerten oder sie mit ebenso schmerzvollen wie unpassenden Methoden eher kränker als gesünder machten.
„Es gibt auch welche, die ihr Handwerk verstehen“, setzte Jacques rasch nach, konnte seine Frau aber nicht damit überzeugen.
Noch etwas schwerfällig erhob sie sich von ihrem Stuhl und stellte die Suppenschale in das Spülbecken. „Danke, Margarete. Die Brühe hat mir gutgetan.“ Und mit einem Blick zu ihrem Gatten fügte sie hinzu: „Ich lege mich jetzt wieder hin. Aber morgen früh begleite ich dich in den Laden, denn ich muss meine Kräuter auffüllen. Und dann werde ich hören, wer von den Dorfbewohnern meine Hilfe braucht. Ich lasse es langsam angehen, und Angelique kann mir assistieren. Aber ich werde nicht länger das Bett hüten. Ich weiß am besten, wann eine Krankheit auskuriert ist, und meine ist es, dessen kannst du dir sicher sein.“
Als sie den Raum verließ, warf Jacques Angelique einen wehmütigen Blick zu. Sanft legte sie ihre Hand auf seine. „Ich passe schon auf sie auf“, versprach sie und vertraute darauf, dass Monique sich selbst nicht überfordern würde. Gerade weil sie die einzige Heilerin war, auf die sich die Dörfler verließen.
***
Pierre zitterte am ganzen Leib, als er das Landgut seiner Familie endlich erreichte. Er wusste, dass ihn der pure Leichtsinn getrieben hatte und er sich im schlimmsten Fall eine Lungenentzündung holen konnte, aber das war es ihm wert gewesen. Angelique Renier schuldete ihm jetzt etwas. Auf jeden Fall einen Kuss. Und wenn es nach ihm ging, noch mehr als das.
Ja, er hatte sie unbedingt beeindrucken wollen, und ihre scheuen aber gleichsam neugierigen Blicke, als er seinen Oberkörper entblößt hatte, waren Beweis genug gewesen, dass es ihm gelungen war. Das gab ihm ein Hochgefühl, denn insgeheim hatte sich sein Interesse an ihr schon vor über einem Jahr gewandelt.
Als Kinder waren sie zusammen groß geworden, hatten sich geneckt und herumgealbert. Aber jetzt war Angelique zu einer wunderschönen jungen Frau herangewachsen, und seit Monaten schlich sich ihr Bild ständig in seine Gedanken. Keine andere weckte seine Neugier oder rief Begehren in ihm hervor. Jede verglich er sofort mit ihr. Sie waren einander in gewisser Weise vertraut, obwohl sie für seinen Geschmack noch viel zu wenig voneinander wussten. Das gedachte er zu ändern. Je eher desto besser.
Ein Grinsen malte sich auf seinen Zügen ab, und für einen Moment vertrieb die Erinnerung an ihre kalten Finger auf seiner nackten Haut das reale frostige Gefühl des Winters. Stattdessen vermeinte er Hitze an den Stellen zu spüren, wo sie ihn berührt hatte, und sein Atem ging ein wenig schneller. Erst ein Windstoß, der unter seinen Umhang fuhr, erinnerte ihn daran, dass er besser nicht noch länger hier draußen in der Kälte stehen blieb, sonst würde er Jul mit Fieber im Bett liegen, anstatt bei Angelique die Schulden einzufordern.
Pierre brachte sein Pferd in den Stall und übergab es einem der Knechte, ehe er sich durch einen Seiteneingang ins Haus schlich und eilig auf sein Zimmer lief. Besser, wenn ihn niemand von der Familie in diesem Aufzug sah. Schon gar nicht sein Vater und noch weniger sein Bruder Jean, der keine Gelegenheit ausließ, ihn zu verspotten und zu verhöhnen. Seit Jean sich mit diesen komischen neuen Freunden traf, hatte er sich zunehmend verändert, und das Verhältnis zwischen ihnen war mehr als nur angespannt.
Ungesehen erreichte Pierre seine Räume. Amelie, seine Zofe, erschrak furchtbar, als er durch die Tür stürmte und diese gleich wieder hinter sich ins Schloss warf. Eine Sekunde war er über ihre Gegenwart irritiert, doch dann empfand er sie als Segen.
