Читать книгу Dich habe ich mir nicht gewünscht - Tara McKay - Страница 8
Kapitel 5
ОглавлениеAm nächsten Tag hämmert mein Kopf, als würde einer von Schneewittchens Zwergen mit der Spitzhacke darin sitzen und bereits am Frühstückstisch frisch und munter nach Erz oder anderem Gestein suchen.
„Du siehst nicht gerade wie das blühende Leben aus, Anna“, meint Dad, als er mir eine große Schüssel Porridge hinstellt.
Ich könnte würgen, wenn ich sie nur ansehe und der Geruch der warmen Haferflocken tut sein Übriges. Energisch schiebe ich sie weit von mir.
„Bloß kein Essen, Dad.“
Mein Kopf ist so schwer, dass ich ihn am liebsten auf den Küchentisch legen würde.
„Scheint ja ein netter Abend gestern mit Jo gewesen zu sein. War Kayleigh auch im Pub?“
„Nein“, antworte ich einsilbig.
„Seltsam.“ Dad reibt sich über das stoppelige Kinn. „Du weißt aber, dass Jo und Kayleigh jetzt befreundet sind?“
„Hm.“
Mehr bringe ich nicht zustande. Ich kann über seine Worte auch nicht wirklich nachdenken.
„Ich meine, ich weiß, dass du dich mit Kayleigh MacDuff nicht gut verstanden hast, als ihr in der High School wart, aber die Dinge haben sich geändert. Jo und Kayleigh sind mittlerweile beste Freundinnen, soweit ich von Jos Eltern weiß.“
„Dad, bitte.“ Ich halte mir den Schädel und sehe ihn gequält an. „Jo ist erwachsen und kann machen was sie will. Und ganz davon ab, haben wir Kayleigh MacDuff weder gesehen, noch von ihr gesprochen.“
„War gestern nicht Pubquiz-Abend?“, setzt Dad seine Inquisition fort.
Von draußen höre ich, wie Nathan und Emma sich einen Ball zu kicken. Es ist ein bewölkter Tag und der Regen nieselt nur so auf die Erde hinab.
„Seit wann geht Emma raus, wenn es regnet?“, lenke ich vom Thema ab.
Dad setzt sich mit zu mir, zieht eine Kaffeekanne zu sich heran und schenkt uns zwei Tassen ein. Das Aroma des frischgebrühten Kaffees breitet sich dampfend im Raum aus, ein Geruch, der mir nicht unangenehm ist und sogar den Zwerg mit der Spitzhacke in meinem Kopf für einen Moment von seinem Tun abbringt.
„Das ist doch kein Regen. Es fisselt nur ein bisschen vom Himmel runter, das spürt man nicht mal.“
„Ja, klar, das sagen du und ich. Aber Emma…“
„Emma lernt allmählich das schottische Wetter kennen und vielleicht sogar lieben.“
Ich schnaube ungläubig. Nicht Emma, die Freundin der Sonne, die sich am Liebsten auf unserem sonnenbeschienen Balkon in Bologna auf einem Liegestuhl aus der Fabrik ihrer Großeltern geaalt hat, oder am Strand von Rimini Stunden zubringen konnte, wenn wir den Sommer bei Matteos Eltern verbrachten.
„Ich habe ganz vergessen zu fragen, wie gestern euer Einkaufsbummel in Kirkcaldy war?“
„Ob du’s glaubst oder nicht, Emma war vollauf zufrieden.“
„Wirklich?“
„Zuerst sah es nicht so aus, als würde es ihr dort gefallen“, gibt Dad zu. „Aber dann entdeckte sie so einen Laden… TJ Next oder so ähnlich…“
„TK Maxx?“
„Genau.“
„Okay. Dann war sie sicher im siebten Himmel. Vorausgesetzt sie hatten dort die richtigen Marken.“
„Anscheinend. Sie hat fast ihr ganzes Taschengeld ausgegeben und als wir zu Mittag dort beim Italiener einkehrten, war der Tag ohnehin gerettet. Jedes andere Kind hätte sich mehr über einen Burger bei McDonalds gefreut, als über Rigatoni Vongole im La Gondola.“
Dad kratzt sich wieder über seine Bartstoppeln, die blonden Härchen werden auch hier allmählich durch graue ersetzt. Ich trinke von meinem dampfenden Kaffee und genieße die Klarheit, die die schwarze Flüssigkeit in meinem Kopf verbreitet. Espresso wäre mir lieber, aber Dad kocht einen ziemlich starken Filterkaffee, der bei Kopfschmerzen genau richtig ist.
„Mit richtigem italienischen Essen kannst du bei Emma immer punkten. Nathan ist da weniger wählerisch. Er weiß eine leckere Pizza durchaus zu würdigen, wäre aber über McDonalds nicht undankbar gewesen, zumal wir selten dorthin gehen.“
Mir fällt wieder ein, was Nathan über die Pizza vom Lieferdienst gesagt hat.
„Dad, kann ich mit dir nochmal über das Da Paola sprechen?“
Mein Vater zieht die buschigen Augenbrauen zusammen.
„Erzähl mir doch lieber, wie dein Abend gestern war.“
Hmpf! Ich habe eigentlich keine Lust mit Dad zu plaudern, als wären wir beste Freundinnen. Dafür ist er schließlich denkbar ungeeignet. Dennoch sehe ich es als einzige Chance, damit er nicht komplett zu macht.
„Es war nett mit Jo im Fairytale. Ich wusste gar nicht, dass Pete diese Pubquiz-Abende anbietet.“
„Das ist zur Zeit der Renner in Sheemore. Wir sind ein bisschen spät damit dran, aber irgendwann kommt alles auch zu uns, man muss nur Geduld haben.“
„Jo und ich haben ein Team gebildet mit dem neuen Filialleiter der Bank. Nick Lyle.“
„Ach“, antwortet Dad nur und versenkt sein Gesicht im Kaffeebecher, trotzdem sehe ich sein Grinsen.
„Jo kann ihn nicht leiden, was die Zusammenarbeit ein wenig beeinträchtigt hat. Trotzdem sind wir Dritte geworden. Es war lustig mit den Beiden, nur keiner von uns konnte die Musikfragen beantworten. Kennst du etwa die ‚Travelling Wilburys‘?“
„Klar“, antwortet Dad. „Aber du warst noch ziemlich klein, als die ihre Hits hatten. Kein Wunder also, wenn du sie nicht kennst. Ihr hättet Kayleigh in eurem Team gebraucht, sie kennt sich mit Musik gut aus.“
Herrgott, was hat Dad nur für einen Narren an Kayleigh MacDuff gefressen? Dauernd redet er von ihr. Ich weiß ja zum Glück, dass Dad noch an Mum hängt, ansonsten würde ich denken, er hat eine Affäre mit einer Frau, die seine Tochter sein könnte.
„Das Fairytale ist immer noch das einzige Pub in Sheemore, nicht wahr?“, lenke ich ab, um Dad in die richtige Richtung zu bekommen, vor allem aber, damit er nicht mehr grinst, wenn ich weiter von Nick Lyle erzähle.
