Читать книгу Dich habe ich mir nicht gewünscht - Tara McKay - Страница 5
Kapitel 2
ОглавлениеIch starre an die Zimmerdecke und entdecke ein kleines Loch wenige Zentimeter neben dem Lampenauslass. Dad hat es gebohrt, weil er meinte, dass der Kristalllüster aus bunten Plastikkristallen dort hängen sollte. Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass ich ihm als Fünfzehnjährige die Hölle heiß gemacht habe, weil ich der Meinung war, dass das nicht mittig sei. Tatsächlich hatte ich lieber ein Loch in der Decke in Kauf genommen und ihn an der Stelle bohren lassen, die ich für richtig hielt. Wenn ich jetzt darüber nachdenke, fühle ich mich irgendwie schlecht.
Möglicherweise warst du eine ganz schöne Zicke als Teenager, sage ich zu mir selbst und wenn ich so an Emma denke, dann hat sie das wohl von mir geerbt. Sie hat ihren eigenen Kopf, ihre Vorstellungen und das muss auch alles so durchgesetzt werden.
Mir wird ein wenig übel, wenn ich darüber nachdenke, dass ich ihr sagen muss, dass wir nicht nach Bologna zurückkehren. Aber dafür habe ich noch ein wenig Zeit. Bloß nichts überstürzen. Vielleicht ist mir auch einfach nur von Dads Whisky flau im Magen.
Ich frage mich, wann aus der Zicke Anna die brave folgsame Anna wurde, die, wann immer etwas in der Familie schief lief, die ganze Schuld auf sich nahm. Ich glaube, es muss angefangen haben, als ich mit Emma unerwartet schwanger wurde und sowohl meine Eltern, als auch die von Matteo ziemlich vorwurfsvoll meinten, wie mir das habe passieren können. Als wäre ich alleine an der ganzen Angelegenheit beteiligt gewesen…
„Kommt ihr zum Frühstück?“, blökt Dad durch das ganze Haus.
Ich sehe auf meine Fitbit-Armbanduhr (ich bin nicht wirklich sportlich, ich tue mit der Uhr aber gerne so als ob), blinzele kurz und schaue dann nochmal genauer hin.
Sieben Uhr? Ist das sein Ernst?
Emma wird ihren Grandpa fressen, wenn er sie um diese Zeit weckt. Wie gesagt, sie schläft für gewöhnlich morgens wie ein Murmeltier, ist manchmal kaum wachzubekommen und wenn ich es dann wider Erwarten doch schaffe, herrscht sie mich ungehalten an.
Ich schwinge die Beine weit dynamischer aus dem Bett als ich mich fühle, schlüpfe in meinen alten pinken Plüschmorgenmantel den ich zu meinem siebzehnten Geburtstag bekommen habe, und trete in den Flur hinaus, wo ich fast mit meiner Tochter zusammenstoße, die gerade aus dem Badezimmer kommt. Gewaschen, angezogen und dem Summen nach bester Laune, die dunklen Locken noch feucht vom Duschen.
„Oh!“ Mehr fällt mir beim besten Willen nicht ein.
„Was?“ Ihre gute Laune ist wie weggeblasen, als sie mich sieht.
„Nichts“, sage ich wohlweislich, dann kann ich es mir doch nicht verbeißen, noch hinzuzusetzen: „Zuhause würdest du niemals um diese Uhrzeit aufstehen.“
„Tja, leider sind wir ja nicht zu Hause.“
„Naja, wenn du hier morgens schon bester Laune bist und vor sieben Uhr sogar duschen gehst, dann gefällt es mir hier besser.“
„Mir nicht.“
Emma verschränkt die Arme und sieht mich herausfordernd an. Und ich würde mich am liebsten ohrfeigen. Manchmal nervt es sogar mich selbst, dass ich mich so biestig an einem Thema festbeißen kann.
„Was verschafft uns dann die Ehre deiner morgendlichen Anwesenheit?“
„Ich bin nur so früh aufgestanden, weil Grandpa mit mir und Nathan zum Strand fahren will.“
„Mit Nathan und mir“, verbessere ich automatisch.
Belohnt werde ich mit einem Augenrollen. Ich kann es ja irgendwie verstehen, mich hat das bei meinem Dad früher auch aufgeregt, wenn er mich verbessert hat. Jetzt mache ich es genauso. Ich habe wohl mehr von ihm, als mir lieb ist.
Emma flüchtet vor mir die Treppe hinunter und ich ziehe mich ins Badezimmer zurück, wo ich erstmal in den Spiegel blicke und die müde aussehende Frau anstarre, die ich kaum wiedererkenne.
Bin das wirklich ich?
Ich sah wirklich schon mal besser aus. Meine Haut ist blass, die Augen liegen tief in ihren Höhlen und mein Gesicht sieht ausgezehrt aus. Ich habe seit Ewigkeiten nicht mehr richtig gegessen (der Scone gestern war die Ausnahme und ich schreibe meinen Appetit der Meerluft zu). Meine Mahlzeiten bestanden in letzter Zeit aus Kaffee, Wasser und kleinen Bröckchen, die ich vom Teller meiner Kinder naschte, nur um zu merken, dass ich keinen Hunger hatte.