„Schnell!“, wies er sie an, ohne seinen ungewöhnlichen Aufzug zu erklären. „Bereite mir ein heißes Bad. Ich bin total durchgefroren.“
„Das sehe ich“, entfuhr es ihr. „Um Himmels willen, wo habt Ihr Euer Hemd gelassen?“
„Ist mir abhandengekommen“, erwiderte er grinsend. „Ich musste es sozusagen opfern. Für ein gutes Geschäft.“
Missbilligend schnalzte sie mit der Zunge und schüttelte den Kopf, machte sich aber bereits daran, den Ofen anzufeuern und den ersten Kessel mit Wasser daraufzustellen. Eine halbe Stunde später hatte sie genügend Wasser erhitzt, um den Zuber damit zu füllen.
„Danke, Amelie. Du kannst jetzt gehen. Und kein Wort zu meinen Eltern. Auch sonst zu niemandem.“
„Ich weiß zwar nicht, warum, aber wie Ihr wünscht. Hoffentlich holt Ihr Euch keine Erkältung oder Schlimmeres, Monsieur Pierre.“
Er grinste sie frech an, sagte aber nichts. Wenn er krank wurde, konnte er immer noch auf einen Besuch von Angelique und ihrer Mutter hoffen. Trotzdem war es ihm lieber, er blieb von jeglicher Verkühlung verschont.
Mit einem wohligen Laut ließ er sich ins Wasser gleiten. Erst als die Wärme seinen Körper umspülte, wurde ihm bewusst, wie kalt seine Glieder tatsächlich waren. Vielleicht war später ein heißer Tee mit einem ordentlichen Schuss Weinbrand keine schlechte Idee.
Pierre schloss die Augen und lehnte sich im Zuber zurück. Die ätherischen Öle, die Amelie ins Badewasser gegeben hatte, taten ihm gut, machten ihn schläfrig. Er schloss die Augen und rief sich die Situation am Fluss noch einmal in allen Einzelheiten in Erinnerung. Die beinah unschuldige Rangelei im Schnee, die dennoch eine verzehrende Hitze in ihm entfacht hatte. Es war so einfach gewesen, Angelique auf diese Weise nahe zu kommen. Näher als es sich in ihrem Alter schickte. Gottlob hatte sie offenbar nicht bemerkt, was das mit ihm anrichtete. Er begehrte sie, hätte ihren weichen, anschmiegsamen Körper am liebsten gar nicht mehr freigegeben. Ihm entglitt ein Seufzen, während er sich dem Wunschtraum hingab, bei Angeliques Vater um ihre Hand anzuhalten. An Jul war es sicher noch zu früh. Erst einmal musste er sicher sein, dass sie ihn ebenfalls wollte. Aber vielleicht im Frühjahr … Ja, das wäre ein guter Zeitpunkt, stellte er mit einem seligen Lächeln auf den Lippen fest.
„Ein ungewöhnlicher Tag für ein Bad.“
Die hämische Stimme ließ Pierre zusammenzucken und verscheuchte seine Träume. Jean! Das hatte ihm gerade noch gefehlt.
„Kannst du nicht anklopfen, ehe du mein Zimmer betrittst?“, herrschte er seinen Bruder an und drehte sich im Zuber halb um, damit er über dessen Rand zur Türe blicken konnte.
Jean lehnte lässig am Rahmen und bedachte ihn mit einem abschätzigen Blick. Vom Flur wehte kühle Luft herein, weil er es nicht einmal für nötig erachtete, Pierres Privatsphäre zu respektieren.
„Komm rein und mach die Tür zu“, presste Pierre ärgerlich hervor, wohl wissend, dass er Jean damit in die Hände spielte, weil er ihm so von sich aus die Erlaubnis gab, einzutreten.
Missbilligend schüttelte der den Kopf, schloss aber nach einem prüfenden Blick in den Flur die Türe und näherte sich dem Zuber.
„Mein kopfloser, unvernünftiger Bruder. Du könntest dir den Tod holen. Halb nackt durch die Gemarkung zu reiten.“
Pierre schluckte. Woher wusste Jean davon?
„Spionierst du mir etwa hinterher?“, fragte er harsch.