„Vor einigen Jahren hat ein anderes Pub aufgemacht, aber es konnte sich nicht halten. In den Sommermonaten kommen vereinzelt Touristen hierher, aber im Winter ist nicht viel los.“
„Ja, ein zweites Pub ist vermutlich zu viel bei einem kleinen Ort wie Sheemore. Aber mehrere Restaurants wären doch ganz schön.“
Dad beäugt mich misstrauisch, dann atmet er tief durch und stößt einen Seufzer aus, der aus den Tiefen seiner Seele zu kommen scheint.
„Das Da Paola war immer gut besucht, wenn du das meinst“, gibt er schließlich zu. Sein wehmütiger Blick trifft mich und er tut mir leid, weil er durch mich an Mum denkt. Aber es muss jetzt einfach sein, denn meine Idee lässt mich seit gestern nicht mehr los.
„In anderen Ortschaften gibt es auch ganz unterschiedliche Lokale und sie werden sehr gut angenommen. Denk doch nur an das La Gondola in Kirkcaldy. Die Leute in Sheemore würden sich sicher freuen, wenn es neben dem grauenhaften italienischen Take-away wieder ein richtiges Restaurant geben würde.“
Dad murmelt irgendwas vor sich hin, was ich nicht verstehe. In diesem Moment kommen Emma und Nathan in die Küche gepoltert, die Turnschuhe voller Dreck, den sie schön gleichmäßig auf dem Fußboden verteilen.
„Wann gibt es Mittagessen?“, fragt Emma.
„Wenn du lernst, dass man mit dreckigen Schuhen nicht ins Haus kommt“, schimpfe ich, stehe auf und schiebe sie und Nathan zurück in den Hausgang. „Außerdem sitze ich gerade noch mit Grandpa beim Frühstück.“
„Grandpa hat mit uns schon vor Stunden gefrühstückt. Wir können ja nichts dafür, dass du so lange schläfst. Ist wohl spät geworden gestern“, meint Emma spitz.
„Ein wenig.“
Ich weiche Emmas vorwurfsvollem Blick aus, indem ich mich bücke, um Nathan die Schuhe auszuziehen. Die Spitzhacke pocht etwas sanfter als vorhin gegen meine Schläfen.
Dads schwere Standuhr aus dem Wohnzimmer schlägt fast genau in diesem Moment elf Uhr. Ich winde mich innerlich. Habe ich wirklich so lange geschlafen? Da ich mit meinen Kopfschmerzen beschäftigt war, habe ich gar nicht auf die Uhr gesehen.
„Und? Wann gibt es denn jetzt Mittagessen? Und kocht Grandpa wieder?“, insistiert Emma weiter, dabei tappt sie ungeduldig mit ihrem Fuß.
„Zieh‘ deine Schuhe jetzt endlich aus“, fahre ich sie an, weil das Fußtappen mich ganz nervös macht und meine Kopfschmerzen schlagartig wieder stärker werden. „Ich fange jetzt gleich zu kochen an, du kannst so lange mit Nathan ein wenig Fernsehen. Grandpa müsste noch meine alten Kinderfilme irgendwo haben. Bambi, Cinderella, diese ganzen Disneysachen eben. Ich werde ihn bitten die Filme rauszusuchen.“
Während Dad sich damit beschäftigt, seine Videokassetten heraus zu kramen und den Kindern eine Palette alter Filme anzubieten, die es längst in besserer Qualität auf DVD gibt, was Nathan jedoch überhaupt nicht stört und Emma darüber lästern lässt, dass sie wohl im finsteren Mittelalter gelandet ist, beginne ich in der Küche nach Lebensmitteln zu stöbern.
Dad mag kein begnadeter Koch sein, aber er hat zumindest ein paar Basissachen im Haus und ich mache mich ans Werk. Zwischendrin schenke ich mir immer wieder von Dads Kaffee ein, der wirklich Tote senkrecht stehen lassen könnte und der erfolgreich Kopfschmerzen und Übelkeit bekämpft. Ich schalte das altersschwache Radio ein, das auf einem Bord steht seit ich denken kann. Es rauscht ein wenig, wie es das schon immer getan hat, weil man hier einfach keinen guten Empfang hat, aber das stört mich überhaupt nicht.
„Dad?“, rufe ich ins Wohnzimmer hinüber, aber da keine Antwort kommt, mache ich mich durch die Vordertür selbst auf den Weg in den Garten, um nach Mums Kräuterschnecke zu sehen, die Dad ihr vor vielen Jahren angelegt hat, damit sie sich Thymian, Basilikum, Rosmarin und noch viele andere Sachen ziehen kann, mit denen sie immer gerne gekocht hat.
Mums Garten ist ein wenig verwildert und Unkraut sprießt zwischen den Kräutern und Blumen hervor, aber dennoch finde ich, was ich suche. Der Geruch von Basilikum verursacht bei mir ein angenehmes Kribbeln im Bauch, weil er mich an Mum erinnert, die damit alles Mögliche gekocht oder garniert hat. Als Schulbrot bekam ich meistens ein Sandwich mit Anster, einem Käse aus der Region, und Basilikum - eine Mischung, die außer mir niemand hatte. Aber so besonders und fast exotisch Mum in einem Fischerort in Schottland gewirkt haben mag, sie war bei allen beliebt und ihre Wärme und ihr italienischer Charme machten das Da Paola zu einem beliebten Ziel bei den Bewohnern der Stadt.
Nachdenklich trolle ich mich mit meiner Beute aus Kräutern in die Küche und koche vor mich hin. Ich bin mir plötzlich nicht mehr so sicher, ob meine Idee mit dem Da Paola so gut ist. Mum war einfach ein besonderer Mensch und ich bin das nicht. Das sagt einem doch schon die Tatsache, dass ich es in vierzehn Jahren in Italien nicht geschafft habe, richtige Freunde zu finden. Meine Kochkünste sind leidlich gut, schließlich habe ich meine Familie damit bisher immer zufrieden stellen können und meine Dinnerpartys, die ich aus geschäftlichen Gründen mit Matteo geben musste, waren aus kulinarischer Sicht immer der Renner - und weil Matteo ein toller Gastgeber war, das muss ich ihm immerhin lassen.
„Ist das Essen fertig? Es riecht schon so gut.“
Emma steht halb in der Küchentür und lugt um die Ecke. Ihre wilden dunklen Locken stehen in alle Richtungen, was mich eher wundert, denn normalerweise ist ihr die Haarpflege sehr wichtig und sie arbeitet sogar mit einem Glätteisen, um ihre Krause in den Griff zu kriegen. Manchmal fand ich das sogar schon übertrieben für ihr Alter. Doch so völlig ungestylt sieht sie sehr jung und verletzlich aus und ich strecke unwillkürlich einen Arm nach ihr aus. Wie selbstverständlich schmiegt sie sich in meine Umarmung. Die kleine Geste lässt mich aufatmen. Emma und ich kommen derzeit so schlecht miteinander klar, dass es mir viel bedeutet, wenn sie meine Nähe sucht. Sie stellt sich auf die Zehenspitzen, um auch in den hintersten Topf gucken zu können.