Wenn Nathan und Emma im Bett waren, habe ich mich mit einer Flasche Wein aus unserem gut bestückten Weinregal ins Schlafzimmer zurückgezogen, um nicht mit Matteo im Wohnzimmer sein zu müssen - und um zu vergessen, was er getan hat.
Seit Wochen fühlt sich mein Leben unwirklich an - das Karussell dreht sich viel zu schnell für mich, hat mich abgeworfen und ich weiß nicht, ob ich den Mut habe, nochmal aufzusteigen.
Mit kräftigen Strichen ziehe ich die Bürste durch die nackenlangen, blondgefärbten Haare, bei denen der dunkle Ansatz schon viel zu deutlich zu sehen ist. Ein Friseurbesuch ist dringend nötig.
Können wir uns das überhaupt noch leisten?
Ich schüttle den Kopf, weil ich nicht darüber nachdenken möchte und mache mich daran, mein Make-up sorgfältig aufzutragen, damit niemand sehen kann, wie schrecklich ich wirklich aussehe – ich könnte Frankensteins Braut geben, wenn schon Halloween wäre. Wegen den Haaren wird mir schon etwas einfallen. Vielleicht gehe ich heute in die Stadt, wenn Dad mit den Kindern an den Strand fährt, und sehe nach was Färben im lokalen Friseursalon kostet.
Unten sitzt die Familie bereits einträchtig am Esstisch. Nathan löffelt ganz selbstverständlich eine Schüssel Porridge, obwohl er das in seinem Leben noch nie gegessen hat. Zu meinem Erstaunen isst Emma ebenfalls den von ihrem Großvater zubereiteten Haferbrei, sie hat sich zusätzlich ein paar Blaubeeren in die Schüssel geworfen und fragt Dad gerade darüber aus, ob Porridge gut für ihre Figur ist. Armer Dad. Ich glaube nicht, dass er darauf eine Antwort hat. Dementsprechend eiert er auch um die Frage herum.
„Ihr fahrt zum Strand?“, frage ich zur Ablenkung vom Thema und setze mich zu Tisch, wo bereits eine Schüssel für mich wartet.
Es ist nicht so, dass ich Porridge nicht mag, aber momentan fühlt sich mein Magen so an, als würde ein Matrose Knoten üben. Ständig ist mir übel und ich habe auch jetzt keinen Appetit, weswegen ich auch nur so tue, als würde ich essen. Dad bemerkt, dass ich nur den Löffel ab und zu eintauche, runzelt die Stirn, sagt aber nichts dazu – wofür ich außerordentlich dankbar bin.
Ob ich esse oder nicht, ich habe die schlanke Linie der McDonalds geerbt, denn obwohl mein Vater groß und massiv wirkt, ist kein Gramm Fett an ihm und ebenso ist es bei mir. Was jetzt den Nachteil hat, dass meine unfreiwillige Hungerkur mich schneller wie ein rappeldünnes Skelett aussehen lässt.
„Sicher kann man nicht ins Wasser gehen, aber vielleicht bauen wir ja eine Sandburg“, meint Dad.
Emma lächelt Nathan an, der sich laut jubelnd freut und seinen Großvater mit Fragen nach Schaufeln und Sandförmchen bestürmt.
„Bei Nonno und Nonna in Rimini haben wir ganz viel davon“, erzählt er.
„Grandma hatte immer einen Eimer mit einer kleinen Schaufel in der Garage“, erinnert sich Emma.
Ihr Gedächtnis ist phänomenal, schließlich muss es einige Jährchen her sein, dass sie damit gespielt hat. Aber schlau ist sie, deswegen mache ich mir auch keinerlei Sorgen, dass sie hier in Schottland auf der Schule nicht mithalten kann.
„Ich werde in die Stadt gehen und sehen, was sich in Sheemore alles verändert hat“, werfe ich ein.
„Das kann ich dir schnell beantworten“, lacht Dad. „Nichts. In Sheemore hat sich seit Jahrzehnten nichts verändert. Etwas außerhalb, Richtung St. Monans, haben sie jedoch einen Supermarkt gebaut.“
Er verzieht angewidert das Gesicht. Mein Vater ist kein besonders moderner Mann und obwohl ein Supermarkt hier schon immer dringend nötig war, sieht er das wahrscheinlich ganz anders.
„Hat Eve Smithers immer noch den winzigen Friseurladen am Marktplatz?“
„Aye. Hat sie. Willst du dir die Haare machen lassen?“
Ich sehe, wie Dad mich mustert. Ihm fällt nicht so schnell auf, wenn eine Frau dringend zum Friseur muss, aber jetzt, wo ich ihn darauf aufmerksam gemacht habe, sieht er doch ziemlich kritisch drein und selbst er muss den gut zwei Zentimeter großen, dunklen Ansatz sehen.
„Kann sein. Ich überlege noch“, murmele ich und rücke dann meinen Stuhl zurück, um mich in mein Zimmer im Dachgeschoss zurückzuziehen.