Jean schürzte die Lippen. „Jemand muss doch auf dich aufpassen. Und verhindern, dass du unseren Namen in den Schmutz ziehst. Wie unvorsichtig, was du da mit der kleinen Renier getrieben hast. Wenn euch jemand dabei beobachtet hätte.“ Er machte ein entsetztes Gesicht. „Ein Glück, dass nur ich es war.“
Pierre presste seinen Mund so fest zusammen, dass er nur noch ein schmaler Strich war, und verkniff sich eine Antwort.
„Ehrlich, Brüderchen, sie ist ein verlockendes Pfand, aber doch nun wirklich nicht unser Niveau, meinst du nicht? Eine Bürgerliche. Noch dazu die Tochter einer Hexe.“
„Monique ist keine Hexe!“, begehrte Pierre sofort auf. „Und Angelique ebenso wenig. Sprich nicht derart über sie. Du weißt, wie gefährlich das noch immer ist in diesen Tagen.“
Beschwichtigend hob Jean die Hände, seine Augen indes blieben kalt und abschätzig.
„Scheint dir ja ganz hübsch den Kopf verdreht zu haben, die Kleine. Aber na ja, wenn die Leidenschaft gerade erst erwacht, ist man wohl ein leichtes Opfer.“
Es ärgerte Pierre, dass Jean auf seine Unerfahrenheit anspielte. Immerhin konnte ja nicht jeder solch einen lasterhaften Lebenswandel führen wie er. Wer besudelte hier wohl ihren guten Namen. Doch ärgerlicherweise wusste ihr Vater davon und ließ es Jean durchgehen. Redete davon, dass ein junger Mann sich ruhig die Hörner abstoßen durfte. Manchmal hatte Pierre fast das Gefühl, er wartete regelrecht darauf, dass es bei ihm auch endlich so weit war. Aber das war nichts für ihn. Da mussten Gefühle im Spiel sein, nicht bloß reine Triebbefriedigung.
„Ich wüsste zwar nicht, was es dich angeht, aber Angelique und ich sind Freunde. Immerhin kennen wir uns schon ewig. Da ist doch nichts dabei, wenn ich mit ihr im Schnee herumalbere“, sagte er, um das Geschehen vor Jean herunterzuspielen, obwohl er sich gleichzeitig schäbig und verlogen vorkam.
Jean schnaubte verächtlich. „Natürlich. Bloß rumgealbert. Darum bist du auch dein Hemd losgeworden. Nicht, dass du sie mit deinem Körper beeindrucken wolltest, wo denken wir denn hin? Und dass du dich heimlich zum Seiteneingang reinschleichst wie ein Dieb zeugt auch keineswegs davon, dass dich das schlechte Gewissen quält. Oder es dir peinlich wäre. Teufel noch mal, du solltest langsam erwachsen werden. Wenn du sie haben willst, nimm sie dir, so läuft das nämlich. Was hat sie dir schon entgegenzusetzen? Für diesen Kinderkram bist du jedenfalls allmählich zu alt.“
Jeans Wut überraschte Pierre. Die Abfälligkeit, mit der sein Bruder über die Frau sprach, die ihm mehr und mehr das Herz stahl, tat weh. Eine Erwiderung blieb ihm gottlob erspart, denn Jean verließ das Zimmer, ohne seine Antwort abzuwarten. Im Stillen hoffte Pierre, dass er ihren Eltern nichts von seinen Beobachtungen erzählte. Er wollte keine Gerüchte aufkommen lassen, und vor allem wollte er Angeliques Ruf nicht gefährden. Ihm war es ernst mit ihr. Das würde er ihr noch beweisen, und hoffentlich, wenn sie es erwiderte, seinen Vater davon überzeugen, dass auch eine Bürgerliche eine gute Wahl für einen Frené war.
Das Badewasser kühlte allmählich ab, und die Worte seines Bruders ließen Pierre zusätzlich frösteln. Er stieg aus dem Bottich, trocknete sich ab und schlüpfte in ein frisches warmes Hemd und gefütterte Wildlederhosen. Bis zum Abendessen war noch etwas Zeit, daher nahm er an seinem Sekretär Platz und holte einen Bogen Papier hervor. Anschließend griff er nach dem Kohlestift und begann zu zeichnen.