„Gnocchi?“
„Dein Großvater mag ja nicht viele Zutaten zuhause haben, aber Mehl, Kartoffeln und Eier waren immerhin da.“
In einer Pfanne köcheln kleine Cocktailtomaten und Knoblauch in Olivenöl und Kräutern vor sich hin, bis die Gnocchi soweit sind, dass ich sie darin schwenken kann.
„Papa liebt deine Gnocchi. Er sagt sogar, dass sie besser schmecken als bei Nonna“, lässt Emma wie nebenbei fallen.
„Mhm…“, antworte ich vage, obwohl meine Ohren ganz heiß werden. Für Matteos Verhältnisse ist das ein riesiges Kompliment, schließlich geht nichts über seine Mamma.
„Ich freue mich, wenn wir nach Bologna zurückfahren. Papa wird uns auch sehr vermissen.“
„Emma…“ Ich schlucke. Und hasse mich, weil ich diesen schönen Moment zwischen ihr und mir kaputt machen muss.
„Ich weiß, dass ihr gestritten habt, Mamma. Die ganze Zeit bevor wir hierher gefahren sind. Aber du weißt doch, wie Papa ist. Er macht manchmal Dummheiten und am Ende vertragt ihr euch wieder.“
Ich muss nochmal kräftig schlucken, denn plötzlich habe ich einen Kloß im Hals von den Ausmaßen eines Tennisballs.
Bravo, Anna! Und du dachtest immer, dass deine Streitereien mit Matteo vor deinen Kindern verborgen geblieben wären. So viel dazu. Und wie soll ich ihr sagen, dass ihr Papa dieses Mal eine Dummheit gemacht hat, die man nicht so einfach ausbügeln kann? Eine, die uns unsere ganze Existenz kosten kann. Nein, nicht nur kann, sondern wird!
„Es gibt einen Punkt im Leben, da kann man über die Dinge nicht mehr hinwegsehen, die jemand macht. Das ist so wie bei dir und deiner ehemaligen Freundin Carlotta. Weißt du noch? Ihr wart die besten Freunde, aber Carlotta hat dauernd etwas hinter deinem Rücken gemacht, was dich geärgert hat, bis du nicht mehr mit ihr befreundet sein wolltest.“
Ich fische ein Gnocchi aus dem Wasser, puste es an und stecke es Emma in den Mund, die mir signalisiert, dass meine kleinen Kartoffelnocken perfekt sind. Während ich sie abschütte und anschließend in der Pfanne schwenke, fühle ich, wie mich Emma intensiv beobachtet. Unser Gespräch ist nicht zu Ende, dennoch wagt sie nicht zu fragen, was nun die logische Konsequenz ist. Nämlich, dass ich ihren Vater endgültig verlassen habe und wir nicht mehr nach Bologna zurückgehen.
Bei Tisch möchte ich aus Rücksichtnahme auf Emma das Thema ‚Da Paola‘ nicht mehr ansprechen. Ich entscheide, Dad in einer ruhigen Minute danach zu fragen, als Nathan seinerseits beschließt, unsere Unterhaltung vom Vortag wieder aufzunehmen.
„Grandpa?“
„Ja, Nattie?“
„Mamma soll kochen.“
„Aber das hat sie doch heute. Viel besser, als ich die letzten Tage, nicht wahr?“
„Mamma soll für alle kochen“, meint Nathan und blickt zufrieden in die Runde, da er nun die Aufmerksamkeit aller hat. Sogar Emma sieht von ihrem Handy auf, mit dem sie die ganze Zeit während des Essens rumspielt.
Dad wirft mir einen vorwurfsvollen Blick zu, als hätte ich Nathan aufgestachelt, aber ich hebe nur die Hände, um zu zeigen, dass ich sie absolut in Unschuld wasche.
„Was meinst du denn damit, Nattie?“, fragt Dad und kratzt nachdenklich seine hellen Bartstoppeln. Es ist eine sehr typische Geste für ihn – wenn er nachdenkt, verlegen oder zerstreut ist… Würde mich jemand bitten eine typische Handbewegung zu machen, um meinen Dad zu beschreiben, würde ich mir das Kinn kratzen. Eindeutig.
„Mamma soll kochen. In Nonnas Trattoria.“
„Nathan, du spinnst“, kommentiert Emma das Ganze. „Wir fahren in spätestens zwei Wochen nach Bologna zurück. Warum sollte Mamma hier eine Trattoria eröffnen?“
„Weil“, sagt Nathan mit der Logik eines Vierjährigen und verschränkt die Arme vor der Brust.
Dad und ich wechseln einen Blick. Dads besagt eindeutig, dass dies nun der Moment ist, wo ich Emma reinen Wein einschenken soll. Meiner besagt vermutlich eindeutig, dass ich einen Riesenbammel davor habe, mich mit meiner pubertierenden Tochter anzulegen. Es ist nicht so, dass ich meinen Kindern nicht Kontra geben könnte. Aber ich bin in unserer Familie nun mal seit Emmas Geburt – ach was sage ich, seit ihrer Empfängnis – der Sündenbock und die Situation gerade macht es nicht besser. Nun wirkt es so, als wolle ich nur hier bleiben, um Mums Restaurant weiterzuführen.
Los, Anna, sei tapfer, sporne ich mich selbst an und setze mich unmerklich ein wenig aufrechter auf meinen Stuhl.
„Es gibt etwas, was ich euch sagen muss“, fange ich schließlich an, dabei nehme ich sowohl Emma, als auch Nathan ins Visier. „Wir werden hier in Sheemore bleiben.“
Emma wird bleich, während Nathan von seinem Stuhl springt und seinem Grandpa um den Hals fällt vor Freude.
„Certamente no!“, fährt mich Emma an und hebt die Handflächen, was nichts anderes bedeutet als ‚Sicher nicht!‘. Dem Ganzen folgt noch ein Schwall italienischer Schimpfwörter, die sogar mir als Erwachsene die Schamesröte ins Gesicht treiben.
„Non esagerare!“, rufe ich sie lauter als beabsichtigt zur Räson. Automatisch verfalle ich ins Italienische und fange wild zu gestikulieren an, wie es in Italien so üblich ist.
„Lasciami in pace!“ Wütend steht Emma auf, stemmt ihre Hände auf der Tischplatte ab und funkelt mich an.
Dad und Nathan beobachten unseren Schlagabtausch wie Zuschauer bei einem Tischtennismatch. Nathans besorgter Gesichtsausdruck bringt mich schlagartig wieder auf den Teppich zurück. Was ich sicher nicht will, ist meinem kleinen Sohn Angst machen.