Als ich schon am Fuße der Treppe bin, kommt Dad mir hinterher. Ohne Worte nimmt er meine Hand und legt einen Geldschein hinein. Vor Verlegenheit schaue ich nicht mal hin und schließe die Finger darum.
„Danke, Dad.“
Ich hauche ihm schnell einen Kuss auf die kratzige Wange und verschwinde dann hastig die Treppe hinauf. Als ich meine Hand öffne, sieht mir Lord Archibald Campbell entgegen, der Gründer der Bank of Scotland. Mir treten Tränen in die Augen, als ich die Zahl auf dem Geldschein lese. Ein Haarschnitt plus Färben kostet bei Eve Smithers keine hundert Pfund, das weiß sogar mein etwas weltfremder Vater und dennoch scheint er zu ahnen, dass ich das Geld momentan gut brauchen kann.
Es ist ein sonniger Tag, der die schönste Seite von Sheemore zum Vorschein bringt. Nur wenige Menschen tummeln sich hier und da, während ich durch die Stadt schlendere. Die kleinen Fischerhäuser, die sich an der Uferpromenade reihen, habe ich bereits hinter mir gelassen und sehe mich nun mit dem Staunen eines Menschen, der erkennt, dass er den einen Ort auf Erden gefunden hat, wo die Zeit für immer still steht, auf dem Marktplatz um. Alles wie immer.
Das winzige, schmale Häuschen von Eve Smithers und ihrer Schwester Carol schmiegt sich eng an das der Grahams. Ich starre die Bäckerei eine ganze Weile an, traue mich aber nicht, den Laden zu betreten. Was sollte ich auch sagen? „Hallo Jo, wir haben uns seit rund dreizehn Jahren nicht gesehen oder gehört, aber da bin ich wieder!“ Nein, das geht auf gar keinen Fall. Ich werde einen großen Bogen um Graham‘s machen und bei dem Supermarkt einkaufen, den Dad erwähnt hat.
Stattdessen halte ich auf das schmiedeeiserne Schild zu, auf dem in schnörkeligen Lettern Scissor Sisters steht.
Am Empfang erwartet mich bereits Eves Schwester Carol, die mich erwartungsgemäß nicht erkennt. Carol Smithers ist wortkarg und mürrisch, außerdem kann sie sich viele Dinge nicht merken, darunter Gesichter. Menschen, die sie nicht regelmäßig sieht, erkennt sie meist nicht wieder – vielleicht tut sie aber auch nur so, weil sie wirklich nur ungern mit anderen spricht. Ein Verdacht, den nicht nur ich hege.
Als Kind hatte ich immer ein wenig Angst davor, von ihr mit Haut und Haaren gefressen zu werden, was sicher an den Erzählungen über die bösen Feen liegt, die mir mein Großvater abends am Feuer vorlas. Eine Illustration einer besonders bösartigen Fee, die auch niemals mit den Menschen sprach, sah Carol leider auch noch so ähnlich, dass diese Vorstellung von ihr sich lange in meine Teenagerjahre gehalten hat.
Am Empfang eines Friseurgeschäftes ist sie sicher nicht besonders gut platziert mit ihrer abweisenden Art, aber ich muss eingestehen, dass es dennoch rührend ist, wie Eve ihre Schwester miteinbezieht. Carol ist ein wenig langsam, dazu ihre eigenbrötlerische Art… Sagen wir einfach, es ist ein Segen, dass sie ihre große Schwester hat.
Jetzt betrachtet sie mich finster von oben bis unten.
Sie ist alt geworden in den letzten vierzehn Jahren, schießt es mir durch den Kopf.
Aber das ist ja auch völlig normal, schließlich muss sie ungefähr im selben Alter sein wie mein Dad. Allerdings wirkt sie wesentlich älter. Ganz anders ihre quirlige Schwester Eve, die jetzt förmlich auf mich zugestürzt kommt. Eingehüllt in eine Wolke Chanel Nr.5 – ein Klassiker unter den Parfüms, wie meine Mum stets zu sagen pflegte. Miss Smithers betrachtet mich von oben bis unten, legt die perfekt manikürten Finger theatralisch an die Wangen und sieht mich mit großen Augen an, als wäre ich eine Erscheinung.
„Anna McDonald?“
„De Luca“, korrigiere ich sie automatisch.
„Ach ja.“ Sie winkt ab, als wäre das nebensächlich. Was es tatsächlich gerade ist. „Was kann ich für dich tun, Schätzchen?“
Schätzchen…
Ja, das ist Eve Smithers, wie sie leibt und lebt. Sie sieht aus wie eine in die Jahre gekommene Marilyn Monroe und alle Menschen heißen bei ihr nur ‚Schätzchen‘, gerade so, als sei sie einem alten Hollywoodstreifen entstiegen.
„Hätten Sie heute Zeit mir die Haare zu färben?“, frage ich verlegen.
„Der Ansatz sieht aus, als hättest du ihn seit Monaten vernachlässigt“, schimpft sie, zwinkert mir jedoch gutmütig zu.