Es war seine geheime Leidenschaft, eine Möglichkeit, Dinge zu verarbeiten und seinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Zumindest seine Mutter sagte, dass er Talent besaß. Ob es stimmte, wusste er nicht, aber der Gedanke, Angelique ein persönliches Julgeschenk zu überreichen, war verlockend. Was sie wohl dazu sagen würde? Ein Lächeln spielte um Pierres Lippen, und seine Seele allein führte seine Finger Strich um Strich auf dem weißen Untergrund, bis die Linien sich zu einem Bild zusammenflochten, in das er all seine Sehnsucht legte.
***
Müde kroch Angelique unter ihre Decke. Ihre Glieder fühlten sich schwer an, und sie hoffte, dass sie sich nicht doch eine Erkältung geholt hatte, weil sie mit bloßen Händen so lange im Fluss gearbeitet hatte. Aber sicher war es nur die Müdigkeit. Die Wärme, die der alte Ofen in der Ecke ausstrahlte, lullte sie ein und ließ sie rasch schläfrig werden. Als sie ihre Wange in das Kissen schmiegte, stieg daraus der Duft von Pierres Hemd auf und zauberte ein seliges Lächeln auf ihre Lippen. Wie von selbst glitten ihre Finger zu dem weichen Stoff, zogen ihn hervor und pressten ihn an ihre Nase. Angelique atmete tief ein, ein Schnurren rollte durch ihre Kehle, das ihr gleich darauf peinlich war. Wie gut, dass niemand sie hörte.
Das Hemd duftete nach Kiefern, Moos und etwas Erdigem. Maskulin, aber gleichzeitig warm und Geborgenheit versprechend. Ihr Herz schlug ein paar Takte schneller, und sie drückte das Kleidungsstück fest an ihre Brust, als wäre es ein Geliebter, während sie sacht ins Land der Träume hinüberglitt. Dabei überwältigte sie das Gefühl, von starken Armen gehalten und an eine nackte Brust gezogen zu werden. Wärme breitete sich in ihrem Inneren aus, verdichtete sich zu einem lockenden Pulsieren in ihrem Schoß, das sie mit sich fortriss in einen schillernden Strudel, aus dem sie ganz allmählich wieder an die Oberfläche trieb.
Die Nachwirkungen ihres Traumes hielten Angelique noch gefangen, während die ersten Sonnenstrahlen ihre Nase kitzelten und sie langsam zwangen, dem Schlaf zu entsagen. Sie fühlte im Erwachen das Glühen ihrer Wangen und die Hitze zwischen ihren Beinen. Unbewusst biss sie sich auf die Lippen, klammerte sich noch einen Augenblick an das Gefühl, das ihren ganzen Körper erfüllte. Fast meinte sie, Pierres Hände wieder auf sich spüren können. So wie gestern am Fluss. Oder sogar noch näher – so wie vorhin …
Mit einem tiefen Atemzug kehrte sie langsam in die Wirklichkeit zurück. Dabei bemerkte sie, dass sie Pierres Hemd noch immer in ihren Armen hielt. Hastig fuhr sie hoch und lauschte. Aus der Küche drangen bereits leise Stimmen, aber es sah nicht so aus, als wäre schon jemand in ihrem Zimmer gewesen. Ein Glück.
Scham wallte in ihr auf. Es war nicht ihr erster Traum von Pierre gewesen, doch keiner zuvor war so intensiv und … lustvoll gewesen.
Eilig stopfte sie das Hemd wieder unter ihr Kissen. Für die kommende Nacht musste sie sich auf jeden Fall ein anderes Versteck suchen, damit ihre Gedanken sich nicht wieder auf eine derart unzüchtige Weise verselbstständigten. Gerade wollte sie aufstehen und das Bett machen, da hielt sie kurz noch einmal inne. Es stand außer Frage, dass sie Pierre das Hemd spätestens an Jul zurückgeben musste, aber vorher würde sich kaum die Gelegenheit ergeben. Also warum nicht ein besonderes Geschenk daraus machen? Die Idee gewann schnell an Kraft und auch die Entscheidung, wie genau sie dies umsetzen wollte. Mit einem breiten Grinsen schwang sie endgültig ihre Beine aus dem Bett, zog die Decke glatt und schlüpfte in ihre Kleidung. Danach legte sie frisches Holz auf die nur noch schwach glimmende Glut in ihrem Ofen und eilte dann in die Küche hinüber, um Margarete bei den Frühstücksvorbereitungen zu helfen.