„Du möchtest in Ruhe gelassen werden? Gut“, antworte ich Emma frostig. „Geh‘ in dein Zimmer und denk‘ darüber nach, wie du mit mir redest.“
„In mein Zimmer gehe ich gerne, da muss ich dich wenigstens nicht sehen. Das andere werde ich aber ganz sicher nicht tun. Wenn du meinst, Nathan und mich in ein anderes Land verschleppen zu müssen, werde ich jetzt mit Papa telefonieren.“
„Tu, was du nicht lassen kannst.“
Mein Herz rast zwar wie ein Formel1-Wagen, aber ich bringe es dennoch fertig völlig gelassen zu klingen. Eigentlich passt es mir nicht, dass sich Emma bei Matteo ausheult, der ja bekanntermaßen auch der Meinung ist, dass ich völlig überreagiere. Aber das muss meine aufmüpfige Tochter nicht merken. Ich erwidere ihren trotzigen Blick, als sie ihren Stuhl zurückstößt und dann hoch erhobenen Hauptes verschwindet. Als ihre Tür im oberen Stockwerk geräuschvoll ins Schloss fällt, atme ich so tief aus, dass mir ein regelrechter Stoßseufzer entfährt.
„Das Temperament muss sie von dir haben. In dem Alter dachte ich auch oft ‚Gnade mir Gott‘, wenn du einen deiner Anfälle hattest“, meint Dad achselzuckend, dann wendet er sich an seinen Enkelsohn und stupst ihm liebevoll gegen die kleine Nase: „Wie wäre es, wenn wir mit deiner Mamma in die Stadt fahren und uns das Restaurant von deiner Nonna Paola von innen ansehen? Dann kann sie immer noch entscheiden, ob sie es haben will.“
Ich sehe Dad entgeistert an, der diesen Moment sichtlich genießt.
„Das ist es doch, was du mich die ganze Zeit fragen willst, oder?“
„Ja, aber…“
„Da du dich entschlossen hast hier zu bleiben, sehe ich nicht ein, wieso ich dir das Da Paola nicht überlassen sollte. Kochen kannst du ja.“
Sein Blick fällt bedeutungsschwer auf die leeren Teller, den Sugo aus Tomaten, Kräutern und Olivenöl haben alle sogar mit etwas Weißbrot aufgetunkt.
„Da habe ich ja wenigstens etwas von Mum geerbt.“
Dad grummelt irgendeine Zustimmung, während er mit Nathan in den Flur geht, um ihm Schuhe und Jacke anzuziehen.
Mich überläuft ein Prickeln, das mich Schaudern lässt. Einerseits, weil ich es kaum glauben kann, dass Dad mir das Restaurant überlässt und ich bald wieder eine Perspektive für mein Leben haben werde. Andererseits aber auch, weil ich Angst vor dieser großen Aufgabe habe – und den übergroß erscheinenden Fußstapfen, in die ich treten werde.
Der Schlüssel klackt verheißungsvoll im Schloss, als Dad die kleine graue Tür aufsperrt, die in den dunklen Hausflur führt, von dem aus man sowohl zum Restaurant kommt, als auch die Treppe hinauf zu einer großen Wohnung, die zum Haus gehört.
Meine Eltern haben das Haus gekauft, als ich noch ziemlich klein war und meine Mum die Idee hatte, ein italienisches Restaurant in Sheemore zu eröffnen. Die Wohnung ist seit Jahrzehnten an eine Familie vermietet, deren Name mir gerade nicht einfallen will.
Dad geht mit Nathan voraus und entsperrt die Tür, von der aus man direkt in den Vorratsraum der Küche liefern kann. Ich bleibe stehen und nehme alles in mir auf. Ich war so viele Male hier, aber jetzt – ohne Mum – fühlt es sich komisch an. Noch mehr, als ich hinter Dad und Nathan her tappe und die leere Küche betrete, die allerdings so aussieht, als wäre sie jederzeit bereit wieder in Betrieb genommen zu werden. Töpfe und Pfannen sind auf Hochglanz poliert in den Regalen, Teller stehen gestapelt da, als würden sie jeden Moment mit köstlichen Speisen beladen. Nirgendwo liegt auch nur das kleinste Körnchen Staub.
Ich höre mit halbem Ohr wie Dad seinem Enkelsohn erklärt, wie seine Nonna hier gearbeitet hat und wie wunderbar sie kochen konnte. Auch wenn er Schottland nicht gerne verlassen wollte, die italienische Küche hat es ihm trotzdem angetan. Eine nette Alternative zu dem Haggis, das er im Fairytale gerne bestellt. Meine Mum hat sich stets geweigert so etwas zu kochen, selbst wenn sie es durchaus hätte lernen können. Sie behauptete stets, so etwas käme in Italien niemals auf den Tisch. Was, wie ich nun weiß, so nicht stimmt. Innereien werden in Italien sehr wohl serviert und Matteos Mutter macht mit Vorliebe einen Mix aus verschiedenen Innereien mit einer Soße aus Tomate und Minze. Wie Dad wohl reagieren würde, wenn ich ihm ‚Trippa alla romana‘ servieren würde? Wie ich ihn kenne, würde er sich kringelig lachen, weil Mum ihn an der Nase herumgeführt hat. Ich nehme mir fest vor, es mal zu versuchen. Schon allein, um meinen Vater zum Lachen zu bringen.
„Komm, Mamma!“ Nathan zieht ungeduldig an meiner Hand, damit ich ihm und seinem Großvater folge.
So modern und funktional die Küche auch sein mag, das Restaurant selbst wirkt wie aus einer anderen Zeit. Würde es in Italien stehen, würde man auf Tripadvisor vermutlich lesen können: ‚Restaurant mit Lokalkolorit‘. Doch hier wirkt es einfach nur, als hätte jemand eine original italienische Trattoria gepackt und in eine schottische Kleinstadt gestellt. Nur, dass selbst in Italien die gehobenen Restaurants nicht mehr so aussehen, wie es noch Anfang der 90er-Jahre der Fall war, als Mum das Da Paola eröffnete.
Ich sehe, wie Dad förmlich in sich zusammenfällt, während er sich umsieht. Wie von selbst suche ich seine Nähe und greife nach seiner Hand, um sie aufmunternd zu drücken.
„Es ist, als ob Mum jeden Moment auftauchen würde“, sagt er leise.
Was natürlich daran liegen könnte, dass alle Tische aufgedeckt sind. Ebenso wie die Küche ist der Restaurantbereich betriebsbereit. Mich erschreckt der Anblick eher.
„Wer hält das Restaurant so sauber und deckt hier ein?“, frage ich ungläubig.
„Ich. Wer sonst?“ Dad klingt ganz normal, als er das sagt. Nicht so, als wenn das ein wenig sonderbar wäre.
„Aber… Warum?“
Ich lasse seine Hand los, um im Lokal umherzustreifen. Nathan ist schon in der Ecke verschwunden, wo eine große Kiste mit Spielsachen steht. Mum wollte immer, dass Kinder sich besonders willkommen im Da Paola fühlen.
„Mir war es eben wichtig“, antwortet Dad nun leicht knurrig. Anscheinend geht er in Verteidigungshaltung.