Ich lasse mich von ihr zu einem Stuhl bugsieren und genieße es, wie sie vor sich hin schnattert, ohne zu erwarten, dass ich antworte. Stattdessen lehne ich mich in dem Friseurstuhl zurück und hoffe, dass Eve Smithers meinen Haaren zu neuem Glanz verhilft.
Carol beobachtet uns argwöhnisch von ihrem Posten am Empfangstresen aus, dabei scheint sie immer wieder vor sich hin zu murmeln. Kein Wunder, dass ich sie als Kind immer etwas merkwürdig fand.
Es ist seltsam wieder hier zu sein, wo ich mit gerade mal siebzehn Jahren meine erste Dauerwelle bekam – nach der ich mich in mein Zimmer einsperrte und heulte wie ein Schlosshund, weil ich wie ein Königspudel aussah.
Während meine Haare mit Blondierungscreme behandelt werden, quasselt Eve fröhlich über Klatsch und Tratsch aus Sheemore. So erfahre ich, dass Jo mit ihrem langjährigen Freund, einem hiesigen Fischer, über der Bäckerei wohnt.
„Gordon Jameson?“ Ich schiebe den Namen eine wenig in meinem Kopf hin und her, doch es ist niemand, den ich kenne.
„Er ist der Enkel des alten Hamish Jameson. Seine Tochter ist in den 80er-Jahren nach London abgehauen und hat einen unehelichen Sohn bekommen. Vor etwa zehn Jahren stand er plötzlich vor Hamishs Tür und wollte seinen Grandpa kennenlernen. Kannst du dir das vorstellen?“
Irgendwie schon. Ich bin vor vierzehn Jahren auch einfach abgehauen. Nicht nach London, sondern auf den Kontinent. Ich war schwanger und der Meinung, meine große Liebe gefunden zu haben. Aber das scheint in einem anderen Leben gewesen zu sein. Es ist alles so unwirklich, dass es genauso gut jemand anderem passiert sein könnte.
„Muss für Hamish ein großer Schreck gewesen sein“, sage ich.
„Und wie!“ Eve reißt die strahlend blauen Augen weit auf. „Aber irgendwie war`s auch ein Glück für ihn. Gordon ist ein guter Kerl. Er ist nun ebenfalls Fischer, wie sein Grandpa vor ihm. Wem hätte Hamish auch sein Boot vermachen sollen, wenn er nicht aufgetaucht wäre?“
„Hm“, murmele ich undeutlich.
„Bist du hier, um das Da Paola zu übernehmen?“, fragt Eve neugierig, während sie die altmodische Trockenhaube hinter meinen Stuhl schiebt und einstellt.
Ich könnte nicht irritierter sein, wenn sie mich gefragt hätte, ob ich dem chinesischen Staatszirkus beitreten möchte.
„Das Da Paola?“
„Das Restaurant deiner Mutter steht seit so langer Zeit leer, es ist eine Schande.“
„Aber Dad hat es verkauft“, protestiere ich schwach, aber irgendwie ahne ich schon, dass mir Dad in dem Punkt einen Bären aufgebunden hat.
„Verkauft? Schätzchen, das würde dein Vater niemals übers Herz bringen. In dem Restaurant steckt das Herzblut deiner Mutter.“
Irgendwie bin ich froh, als in diesem Moment die Glocke klingelt und einen neuen Kunden ankündigt. Ich sehe Eve nach, die auf ihren Pumps zum Eingang stöckelt, mit einer bemerkenswert guten Figur für Mitte Sechzig, wie ich finde. Wie betäubt starre ich ihr hinterher.
Nur eine Seitenstraße weiter befindet sich das Da Paola, das italienische Restaurant meiner Mutter. Wie selbstverständlich habe ich angenommen, dass mein Vater mir die Wahrheit gesagt hat, als er meinte, er habe es verkauft. Nur um jetzt herauszufinden, dass das nicht stimmt. Aber vielleicht ist Eve auch nicht auf dem Laufenden – was ich mir jedoch kaum vorstellen kann, ist ein Friseursalon doch die Brutstätte des kleinstädtischen Klatsches.
Ich schüttele entschieden den Kopf, der von der scharfen Blondierungscreme ein wenig brennt und nehme mir fest vor, nach diesem Friseurbesuch die Straße hinauf zu laufen, um nach dem Restaurant zu sehen. Sofern ich an den giftigen Dämpfen der Blondierung nicht vorher sterbe. Das Zeug riecht nicht nur höllisch, sondern sendet Hitze von meiner Kopfhaut in meinen gesamten Körper.
Kurz denke ich wehmütig an Bruno, einen begnadeten Haarkünstler, der nur mit den exklusivsten Produkten arbeitet und der sein Geschäft im Zentrum von Bologna hat, nahe unserer Wohnung. Aber dann fällt mir ein, dass ich mir seine Dienste sowieso nicht mehr leisten könnte, außerdem lebe ich jetzt hier und so ergebe ich mich meinem Schicksal mit dem Trost, dass Eve Smithers meines Wissens nach noch niemanden umgebracht hat mit ihren Blondierungen. Ihre Dauerwellen stehen selbstverständlich auf einem ganz anderen Blatt, aber zum Glück bin ich aus dem Alter raus, da ich eine Frisur wie Alyssa Milano in den 90er-Jahren haben wollte.