„Na, da hat aber jemand gute Laune“, begrüßte die Haushälterin sie halb überrascht, halb amüsiert.
„Ich habe gut geschlafen“, erwiderte Angelique ausweichend, ehe sie sich daranmachte, den Tisch zu decken. „Wird Maman heute mit uns frühstücken?“
Margarete nickte zuversichtlich. „Ja, ich denke, die Grippe ist endgültig überwunden.“ Dann jedoch wanderten ihre Augen resigniert gen Himmel. „Sie spricht sogar davon, später in ihre Kräuterküche zu gehen, um Vorbereitungen für nächste Woche zu treffen. Es ist wirklich ihre Berufung, das Einzige, was sie wirklich erfüllt.“ Kopfschüttelnd und gleichzeitig voller Wärme sah die ältere Frau einen Moment vor sich hin.
Angelique wusste, wie sehr Margarete ihre Mutter liebte und dass sie sie auch ein bisschen um ihr Wissen und ihre Fähigkeiten beneidete.
„Ich würde heute Vater gern begleiten“, erwähnte Angelique möglichst beiläufig und hoffte, dass ihre Stimme dabei nicht ganz so nervös klang, wie sie sich fühlte. „Dann bringe ich auch gleich die Kräuter für Maman mit, und sie kann sich noch ein wenig schonen.“
„Ah, du bist neugierig, was für Waren gestern gekommen sind“, neckte Margarete sie und zwinkerte ihr zu. „Die Kräuter könnte auch dein Papa mitbringen, und ich glaube, das hat er deiner Mutter auch schon deutlich erklärt. Aber er wird sich ganz sicher freuen, wenn du mit ihm reitest.“ Es folgte ein leichtes Seufzen. „Du bist ihm Tochter und Sohn zugleich, weißt du das eigentlich? Er ist so stolz auf dich. Viel stolzer, als er sein dürfte. Auf ein Mädchen. Aber was rede ich da. Kann ja niemand was dafür, dass der liebe Gott beschlossen hat, dass du keine Geschwister mehr bekommst und sich Jacques’ ganze Hoffnung auf dich konzentriert. Ist schon recht. Ich finde es gut. Und mit dem Richtigen an deiner Seite wirst du schon zeigen, was eine Frau alles genauso gut kann wie ein Mann.“
Angelique musste schmunzeln. Solch rebellische Reden hörte man nicht oft von Margarete. Sie wusste, wie sehr es der Witwe zusetzte, dass sie ihr ganzes Leben lang von Männern abhängig gewesen war. Erst von ihrem Vater, dann von ihrem Mann und nun praktisch von Angeliques Vater als ihrem Brotgeber. Dabei hätte sie manche Entscheidungen sicher anderes getroffen, wenn sie eine Wahl gehabt hätte. Die Freiheiten, die sowohl Monique als auch Angelique genossen, waren ihr stets verwehrt worden. Jacques war entgegen der gängigen Gepflogenheiten nicht der Meinung, dass eine Frau zwingend weniger wert war als ein Mann und weniger Bildung erhalten sollte. Im Gegenteil, er war stolz darauf, dass Angelique den gleichaltrigen Jungen in nichts nachstand, was Rechnen, Schreiben und Lesen anbelangte. Oder die Kenntnisse über menschliche Körper, Geografie und sogar Sternenkunde. Dass diese Haltung nicht allerorts Anklang fand, war ihnen allen bewusst. Nichtsdestotrotz wusste Angelique die Vorteile zu schätzen, die ihr und ihrer Mutter dadurch gewährt wurden. Ob ein andersdenkender Mann Monique überhaupt zur Gemahlin erwählt hätte? Diese Frage brachte Angelique unweigerlich zur nächsten, nämlich wie Pierre wohl über gebildete Frauen dachte.