Ich streiche mit einer Hand über die rot-karierte Tischdecke an meinem Lieblingsplatz, dem Tisch ganz vorne am Fenster, von dem aus man eine hübsche Sicht auf eine kleine Grünfläche und die Kirche von Sheemore hat. Nicht, dass ich sonderlich religiös wäre, aber als Kind träumte ich immer davon, dort zu heiraten. Ich war ziemlich gut darin, mir meine Traumhochzeit auszumalen, mit Prinzessinnenkleid, meterlangem Schleier und allem Drum und Dran. Letztendlich wurde es dann eine sehr stille und heimliche Zeremonie im Rathaus von Rimini mit anschließendem Essen bei Matteos Eltern.
Die Kirche von Sheemore ist schon sehr alt, ein mittelalterlicher Bau, der über die Jahre restauriert und erweitert wurde. Sie versprüht einen besonderen Charme, dem ich mich wohl als Kind schon nicht entziehen konnte. Meine Mum fand meine Träume von einer Märchenhochzeit immer wunderbar und manchmal saßen wir an eben diesem Tisch und fantasierten zusammen. Die Erinnerung tut weh und ich winde mich innerlich.
„Es sieht aus, als würde das Restaurant nur darauf warten, dass Mum die Vordertür aufsperrt und die Gäste einlässt“, murmele ich vor mich hin.
Dad tritt hinter mich und umfasst meine Schultern. Obwohl ich selbst nicht gerade klein bin, überragt er mich mit seiner hünenhaften Statur. Der perfekte Highlander wie er im Buche steht.
„Es hat vielleicht nur auf dich gewartet“, meint er.
„Nichtsdestotrotz muss einiges getan werden, wenn wir es wirklich wiedereröffnen wollen. Ich weiß, dass dir das Restaurant am Herzen liegt, so wie es ist. Aber die Einrichtung ist unmodern. Hier hat das vielleicht niemanden gestört, aber wenn wir Touristen im Sommer anlocken wollen, sollte das Interieur ein wenig ansprechender sein.“
„Ansprechender?“, fragt Dad empört und lässt mich los, als wäre ich giftig.
„Moderner?“, versuche ich es mit einem unverfänglicheren Wort.
„Ich mag es so wie es ist.“
„Ich auch. Mum hat es so gemacht. Aber du siehst doch ein, dass ich mit der Zeit gehen muss.“
„Du musst ihm deinen Stempel aufdrücken“, sagt Dad nicht eben freundlich.
„Das wollte ich damit nicht sagen.“ Ich zeige anklagend auf die abgeschabten Stuhlbeine. „Alles hier ist dreißig Jahre alt, Dad, und das sieht man auch. Selbst wenn Mum das Restaurant immer pfleglich behandelt hat und du jetzt regelmäßig für Sauberkeit gesorgt hast, wenn wir ein erfolgreiches Unternehmen führen wollen, sollten wir allmählich im Jahr 2018 ankommen.“
„Ich habe noch nicht gesagt, dass du das Da Paola haben kannst“, grummelt Dad sein Kinn kratzend.
„Limonade!“, kräht Nathan begeistert hinter dem Ausschank hervor, der wohl unbemerkt von uns hinter den Tresen geschlichen ist.
Dad und ich wechseln einen entsetzten Blick. Wenn da tatsächlich noch Limonade ist, müsste sie rein theoretisch schon abgelaufen sein. Grundsätzlich ist das vermutlich nicht schlimm, aber ich möchte nicht, dass mein Sohn das trinkt. Dad wohl auch nicht.
„Lass das stehen!“, rufe ich Nathan zu, während Dad hinter den Tresen sprintet und ihn auf den Arm nimmt.
„Ich will aber Limonade!“, protestiert mein sonst recht umgängliches Kind.
Matteo war immer dafür, dass die Kinder trinken dürfen, was sie wollen. Ich bin eher von der Wasserfraktion. Aber natürlich findet Nathan Limonade viel toller und jetzt, da er wohl quasi eine vor der Nase hatte, wird der Wunsch danach immer größer.
„Limonade!“
„Warum hast du das ganze Zeug nicht weggeschmissen?“, frage ich an Dad gewandt. „Nicht, weil mein Sohn jetzt danach kräht, das überhöre ich als erfahrene Mutter einfach. Sondern, weil dieses Restaurant, verdammt noch mal, ausgeräumt sein sollte, wenn es nicht mehr in Betrieb ist.“
Mir steigt die Röte ins Gesicht. Ich bin wütend auf Dad. Auch wenn das Da Paola rein optisch scheinbar auf einen neuen Besitzer wartet, ist es doch nur sein purer Egoismus, dass es aussieht, als wäre es ein Schrein für Mum.
„Ich konnte es nicht“, sagt Dad und sieht mich mit diesem verletzten Blick an wie ein geprügelter Hund.
„Schon gut“, antworte ich müde. Ich tätschele seinen Arm, auf dem sich Nathan windet.
„Soll ich ihm schnell bei Graham’s eine Limonade kaufen?“, fragt Dad unsicher.
„Untersteh‘ dich!“
Ich pflücke meinen Sohn vom Arm seines Großvaters, stelle ihn vor mir auf den Boden und knie mich zu ihm hinunter, damit wir auf Augenhöhe sind.
„Silencio!“, sage ich streng und rede dabei Italienisch, denn so gerne ich auch mit meinen Kindern Englisch spreche, irgendwie klingt es nicht ganz so energisch. „Nathan, che stai?“
Ziemlich unvermittelt fängt Nathan zu weinen an. Da er nur weinerlich wird beim Autofahren oder bei Hungerattacken, bringt mich das etwas aus der Fassung.
„Ich will zu Papa“, schluchzt er dann auch noch.
Normalerweise ist Emma das Papakind, während Nathan mit mir ganz zufrieden ist. Als er sich jetzt in meine Arme stürzt und dabei immer wieder wiederholt, dass er zu seinem Papa möchte, erwischt mich das schlechte Gewissen erneut eiskalt. Ich sehe zu meinem Dad hoch, der nur unbeholfen dasteht und auf uns hinuntersieht, als wären wir Aliens.
Trösten war noch nie sein Spezialgebiet, aber er spürt wohl instinktiv meine Unsicherheit, denn er geht ebenfalls in die Knie und umarmt sowohl mich, als auch seinen Enkel und so hocken wir eine Weile da, bis Nathans Schluchzer langsam verebben. Verstohlen trockne ich mir selbst die Augen. Ich kann es nicht ertragen, wenn eines meiner Kinder unglücklich ist und für heute ist es definitiv zu viel. Erst die Auseinandersetzung mit Emma und jetzt das.
„Und nun?“, frage ich meine zwei Männer. „Soll ich die Trattoria von Nonna doch nicht neu eröffnen? Denn wenn du nicht hinter einer Renovierung stehst, können wir es gleich vergessen.“
Ich pikse Dad gegen die Brust, sodass er fast aus dem Gleichgewicht kommt. Er richtet sich auf und schwingt Nathan wieder auf seine mächtigen Arme, dann befördert er irgendwo aus den Untiefen seiner Hosentaschen ein großes kariertes Taschentuch hervor, mit dem er die Tränen des Kleinen trocknet.