Auch wenn es im Inneren des Ladens dunkel ist, kann ich erkennen, dass alles wie immer aussieht. Im vorderen Bereich stehen runde, sowie eckige Tische aus Rohr, mit dazu passenden Stühlen mit einer Bespannung aus Wienerstroh, hinten glänzt der Tresen aus dunkler Eiche. Es sieht sauber und ordentlich aus, sogar Tischdecken liegen auf, gerade so, als wenn das Restaurant nur darauf warten würde, dass jemand kommt und es für das Mittagsgeschäft öffnet. Neben mich stellt sich eine Familie, an ihren Wanderrucksäcken identifiziere ich sie als Touristen.
„Ist das Restaurant offen?“, fragt mich die Frau mit einem unverkennbaren italienischen Akzent.
„Nein“, antworte ich knapp.
„Schade.“ Sie sieht enttäuscht aus, genauso wie der Rest ihrer Familie.
Am liebsten würde ich sie anblaffen, dass sie doch wohl nicht in Schottland Urlaub macht, um dann in einem italienischen Restaurant das zu essen, was sie zu Hause auch bekommt, halte mich dann aber zurück. Das geht mich nichts an. Außerdem kann die Familie nichts dafür, dass es für mich wie ein Schock ist, das Restaurant so zu sehen.
Genauso, wie es bei meiner Mum früher war. Stets ordentlich und sauber und mit einem einladenden italienischen Charme, der ein wenig altmodisch wirkt mit seinen Tropfkerzen und den rot-karierten Tischdecken. Meine Mum war eine Chaotin hoch zehn, aber ihr Restaurant hatte immer etwas von einem auf Hochglanz polierten Schmuckstück – wenngleich es in meinen Augen jetzt doch ein wenig in die Jahre gekommen ist.
„Etwas die Straße hinunter, fast direkt am Hafen, kommt ein Pub, das immer sehr gutes Essen hat“, vertröste ich die italienische Familie. „Halten Sie nach dem Fairytale Ausschau.“
Sie verabschieden sich mit einem höflichen ‚Danke‘, murren dann aber auf Italienisch, dass das schottische Essen ungenießbar sei. Ich grinse in mich hinein und verdrehe dabei innerlich die Augen. Typisch Italiener! Matteo ist genauso, er will immer nur italienisches Essen. Er ist der festen Überzeugung, dass alles andere sowieso nicht schmeckt, obwohl er es gar nicht erst versucht.
Als mein Handy einen lauten Ton von sich gibt, zucke ich zusammen. Ich dachte, ich hätte es auf leise gestellt, aber nun gut. Ich fische es aus meiner Handtasche und starre das Display ungläubig an. Dabei war es doch nur eine Frage der Zeit, wann er sich melden würde. Ich weiß nicht, warum es mich trotzdem dermaßen schockt.
Cara mia, bitte melde dich bei mir. M.
Wenn man vom Teufel spricht… Meine Hände beginnen augenblicklich zu zittern, während ich das Handy ansehe und nicht wage, etwas zurückzuschreiben.
Ich hatte Matteo gebeten, mich für eine Weile in Ruhe zu lassen, mir keine SMS, Whatsapp-Nachrichten oder sonst irgendwas zu schicken. Und dennoch wusste ich, dass er sich nicht daran halten würde. Aber ich werde ihm nicht zurückschreiben. Das ist das Einzige, was ich tun kann. Womöglich wird er mich mit Nachrichten überfluten – ziemlich wahrscheinlich sogar -, aber ich muss sie einfach nur ignorieren. Irgendwann wird er schon merken, dass ich Abstand brauche.
Verdammt! Es ist gerade mal ein Tag seit meiner Abreise vergangen! Das versteht er unter ‚eine Weile in Ruhe lassen‘?
Ich lasse das Handy zurück in meine Handtasche fallen, als wäre es eine heiße Kartoffel.
Mein Kopf ist so voll, als wolle er jeden Moment platzen, die letzten Wochen stehen mir plötzlich wieder vor Augen, als müsste ich sie erneut durchleben. Natürlich ist mir bewusst, dass ich irgendwann mit Matteo reden muss, es gibt bezüglich unserer Trennung noch viel zu regeln. Aber gerade jetzt habe ich nicht die Kraft dafür.
Mein erster Impuls ist, gegen die Tür des Da Paola zu drücken, um zu meiner Mum zu laufen, mich an sie zu schmeißen und den ihr eigenen beruhigenden Geruch nach mediterranen Kräutern und ihrer Seife ‚English Rose‘ von Yardley einzuatmen. Doch als ich ganz automatisch nach der Türklinke greife, wird mir gleichzeitig bewusst, dass da drinnen keine Mum wartet, die ihre Arme um mich legt und mich an ihren weichen Busen drückt, um mir zu sagen, dass alles gut wird.