„Hey, du Träumerin. Die Eier hüpfen nicht von selbst in die Küche herein“, ermahnte Margarete sie. „Geh rasch in den Stall und hol welche. Dein Vater wird gleich herunterkommen. Und wenn du ihn begleiten willst, solltest du dich beeilen, denn die Wäsche von gestern ist trocken, und die wirst du erst noch zusammenlegen und wegräumen, bevor du das Haus verlässt.“
Natürlich war ihre Haushälterin ihr nicht wirklich weisungsbefugt, doch Angelique hatte großen Respekt vor ihr und kam daher den erteilten Aufgaben, ohne zu murren, nach. Als ihre Eltern sich an den Frühstückstisch setzten, war dieser bereits mit allem gedeckt. Frisches Brot und Käse, Butter und Holundergelee sowie vier hartgekochte Eier. Wie Margarete schon gesagt hatte, war ihre Mutter entschlossen, ihre Bestände an Kräutern, Tinkturen und Salben aufzufrischen, damit sie in der kommenden Woche wieder Krankenbesuche machen konnte, auch wenn Jacques darüber eher besorgt denn erfreut war. Dafür begrüßte er es, dass Angelique ihn ins Geschäft begleiten wollte. Während er noch einige Briefe verfasste, die später per Kurier an die jeweiligen Adressaten überbracht werden sollten, erledigte Angelique wie versprochen die Wäsche und ritt dann am späten Vormittag zusammen mit ihrem Vater zu den Lagerhäusern.
Die Geschäftsräume der Reniers lagen in Saint Renan, der nächst größeren Stadt, sodass sie beinah eine Stunde lang unterwegs waren. In ihrem kleinen Dorf hätte sich ein Handelslager nicht gelohnt, während in der Stadt regelmäßig Händler vorbeikamen und auch viele ortsansässige Läden ihre Waren bei Angeliques Vater bezogen.
Angelique machte der Ritt nichts aus. Sie genoss die frische Winterluft. Heute hatte sie sich wärmer angezogen als am Vortag. Flüchtig wanderten ihre Gedanken zu Pierre, und sie betete, dass er sich nicht doch eine Lungenentzündung geholt hatte mit seinem Leichtsinn. Nur mit halbem Ohr hörte sie ihrem Vater zu, der von den neuen Waren erzählte, die gestern aus Brest gekommen waren, und von den Plänen einen festen Handelspunkt in Paris einzurichten. Sie wusste, dass dies der Hauptgrund für seine Reise gewesen wäre, und fragte sich, ob Antoine ihn würdig vertreten hatte. Sollte dies so sein, und sollten sie künftig ein Warenhaus in Paris ihr Eigen nennen, würde ihr Vater sicherlich häufiger fort sein. Diese Erkenntnis machte sie traurig. Vielleicht würde er sie das eine oder andere Mal mitnehmen. Paris war für ein Mädchen vom Lande, wie sie es war, eine aufregende Vorstellung. Ein wenig beängstigend, aber unleugbar verlockend mit all den vielen Attraktionen, die es zu bieten hatte.
„Na, träumst du schon wieder, mein Kind?“
Die warme Stimme ihres Vaters klang nach mildem Spott, sein Lächeln indes war liebevoll.
„Ein wenig“, gestand sie, und war froh, dass diese Träume sich auf die große Hauptstadt und nicht auf einen bestimmten jungen Mann bezogen hatten, sonst würden ihre Wangen gerade zweifellos verräterisch glühen.
Entspannt trotteten die beiden Pferde durch den frisch gefallenen Schnee, und Angelique und ihr Vater schwiegen eine Weile. Ein alter Mann mit einem holzbeladenen Karren und zwei weißen Boulonnais-Pferden davor kam ihnen entgegen. Er grüßte sie. Angelique erkannte in ihm Julien Marceau, der für den Comte de Frené Holz in den Wäldern schlug und mit seinen Kaltblütern herauszog. Eine schwere und nicht ungefährliche Tätigkeit. Dennoch hatten ihre Eltern, als sie noch ein Kind gewesen war, ein paar Mal erlaubt, dass sie Julien begleitete. Damals war er noch mit seinem Sohn Henri in den Wald gefahren, und rückblickend glaubte Angelique, dass es den Erwachsenen wohl darum gegangen war, die beiden Kinder einmal einander zu versprechen. Doch vor anderthalb Jahren war Henri verunglückt und zwischen zwei Stämme geraten. Julien hatte seinen Tod nie ganz verwunden. Vor allem, weil seine Frau ihrem Sohn aus Gram wenig später gefolgt war. Seitdem galt er als eigenbrötlerisch und unterhielt nur noch die nötigsten Kontakte. Beklommenheit machte sich in Angelique breit. Sie blickte Julien über die Schulter nach, nachdem er sie passiert hatte, und verspürte Mitleid mit ihm.