„Wenn uns Nattie hilft, werden wir es schon schaffen. Was meinst du dazu, Nattie?“
Nathan wischt sich entschlossen mit dem Ärmel über die Augen, deren samtenes Braun nun von leichten roten Schlieren umrandet ist. Er nickt tapfer. Mein Herz zieht sich bei seinem Anblick zusammen. Es war dumm von mir, zu glauben, dass Nathan absolut und ausschließlich begeistert davon sein würde, hier in Sheemore zu bleiben, was mir sein Ausbruch eben auch eindeutig gezeigt hat. Dennoch nimmt er die Dinge, wie sie eben sind und ist nun Feuer und Flamme dafür, mit seinem Grandpa zusammenzuarbeiten. Gemeinsam überlegen sie bereits, in welcher Farbe sie die Wände streichen wollen. Bei dem Wort ‚Meerblau‘ möchte ich am liebsten eingreifen, überlege es mir aber schnell anders, schließlich will ich ihren Eifer nicht einbremsen – noch nicht. Irgendwann werde ich ihnen schonend beibringen, dass ‚Blau‘ nicht ganz der Farbton ist, der mir vorschwebt.
„Aber eines solltest du vielleicht wissen, bevor du große Renovierungspläne schmiedest“, sagt Dad und sieht mich ein wenig betreten an.
„Was denn?“, frage ich mit glänzenden Augen.
Ich sehe schon die eleganten dunklen Tische vor mir mit den glänzenden Tischplatten und die an die Wand montierten Bänke mit den gestreiften Bezügen.
„Ich habe kein Geld für eine aufwändige Renovierung. Seit ich nicht mehr arbeite, habe ich meine Mittel so eingeteilt, dass sie mir für meine Bedürfnisse und ein paar Extras ab und zu reichen, wenn ich nicht gerade hundert Jahre alt werde. Aber einen großen Teil hat die Zimmereinrichtung für die Kinder verschlungen. Vielleicht kann ich jetzt nur noch achtzig Jahre alt werden, ohne der Altersarmut anheim zu fallen“, scherzt er.
Puh! Ich habe mir über Dads finanzielle Situation nur wenig Gedanken gemacht seit er mir sagte, dass er zurechtkäme. Jetzt schäme ich mich ein wenig dafür, denn ich habe wie selbstverständlich angenommen, dass ich bei ihm leben kann und er alles finanziert, während ich erstmal wieder auf die Beine komme.
„Hm“, mache ich nachdenklich.
„Sagtest du nicht, dass du gestern im Pub diesen Nicholas Lyle getroffen hast? Er leitet die Bank. Vielleicht solltest du ihm einen Besuch abstatten und um ein Darlehen bitten.“
„Nick?“ Ich bin nicht eben begeistert. Nick und ich haben uns gestern sehr gut verstanden, aber er trennt bekanntlich Privates und Geschäftliches penibel.
„Du könntest ihm das Haus als Sicherheit anbieten.“
„Das Cottage? Niemals!“
„Nein, nicht das Cottage. Dieses Haus mit dem Restaurant und der Wohnung.“
„Aber es ist dein Haus, Dad. Ich kann ihm unmöglich etwas anbieten, was mir nicht gehört.“
Dad sieht mich an. Er sieht so aus, als würde er etwas aushecken. Diesen schelmischen Blick kenne ich bei ihm schon.
„Ich schenke es dir. Dann kannst du damit machen, was du willst. Es war ohnehin das, was deine Mutter wollte. Vielleicht möchte dieser Mr. Lyle dir die Wohnung im ersten Stock auch abkaufen, zumindest hat er sein Interesse bei mir schon bekundet.“
„Und was soll aus der armen Familie McIntyre werden?“, frage ich entsetzt. Plötzlich ist mir der Name wie von selbst wieder eingefallen. Eine sehr laute und kinderreiche Familie, wie ich mich erinnere. Dafür ist es ziemlich leise, fällt mir gerade auf, denn normalerweise trampelten uns die McIntyres immer auf dem Kopf herum.
„Die jüngste Tochter ist im vergangenen Jahr nach Edinburgh gezogen und Muriel und George sind mitgegangen und haben sich eine Wohnung in einer Anlage für betreutes Wohnen gekauft“, informiert mich Dad, dann lacht er. „Du glaubst doch nicht, dass bei uns die Menschen nicht altern, nur weil die Zeit ein wenig langsamer zu laufen scheint, als anderswo?“
Ups! Ja, auch in Sheemore verändern sich die Dinge und wenn ich es mir recht überlege, scheint es nur logisch, dass auch die kleine Zoe McIntyre, der letzte Spross und einer von zwei Nachzüglern, bereits Mitte Zwanzig sein müsste und Muriel und George das Rentenalter mittlerweile erreicht haben dürften.
„Steht die Wohnung jetzt leer? Und warum hat Nick bei dir gefragt, ob er sie kaufen kann?“
„Er wohnt darin“, sagt Dad wie selbstverständlich. „Ich werde gleich am Montag einen Notartermin in Kirkcaldy vereinbaren und dir das Haus überschreiben lassen. Was du letztendlich damit machst, ist deine Sache. Und jetzt fahre ich mit Nathan nach Hause, sehe, ob das Gewitterwölkchen über Emma sich bereits verzogen hat und dann gehe ich mit den Kindern zum Feenhügel. Die Sonne blitzt schließlich wieder hervor und nichts geht über einen kleinen Spaziergang.“
Es ist eine sehr lange Ansage für einen wortkargen Mann wie meinen Dad. Ich muss erstmal die Information verdauen, dass Nick Lyle über meinem Restaurant wohnt.
Meinem Restaurant! Noch sieht es aus wie Mums, aber sollte Nick mir tatsächlich ein Darlehen geben… Ich wage kaum davon zu träumen, als Dad mir den Schlüsselbund in die Hand drückt und sich mit Nathan trollt, während er ihm die Geschichten über den Feenhügel erzählt, die mir mein Großvater in dem Alter schon beibrachte.
Und dann stürme ich plötzlich ohne groß nachzudenken in den Hausgang hinaus, nehme immer zwei Stufen der knarzenden Holztreppe ins Obergeschoss hinauf und finde mich unversehens vor der Wohnungstür wieder, auf der ein ordentliches Messingschild angebracht ist, auf der in schlichter Schrift ‚Lyle‘ eingraviert ist. Ich klingele, noch ehe ich mir darüber klar werden kann, was ich da gerade mache.
Als Nick mir öffnet, sieht er nicht viel besser aus, als ich mich heute Morgen gefühlt habe. Ein wenig blass um die Nase, die sonst so strahlend blauen Augen wirken farbloser, als hätte ihnen jemand das Glitzern genommen. Vielleicht war es das letzte Glas Ale. Die Einzige, die heute gut drauf sein dürfte, ist Jo, denn die hat die meiste Zeit nur Mineralwasser getrunken, da sie am frühen Morgen schon wieder in der Backstube stehen muss.