Die zitternde Hand immer noch am Türgriff, ergreift mich plötzlich eine lavaartige Wut, die glühend heiß in mir aufsteigt. Auf Matteo und seine Familie, die mit der ihr typischen Arroganz das Leben meiner Kinder zerstört haben. Auf Mum, weil sie einfach ohne jede Vorwarnung aus meinem Leben verschwunden ist und mir meinen sicheren Hafen genommen hat. Und auf Dad, weil er mich wegen dem Restaurant belogen hat – und das, obwohl ich Stein und Bein hätte schwören können, dass Malcolm McDonald der ehrlichste Mensch auf Erden ist. Wie konnte er es wagen, meine Blase dermaßen platzen zu lassen? Wie konnten sie es alle wagen?
Mit rechtschaffenem Zorn erfüllt stapfe ich los und folge der italienischen Familie die Straße hinunter, wo sie ins Fairytale eingekehrt sein dürften. Ich habe keinen großen Appetit, aber ich spüre das deutliche Verlangen nach einem großen Glas Wein – oder zwei. Dass es erst halb eins ist, ignoriere ich einfach geflissentlich. Es gibt Situationen, die nach Wein schreien – so lange es kein Barolo ist, das ist nämlich Matteos Lieblingswein. Allerdings laufe ich sicher nicht Gefahr, in einem verschlafenen Städtchen wie Sheemore im einzigen Pub weit und breit einen Barolo zu entdecken. Über einen billigen Chianti hingegen würde ich mich nicht wundern.
Die italienische Familie winkt mir fröhlich zu, als sie mich entdeckt. Ich erhebe ein wenig schlaff die Hand, drehe ihnen dann aber den Rücken zu und stelle mich an den Tresen.
„Was kann ich bringen?“
Der Wirt, ein älterer Herr mit schlohweißem Haar und einem Gesicht, das an einen freundlich lächelnden Kobold erinnert, sieht mich an, als würde er überlegen, woher er mich kennt.
„Ein Glas Chardonnay“, antworte ich, weil ich schon aus Trotz lieber Weißwein trinke, laut Matteo ein absolutes Unding.
„Klein, mittel, groß?“
„Groß, definitiv.“
Mir ist entfallen, wieviel Milliliter ein großes Glas Wein in britischen Pubs hat, aber das ist gerade auch völlig unerheblich.
„Bitte.“ Der Wirt schiebt mir das Glas mit der hellgoldenen Flüssigkeit zu, die besser aussieht als erwartet.
Wieder sieht er mir prüfend ins Gesicht. Ich versuche mich an seinen Namen zu erinnern. Pat? Pete? Aber mir will im Moment einfach nichts einfallen. Mein Kopf ist voll und ich sehe immer wieder das verlassene Restaurant vor Augen.
Ich zahle gleich am Tresen und verziehe mich in die hinterste Ecke des Pubs, weit entfernt von der italienischen Familie, die mich sonst womöglich noch in ein Gespräch verwickelt. Von meinem Sitzplatz aus habe ich einen guten Blick zum Fenster hinaus, obwohl die Butzen ein wenig trüb und staubig sind.
Durch die enge Gasse kann man ein Stück vom Hafen sehen und ich nehme einen tiefen Schluck und beobachte ein kleines Schiff, das einfach so vor sich hin dümpelt. Wie mein bisheriges Leben. Es dümpelte dahin und ich überließ das Steuer bereitwillig meinem Ehemann. Ein fataler Fehler, wie ich jetzt weiß. Aber mir ist auch noch nicht so recht klar, wie ich das Steuer selbst in Griff kriegen soll.
„Ich war doch noch nie Steuermann“, grummele ich vor mich hin, weil ich mich in meiner Ecke alleine wähne.
„Bitte?“
Erschrocken zucke ich zusammen und blicke auf.
Ich erkenne die Frau nicht sofort, die vor mir steht, mit einem Pint bewaffnet – ich vermute Cider und nicht Ale, da es so hell und prickelnd aussieht. Ich habe seit Ewigkeiten keinen Cider mehr getrunken. Früher haben Jo und ich das prickelnde, leicht alkoholisierte Getränk geliebt, jetzt muss es schon mindestens Wein sein, um meine Stimmung zu heben.
Aber es ist nicht Jo, die da vor mir steht und verwundert auf mich hinunterblickt, als wäre ich ein Alien. Diese Frau ist groß, hat wallendes schwarzes Haar bis zum Hintern, ein hübsches herzförmiges Gesicht mit hohen Wangenknochen und eine verdammt ausladende Oberweite. Sie trägt eng anliegende schwarze Jeans, die ihre Kurven nicht verhüllen können, eine weiße Bluse und – trotz der sommerlichen Temperaturen – eine schwarze Bikerjacke. Ihre Haut hat diese vornehme britische Blässe, ganz im Gegensatz zu meinem olivfarbenen Teint – und ich bemerke viel zu spät, dass ich sie verwundert anstarre und der Mund offensteht, als wolle ich damit Fliegen fangen.
„Kayleigh MacDuff?“, frage ich schließlich vorsichtig.