„Er ist nie wieder der Alte geworden“, meinte ihr Vater seufzend.
„Wen wundert es?“, gab sie leise zurück. „Wenn Maman und ich gestorben wären, würde es dir kaum anders gehen, oder?“
Jacques schüttelte den Kopf. „Ich würde mein Leben für das eure geben. Euch zu verlieren würde mich zerstören.“
Sie schluckte und erwiderte nichts mehr. Erleichtert atmete sie auf, als sie bald darauf das kleine Städtchen erreichten und wenig später ihr Warenlager in Sicht kam.
Viele der am Vortag angelieferten Kisten und Körbe standen noch in den Gängen und mussten registriert und eingeräumt werden. Sie waren mit mehreren Wagen direkt vom Hafen in Brest hierhergebracht worden. Ihr Vater teilte sich mit zwei anderen Kaufleuten ein Handelsschiff. Allein hätte er sich den großen Dreimaster nicht leisten können, aber die Exklusivität seiner Waren aus Übersee garantierten ihm einen treuen Kundenstamm, und gerade die fahrenden Händler wussten um die Schätze, die sie regelmäßig bei ihm erwerben konnten.
Auch wenn Jacques Renier einen kleinen Laden neben dem Lager hatte, in dem er seine Stammkunden direkt bediente, wurden die meisten Waren hier nur zwischengelagert und an Händler weiterverkauft. Das ging aber nur, wenn sie zuvor gewissenhaft in die Bestandsbücher eingepflegt worden waren. Daher brachte Angelique den halben Tag damit zu, genau dies zu tun, und die andere Hälfte damit, ihrem Vater zu helfen, die noch nicht verstauten Waren einzuräumen. Außer ihnen beiden waren noch zwei Angestellte da, und so kamen sie gut voran. Sie unterbrachen die Arbeit erst, als kurz vor Sonnenuntergang Antoine das Lager betrat. Tatsächlich war er einen Tag früher als erwartet aus Paris zurück und kam mit guten Nachrichten. Seine dunklen Locken unter dem Dreispitz waren reichlich zerzaust und seine Kleidung schlammbespritzt. Sein Pferd sah kaum besser aus, und Jacques wies Marcier, einen der beiden Angestellten, an, das Tier in den Mietstall zu bringen und dort versorgen zu lassen. Danach zog er sich zusammen mit Antoine in sein Büro zurück, um die Einzelheiten der Reise und der in Paris geschlossenen Verträge zu besprechen. Diese Gelegenheit nutzte Angelique, um sich allein im Lager umzusehen. Schließlich suchte sie nach etwas Bestimmtem, um Pierre de Frené ein würdiges Julgeschenk zu bereiten.
Der Duft von Gewürzen, Tabak, Spirituosen und Stoffen lag in den Räumlichkeiten. Angelique liebte es fast so sehr wie die Kräuterküche ihrer Mutter, aber nur fast. Versonnen ließ sie ihre Finger über ein paar Seidenbahnen gleiten, aus denen sicherlich einmal festliche Kleider entstehen würden. Das, was sie suchte, fand sie in einem der Regale hinter den Tischen mit den Stoffen. Hochwertiges Garn und filigrane Nadeln, mit denen man wundervolle Stickereien anfertigen konnte. Sie entschied sich für zweierlei Fäden – einer silbern wie Feenhaar und einer dunkelblau wie der nächtliche Himmel. Dazu ein kleines Kästchen mit mehreren Nähnadeln unterschiedlicher Größe. Als ihr Vater endlich mit Antoine die Treppenstufen von seinem Büro herunterkam, hielt sie ihm mit strahlenden Augen ihre Schätze entgegen. „Vater? Darf ich die haben? Ich würde gerne jemandem ein Geschenk anfertigen.“
Verblüfft blieb Jacques vor ihr stehen und musterte ihre Wahl. „Soso, ein Geschenk. Darf ich erfahren, für wen und zu welchem Zweck?“
Eine leichte Röte überzog ihre Wangen. Lügen machte keinen Sinn, er würde ihr nicht nachgeben, ohne den Grund zu kennen, und dieser musste glaubwürdig sein. Außerdem würde sie es ohnehin nicht lange vor ihm verbergen können, da sie das Geschenk wohl kaum im Geheimen übergeben konnte.