„Hi“, begrüßt mich Nick mit einem Stirnrunzeln, das mir sofort klar macht, wie seltsam es sein muss, dass ich einfach vor seiner Wohnungstür stehe. Irgendwie ist mir meine spontane Aktion jetzt doch peinlich.
„Ich wollte mich nur als deine neue Vermieterin vorstellen“, sage ich, jetzt doch leicht verlegen.
„Ach.“ Nick zerstrubbelt seinen blonden Haarschopf noch ein wenig mehr, steht in seinem Türrahmen und zupft sein weißes T-Shirt zurecht.
„Es tut mir leid, ich hätte dich nicht einfach überfallen sollen. Es ist nur so, mein Vater hat mir eröffnet, dass er mir dieses Haus überschreibt und ich war so überwältigt…“
Ich stocke, lecke mir über die Lippen und unterdrücke den Drang umzudrehen und davonzulaufen. Das käme nämlich garantiert noch blöder.
„Schon gut“, bringt er schließlich doch noch mehr als ein Wort heraus, öffnet die Wohnungstür weiter und tritt einen Schritt zurück. „Komm doch herein.“
Ich habe die Wohnung von innen schon seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen, wir waren auch bei den Vormietern nur selten, aber ich erinnere mich, dass es bei Muriel und George McIntyre ziemlich vollgestellt war und sie altmodische, muffige Teppiche mit Rosenmuster hatten und Tapeten in einem ähnlichen Stil.
Jetzt ist es, als würde ich in eine Designerwohnung treten. Bewundernd bleibe ich in dem langgezogenen Flur stehen, von dem alle Zimmer abgehen. Der Boden ist mit einem geschmackvollen grauen Laminat ausgelegt, die Wände sind weiß gestrichen und lassen alles etwas größer wirken, als die erdrückenden Schnörkel und riesengroßen Rosen. Alles ist sehr minimalistisch möbliert, was ich gut finde. Ich mag es nicht, wenn es zu überladen ist. Das macht mich im Fairy Cottage schon ganz verrückt.
„Schick“, sage ich und deute auf den Flur.
„Nicht mein Verdienst“, antwortet Nick, dann geht er mir voraus ins Wohnzimmer. „Komm, ich zeige dir den Rest. Das ist es doch, was dich als neue Vermieterin interessiert.“
„Eigentlich…“
Ich beiße mir auf die Zunge. Es wäre schön blöd ihm zu erzählen, dass ich wegen eines Kredites da bin. An einem Samstag. In seiner Privatwohnung. Wo er gestern bei Jo noch betont hat, dass er Privates und Geschäftliches penibel trennt – mehrmals. Was mache ich hier eigentlich? Das frage ich mich ganz ehrlich.
„Ja?“ Er bleibt im Wohnzimmer stehen und hebt fragend die Augenbrauen.
„Eigentlich wollte ich nur vorbeischauen und dir sagen, wie nett ich den gestrigen Abend fand“, improvisiere ich ohne rot zu werden.
Hat er an der Tür schon überrascht ausgesehen, als er mich sah, kann er das sogar noch steigern. Seine Stirn legt sich in Falten und ich muss zugeben, dass ich das bei Männern ziemlich attraktiv finde.
Matteo ist der Meister der Dackelfalten, was jetzt nicht so toll klingt, wie es aussieht. Aber ich fand ihn dann immer zum Anbeißen. Stirnfalten geben Männern etwas Verletzliches und wirken trotzdem sehr männlich. Wenn ich nicht gerade eine Trennung hinter mir hätte, wäre Nick garantiert mein Beuteschema.
„Ich fand ihn auch nicht schlecht, auch wenn ich immer noch denke, dass deine Freundin Jo mich nicht leiden kann.“
„Jo ist ziemlich direkt, aber ein herzensguter Mensch.“
„Das bezweifle ich nicht, allerdings schließt ihre Herzensgüte mich nicht ein.“
„Dafür hat es doch ganz gut mit unserem Quizteam geklappt.“
„Wir sind Dritte geworden, das ist nicht allzu schlecht“, gibt er zu, dann deutet er auf eine weiße Couchgarnitur, die so makellos strahlt, dass ich mir nicht mal vorstellen möchte, was mit ihr passieren würde, wenn Nathan in ihre Nähe käme. „Möchtest du dich nicht setzen?“
„Oh, nein“, sage ich abwehrend und komme mir noch ein bisschen blöder vor, weil ich einfach bei ihm geklingelt habe.
„Du siehst munterer aus, als ich gedacht hätte.“ Nick grinst schief. „Ich fühle mich, als wäre ein Lastwagen über mich gebrettert.“
„Oh, das ging mir heute Morgen auch so, aber der Kaffee von meinem Dad weckt alle Lebensgeister.“
Plötzlich habe ich eine Idee. Ich nehme Nick ins Visier. Er nimmt sich ziemlich zusammen, aber er sieht immer noch blass aus.
„Weißt du was? Ich mache dir einen echten italienischen Espresso. Dann geht es dir gleich besser.“
„Tut mir leid, ich habe keine Espressomaschine.“
„Aber ich“, erwidere ich lächelnd. Ich bete, dass Dad die Espressobohnen ebenso aufgehoben hat wie alles andere, aber ich glaube, darüber muss ich mir wirklich keine Sorgen machen. Und wenn sie noch verpackt sind, dürften sie auch noch völlig in Ordnung sein.
„Ich bin nicht so angezogen, dass ich das Haus verlassen könnte“, meint Nick und sieht an seinem Schlabberlook hinunter.
Er sieht nicht mal in T-Shirt und Jogginghose schmuddelig aus, wie das vielleicht bei anderen Männern der Fall wäre. Seine Bartstoppeln wirken fast schon gewollt sexy.
„Es fehlen nur noch Turnschuhe und du siehst so aus, als würdest du zum Joggen gehen.“
„Oh je“, lacht Nick und hält sich den Kopf. „An so etwas möchte ich nicht mal denken, obwohl ich wirklich gerne Sport mache. Aber das muss bis mindestens heute Abend warten, wenn nicht bis morgen.“
„Naja, ganz davon ab, dass du einigermaßen präsentabel aussiehst, musst du das Haus gar nicht verlassen. Mein Restaurant ist genau unter deiner Wohnung. Wie wäre es also mit einem Espresso?“
„Klingt verlockend.“ Er kratzt sich nachdenklich am Kopf und nickt dann.
„Ich gehe schon mal vor und sehe zu, dass ich die Maschine angeschmissen bekomme. Du kannst nachkommen, die Türe zur Küche lasse ich offen.“
Gut gelaunt verlasse ich Nicks Wohnung und hüpfe die Treppe hinunter. Es kann nicht schaden, sich mit dem örtlichen Bankfilialleiter anzufreunden, finde ich.
Wie ich mir bereits dachte, hat Dad die Espressobohnen nicht weggeworfen. Wie so ziemlich gar nichts, außer den wirklich verderblichen Sachen.