„Ähm…ja?“
Sie mustert mich, ihr Blick bleibt an dem halbleeren Weinglas hängen. Ich sehe ihr an, dass sie genau weiß, wer ich bin. Aber kann ich Kayleigh wirklich verdenken, dass sie das gerne verdrängen würde? Ich war nicht nett zu ihr während unserer Schulzeit. Und das trifft es nicht mal annähernd.
„Kennen wir uns?“, fragt sie schließlich mit erhobener Augenbraue.
Ich wüsste wirklich zu gerne, wie man nur eine Augenbraue hebt, denke ich.
Ich weiß, das ist total unerheblich, aber es hat mich schon immer fasziniert, wenn jemand das konnte. So wie diese Hexe in ‚Sabrina – total verhext‘. Josephine und ich haben diese Serie rauf und runter geschaut. Ich kann mich gar nicht erinnern, dass Kayleigh das konnte. Andererseits habe ich Kayleigh MacDuff kaum eines zweiten Blickes gewürdigt, als wir noch zusammen zur Schule gingen.
„Ich bin’s. Anna. Anna De Luca.“
Sie ist gut. Sie lässt die Augenbraue einfach fragend nach oben gezogen. Aber ihre Augen können nicht verleugnen, dass sie mich wiedererkannt hat. Ich habe mich ja auch nicht groß verändert. Sie allerdings schon.
„Früher hieß ich McDonald“, füge ich noch an und da gibt sie ihre Tarnung auf.
„Ach, richtig“, antwortet sie knapp, dann deutet sie mit einem Kopfnicken auf den Stuhl vor sich. „Ist hier noch frei?“
Ich sehe mich kurz in dem gut gefüllten Pub um, als wolle ich einen besseren Tisch für sie erspähen, dann deute ich einladend auf den freien Platz.
„Ich kann nicht glauben, was du aus den Zimmern bei meinem Dad gemacht hast“, platzt es aus mir raus, kaum dass sie sitzt.
Ich kann auch kaum glauben, was du aus dir gemacht hast, will ich eigentlich sagen, aber das wäre dann doch zu unhöflich. In dem Moment bin ich ein bisschen froh, dass ich beim Friseur war und wenn es nur der etwas provinzielle Laden von Eve Smithers ist und das Platinblond leicht übertrieben aussieht.
Kayleigh stellt ihren Cider auf dem Tisch ab und mustert mich eingehend, bevor sie antwortet. Ich kann ihre Abneigung gegen mich aus jeder Pore ihres Körpers strömen sehen.
„Dein Dad war ein wenig verunsichert, was den Kindern gefallen könnte, deswegen bat er mich um Hilfe.“
„Ich befürchtete schon, er hätte Tapeten mit Tartanmuster irgendwo aufgetrieben, Claymores an die Wand genagelt und Highlandrinder als Kuscheltiere auf das Bett gelegt.“
„Das hätte er auch, denke ich“, sagt Kayleigh trocken. „Ich konnte ihn gerade noch davon abhalten.“
„Meine Dankbarkeit ist dir gewiss.“
Ich habe den Anstand ein wenig peinlich berührt zu sein. Ausgerechnet Kayleigh hat meinem Dad geholfen.
„Ich habe das gerne gemacht.“ Sie nimmt mich scharf ins Visier und ihr Blick sagt eindeutig dass sie es nicht mir zuliebe gemacht hat. Dann fügt sie hinzu: „Dein Vater ist so ein fantastischer Mensch.“
Ist er das? Ja, klar ist er das, aber wieso kommt das von Kayleigh? Ich kann mich nicht erinnern, dass mein Dad mit ihr oder ihrer Familie jemals großartig zu tun hatte.
Kayleigh hat eine durchgeknallte Mutter, eine ehemalige Rockerbraut. Naja, vielleicht auch nicht ganz so ehemalig. Ich habe sie ja seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen, aber Gigi MacDuff war immer der Typ Frau mit einer wilden, rotgefärbten Mähne, dick schwarz geschminkten Augen und tausend Kettchen, Armbändern und drei Ohrlöchern – niemand, mit dem Mum oder auch Dad viel zu tun hatten. Ihren Vater kenne ich nur von sporadischen Besuchen hier in Sheemore. Und aus dem Fernsehen und von diversen Musikzeitschriften. Er ist Frontman der Wild Bastards, einer schottischen Rockband, die ihre größten Erfolge in den 80ern und 90ern gefeiert hat.
„Die Kinder lieben ihre Zimmer“, gehe ich über ihre letzte Bemerkung hinweg. „Emma wollte schon immer so einen Style in Rosa und Weiß haben und Nathan ist komplett vernarrt in sein Dschungelzimmer.“
„Es freut mich, dass meine Ideen so gut ankommen.“
Verlegenes Schweigen. Betretenes Nippen am jeweiligen Getränk. Fast bin ich erleichtert, als der Wirt mit einem Teller Sandwiches kommt, den er vor Kayleigh abstellt.
„Danke, Pete.“
Pete! Wusste ich’s doch! Naja, fast.
„Ich nehme nochmal ein Glas von dem Chardonnay“, ordere ich schnell, ehe Pete uns wieder verlässt.