„Nun, wir sind an Jul doch bei den Frenés eingeladen. Und da dachte ich … es wäre vielleicht eine nette Geste, wenn ich Pierre … Du weißt, wir kennen uns schon lange und … na ja, wir haben uns immer gut verstanden.“
Ein Schmunzeln glitt über die Züge ihres Vaters. „Ah, ich verstehe. Nun ja, wenn eine junge Dame einem … Freund eine Freude machen möchte, sollte man es ihr wohl nicht verwehren.“
Antoine räusperte sich amüsiert, woraufhin Angelique ihm einen bösen Blick zuwarf. Er hob sogleich beschwichtigend die Hände. „Keine Sorge, Mademoiselle Angelique, ich kann schweigen wie ein Grab.“
Nun lachte Jacques, klopfte seinem Protegé auf die Schulter und nahm Angelique in den Arm. „Ich kann mir schon denken, was dich besorgt. Margarete ist ein Plappermaul. Aber deine Einkäufe sind ja klein genug, dass du sie ungesehen in dein Zimmer schmuggeln kannst.“ Er zwinkerte ihr zu. „Gott weiß, die gute Seele würde sofort wieder das Schlimmste vermuten, dabei stimmt es ja, dass ihr seit Kindertagen wie Bruder und Schwester seid.“
Sie nickte hastig und senkte den Blick in der Hoffnung, dass dann keiner der beiden Männer in ihren Augen lesen konnte. Bruder und Schwester war so gar nicht das, was sie im Kopf hatte, wenn sie an Pierre dachte, und ihm musste es wohl ähnlich gehen nach dem Geschehen gestern am Fluss. Wann hatten sich die Gefühle bloß verändert? Oder lag es daran, dass sie sich seit letztem Jul kein einziges Mal allein gesehen hatten bis zu ihrer Begegnung gestern? Früher waren sie häufiger gemeinsam durch Feld, Wald und Wiesen gelaufen, während ihre Eltern Geschäftliches miteinander besprachen. Oder sie hatten sonntags nach der Messe noch einen Ausritt zusammen unternommen. War die Unschuld und Unbefangenheit in ihrer Zuneigung dadurch verloren gegangen, dass ihre Begegnungen nur mehr förmlich und unter wachsamen Augen stattgefunden hatten?
In ihrem Herzen wusste Angelique es besser. Sie waren erwachsen geworden, alle beide. Das mochte ihn ebenso verunsichert haben wie sie. Aber jetzt … Ein Lächeln glitt über ihre Züge. Da war nichts Unsicheres an ihm gewesen, als er ihre Hände auf seine nackte Brust gelegt hatte. In ihr setzte ein Begreifen ein, das Schmetterlinge in ihrem Leib flattern ließ und ihre Hoffnung nährte.
„Angelique“, sprach ihr Vater sanft und fasste ihre Schulter. „Lass uns heimreiten. Es ist schon spät, Mutter macht sich sicher Sorgen.“
Er nickte Antoine noch einmal zu, der später das Lager abschließen würde, ehe er sich in seine kleine Wohnung oben unter dem Dach zurückzog.
Der Wald war still und sie waren es auch, während sie in der Dunkelheit den Rückweg antraten. Hin und wieder glaubte Angelique sich beobachtet, doch das waren nur wilde Tiere, dessen war sie gewiss. Und mit ihrem Vater neben sich verspürte sie ohnehin keine Angst. Unbehelligt und sicher erreichten sie den heimatlichen Hof, wo sie schon erwartet wurden.