Das Letztere erleichtert mich dann doch ungemein. Ich weiß nicht, ob ich es so erhebend gefunden hätte, jahrelang dort lagernde Salami im Kühlschrank zu finden, die vermutlich schon von alleine hätte laufen können oder Mozzarella mit einem zentimeterdicken Pelz, der dem Wintermantel einer russischen Millionärsgattin Konkurrenz machen könnte.
Als ich die professionelle Espressomaschine einschalte, die silberglänzend hinter dem Tresen steht, bete ich darum, dass sie funktioniert. Mit gekreuzten Fingern beobachte ich, wie sie sich blinkend aufheizt und seufze dankbar, als auch die Mahlmaschine ihren Dienst tut. Mum legte stets Wert auf eine gute, echt italienische Espressomaschine und darauf, die Bohnen extra zu mahlen. Von Kombigeräten hielt sie noch nie etwas und ich muss ihr beipflichten. Dads Filterkaffee mag gut sein, aber es geht nichts über einen frisch gemahlenen und mit einer guten Maschine gebrühten Espresso.
Nicht darüber nachdenken, dass Matteo vermutlich unsere sündhaft teure Maschine längst versetzt hat, denke ich noch, da höre ich, wie die Tür zum Vorratsraum ins Schloss fällt.
„Ich bin hier vorne, im Restaurantbereich“, rufe ich laut und streiche eine platinblonde Strähne zurück, die ich mir sorgfältig hinters Ohr klemme.
„Oh. Mein. Gott.“ Nick kommt aus der Schwingtüre, die in die Küche führt, und sieht mich an, als wäre ich Miraculix und würde gerade den Zaubertrank brauen. „Das ist ein Geruch, den in Sheemore zu finden ich niemals gedacht hätte.“
Zufrieden grinse ich in mich hinein und strecke ihm eine Tasse Espresso entgegen. Ich bin Dad wirklich dankbar, dass er alles so gut in Schuss gehalten hat, sodass ich die Tassen nicht mal entstauben musste. Jetzt kann ich meinen potentiellen zukünftigen Geldgeber mit dem dringend benötigten Koffein ein wenig für mich einnehmen.
„Für gewöhnlich findest du diesen Geruch in Sheemore auch nicht. Nicht mehr, seit dieses Restaurant geschlossen wurde.“
„Dein Vater hat mir erzählt, dass deiner Mutter das Restaurant gehörte und sie vor über einem Jahr starb. Mein Beileid, übrigens.“
„Oh, schon gut“, winke ich ab, aber seine Worte versetzen mir einen Stich. „Hier im Da Paola fühlt es sich so an, als wäre sie noch da. Ihr Geist ist allgegenwärtig.“
„Feen, Geister… Was kommt als nächstes?“
Ich zucke die Achseln.
„In Sheemore glauben wir an alles Mögliche. Solltest du als Schotte nicht ein wenig aufgeschlossener für Mystisches sein? Ich meine, was ist mit all den Burgen, auf denen es spukt? Nessie, die Steinkreise…“
„Ich als Schotte sollte das wohl.“ Genüsslich nimmt Nick einen Schluck Espresso und schließt die Augen. Als er sie wieder öffnet, haben sie wieder etwas von ihrem alten Glanz. „Aber ich als nüchterner Banker und armer schottischer Junge, der im Exil in Manchester aufgewachsen ist, bin da wohl etwas anders veranlagt. Aber das hatten wir ja schon.“
„Mag sein.“ Ich überlege kurz. „Als ich in Italien gelebt habe, waren mir all diese Dinge auch fern, aber kaum bin ich wieder hier, hat mich die Mystik der schottischen Sagen und Märchen wieder.“
„Wie lange hast du in Italien gelebt?“
„Zu lange, wenn du mich fragst. Ich bin gerade erst wieder hier gelandet.“ Ich sehe meine Chance gekommen, nun über meinen möglichen Neuanfang zu sprechen. „Ich möchte das Restaurant meiner Mutter wieder eröffnen und wie ich ja bereits sagte, wird mir mein Vater dieses Haus überschreiben.“
„Mit diesem Espresso wird das ein einschlagender Erfolg“, prophezeit Nick und trinkt aus.
„Noch einen?“, frage ich schnell.
„Gerne. Ich könnte mich daran gewöhnen. Das heißt, ich werde mich daran gewöhnen, denn ich habe nun eine echte italienische Trattoria unter meiner Wohnung.“
„Nun, vielleicht… Denn es gibt da noch ein paar Ungereimtheiten mit der Finanzierung.“
Rasch drehe ich mich zur Espressomaschine um, damit Nick nicht sieht, dass ich rot werde. Es ist nicht so, dass ich ihn nur auf einen Kaffee einlade, um die Finanzierung zu bekommen, aber mir ist sehr wohl bewusst, dass es so rüberkommen könnte.
„Finanzierung, hm?“
Zischend und dampfend läuft der Espresso in die kleine Tasse und ich beobachte ihn dabei, als würde es nichts Wichtigeres auf der Welt geben. Ich habe Nick heute aufgesucht, um über die Finanzierung zu sprechen und ich habe ihn hierher gebracht, damit er das Potential des Da Paola erkennt, aber jetzt fühle ich mich deswegen irgendwie mies.
„Ist das der Grund, weshalb ich hier einen Gratisespresso nach dem Anderen genieße?“
Ich drehe mich ein wenig zu schnell um, die Tasse fliegt in einem Rutsch von der Untertasse und segelt dann fast in Zeitlupe auf Nick zu. Mir entfährt ein Schrei des Entsetzens, während er von dem Original-90er-Jahre-Rattan-Hocker rutscht und einen Satz nach hinten macht. Mit einem dumpfen Geräusch kommt die Tasse auf dem Hocker auf und ergießt die heiße, schwarze Flüssigkeit darüber.
„Entschuldige!“ Ich schlage eine Hand vor den Mund und starre auf den tropfenden Barhocker.
„Wofür?“, fragt Nick und vielleicht bilde ich mir das auch nur ein, aber seine Stimme klingt ein wenig kühl. „Für die Attacke oder den Bestechungsversuch?“
„Oh Gott, nein, das war kein Bestechungsversuch“, bringe ich zu meiner Verteidigung hervor, aber es hört sich nicht mal für mich besonders aufrichtig an.
„Schon gut“, erwidert er, sieht mich an und ich finde, dass er jetzt wirklich verletzt aussieht. „Komm einfach am Montag bei mir in der Bank vorbei und wir machen einen Termin aus. Dann können wir in Ruhe über das sprechen, was du von mir willst.“
„Danke“, presse ich noch hervor, aber da hat sich Nick schon umgedreht und ist durch die Schwingtür in der Küche verschwunden.
Als Teenager war ich Profi darin, Jungs für meine Zwecke zu manipulieren. Heute fühle ich mich einfach nur noch elend damit, auch wenn ich einen kleinen Erfolg feiern darf. Er war nicht begeistert, hat mein Ansinnen aber nicht sofort abgelehnt.