Wieder ein bedeutungsvoller Blick von Kayleigh auf mein Weinglas.
Lass‘ mich doch einfach in Ruhe meinen Wein trinken. Du hast doch keine Ahnung, wie beschissen mein Leben gerade ist, würde ich sie am liebsten anschreien. Stattdessen trinke ich mein Glas in einem Zug leer und starre trotzig zurück.
Geschickt zwirbelt Kayleigh ihre ewig langen Haare zu einem Messy Bun, den sie mit einem Haargummi befestigt, den sie irgendwoher hervorgezaubert hat. Ihre Wangenknochen färben sich zartrosa, als ich sie dabei beobachte. Sie ist nicht schlanker als früher. Naja, gut, vielleicht ein bisschen. Aber irgendwie sitzen die Pfunde jetzt an der richtigen Stelle und sie sieht einfach fantastisch aus. Früher haben Jo und ich uns immer über ihr Übergewicht lustig gemacht.
„Wusstest du eigentlich, dass mein Dad das Da Paola nicht verkauft hat?“, frage ich unverblümt.
Ich meine, nicht, dass ich eine Antwort erwarte, aber schließlich hält sie meinen Vater auch für einen ‚fantastischen Menschen‘, also was weiß ich schon? Womöglich kennt sie ihn ja besser als ich. Ich bin schließlich nur seine Tochter – die seit anderthalb Jahren nicht mehr hier war. Ja, ich weiß… Aber hat er sich jetzt eine Ersatztochter gesucht? Oder, noch schlimmer, ist Kayleigh MacDuff womöglich seine Geliebte? Viele Männer ab einem gewissen Alter mögen jüngere Frauen. Aber mein Dad? Niemals! Er ist über Mums Tod noch nicht hinweg, wie ich gestern selbst sehen konnte.
„Ich habe gesehen, dass es noch leer steht“, antwortet sie vage und stochert ein wenig verlegen in ihrem Schälchen Cole Slaw herum.
„Hat er etwa keinen Interessenten gefunden? Das kann ich mir gar nicht vorstellen. Außer dem Fairytale gibt es hier in Sheemore doch nur ein paar Takeaways.“
„Ein weiteres Restaurant würde der Stadt ganz gut tun“, gibt Kayleigh zu. „Das Da Paola war sehr beliebt und viele fanden es traurig, als es zumachte.“
Sie stockt. Dann sieht sie mich so schuldbewusst an, als würde sie sich gerne die Zunge abbeißen.
„Es tut mir leid. Ich wollte dich nicht an den Tod deiner Mutter erinnern.“
Plötzlich scheint ihr Sandwich von größtem Interesse zu sein, so eingehend mustert sie es. Jede Scheibe wird gründlich untersucht, auseinandergezupft und einer Inspektion unterzogen, als müsse das Club Sandwich erst einen Tauglichkeitstest bestehen.
Das zweite Glas Chardonnay landet wie von Zauberhand vor mir auf dem Tisch. Ein großes Glas ist wirklich groß, stelle ich fest. Danach habe ich vermutlich einen halben Liter Weißwein intus. Ziemlich viel für einen ganz gewöhnlichen Wochentag. Mittags. Aber das kommt mir gerade recht. Ich spüre die kühle Flüssigkeit angenehm meine Kehle hinabrinnen, als ich erneut einen Schluck nehme.
„Eve Smithers wusste, dass Dad das Da Paola niemals verkaufen würde. Und du wusstest es anscheinend auch.“ Ich mustere Kayleigh scharf, doch die blickt nicht auf. „Die Einzige, die keine Ahnung hatte, war ich. Seine Tochter.“
Verbittert leere ich das Glas in einem Zug. Die Schwere des Alkohols steigt mir zu Kopf. Ein wenig zu heftig knalle ich das Glas auf den Tisch, Kayleigh schrickt auf.
Mir egal. Ich kann die Enge des Pubs plötzlich nicht mehr ertragen.
„Schönen Tag noch“, sage ich eine Spur zu laut und als ich mich erhebe, dreht sich alles ein wenig. Ich stoße gegen den Tisch, als ich mich an Kayleigh vorbeizwängen will.
„Es tut mir leid, Anna“, murmelt diese, doch ich frage nicht nach, was sie damit meint oder ob das nur so eine Floskel ist.
Mir ist zwar ein wenig schwindelig, aber ich bin stolz auf mich, dass ich ziemlich gerade auf den Tresen zulaufe. Ich frage Pete nach der Rechnung, bezahle und stöckle dann auf meinen Highheels hinaus auf das Kopfsteinpflaster, wo ich erstmal schwankend stehenbleibe und zum Schutz gegen die Sonne nach Emmas Gucci-Brille suche, die sie gestern in meiner Handtasche verstaut hat. Die wird ihr bei ihrem Strandbesuch wohl fehlen. Und wen wird sie dafür verantwortlich machen? Mich. Und wer ist schuld, dass ich nichts davon weiß, dass Dad das Da Paola behalten hat und – noch schlimmer – dass es aussieht wie ein Museum für Mum? Natürlich auch ich. Wer auch sonst?