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Kapitel 3

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Ich weiß erst wo ich hinlaufe, als ich schon fast dort bin. Wütend stakse ich die gewundene Straße hinauf in Richtung der Klippe, auf der unser Haus steht. Bergab war es schon abenteuerlich auf den hohen Absätzen, aber hinauf brennen meine Waden wie die Hölle und der Alkohol, der so schön nebelig durch meinen Kopf wabert, macht den Anstieg nicht gerade leichter.

Als ich die Straße verlasse und auf den Hügel zusteuere, der sich sanft geschwungen hinter der Klippe erhebt, bleibe ich zu allem Überfluss auch noch im Gras hängen und stolpere. Frustriert kicke ich die Dinger weg und laufe barfuß weiter.

Es ist ein ungewohntes Gefühl, das Gras zwischen den Zehen und an meiner Fußsohle zu spüren. Es pikst und kitzelt, aber vermutlich macht mich der Wein weniger empfindlich, denn es stört mich überhaupt nicht. Ich laufe einfach weiter, verwundert, dass sich etwas so Einfaches so gut anfühlen kann.

Matteo würde ausrasten, wenn er mich barfuß sehen würde. Er kann nackte Füße nicht ausstehen. Ein Gang mit ihm an den Strand glich einem Drama in drei Akten. Ich muss kichern, wenn ich nur daran denke.

Erster Akt, der Hauptakteur betritt die Bühne. Er entdeckt den Stein des Anstoßes und beginnt darüber zu lamentieren, wie ekelig nackte Füße doch seien und dass er absolut nicht verstehen könne, wieso jedermann seine mehr oder minder hässlichen Zehen und Hornhaut geplagten Sohlen zur Schau stellen müsse.

Akt zwei, unser Protagonist findet sich langsam mit der Tatsache ab, dass der Strand nun mal der einzige Ort ist, wo Füße wirklich die Berechtigung haben, einmal in all ihrer natürlichen Pracht gezeigt zu werden. Das tut er natürlich nur unter größtem Protest.

Akt drei, der Teil, in dem auch unser Held widerwillig seine Füße von aller erdrückender Last befreit, allerdings nur, um sie in der Adria zu versenken. Abgang des Protagonisten, zurück bleiben nur seine Segeltuchschuhe am Strand, in die er sofort schlüpfen wird, wenn er aus dem Wasser steigt.

Es ist so absurd, dass ich schallend zu lachen anfange und gar nicht mehr aufhören kann.

„Ist alles in Ordnung mit Ihnen, Miss?“

Ups! Ich bin so erschrocken über die Stimme aus dem Nichts, dass ich gefährlich zu schwanken anfange und mich schließlich in meinem hübschen weiß-geblümten Rock mitten ins Gras setze.

„Miss?“

Über mir taucht ein blonder Haarschopf auf, zwei eisblaue Augen blicken besorgt auf mich hinunter.

„Alles gut“, sage ich und mein Blick fällt auf meine bloßen Zehen, die mit den sattgrünen, regenverwöhnten Grashalmen spielen. Plötzlich spüre ich überdeutlich, wie sie mich an der Fußsohle und an den Zehenzwischenräumen kitzeln, härtere Halme piksen richtiggehend. Dann entlockt mir ihr Anblick erneut ein lautes Lachen.

„Ist wirklich alles in Ordnung?“, fragt der Typ, der immer noch über mich gebeugt dasteht, mit einem Stirnrunzeln, das darauf hinweist, dass er mich für ein wenig überdreht hält.

Ich blicke wieder zu ihm hoch und unterdrücke glucksend einen Lachanfall.

„Haben Sie schon mal so schöne Zehen gesehen?“, entfährt es mir, ehe ich noch darüber nachdenken kann, was ich da rede.

Ein wenig irritiert starrt er auf meine nackten Füße. Immerhin, er kann sie richtig ansehen und verzieht nicht mal angewidert das Gesicht.

„Es sind ganz wunderbare Zehen, wenn ich das so sagen darf“, meint er schließlich schmunzelnd. „Der rosa Nagellack gefällt mir ganz besonders.“

„Rosegold“, korrigiere ich ihn automatisch.

Ich bin nun mal ein Klugscheißer, dagegen kann ich auch nichts machen. Klassenbeste. In jedem gottverdammten Jahrgang!

„Wollen Sie sich nicht zu mir setzen?“, frage ich und klopfe neben mich ins Gras. „Die Aussicht hier ist herrlich.“

„Klar!“

Ohne weitere Umstände lässt er sich neben mich sinken und mein Blick schweift über das Gras hinweg zur Klippe, die man von hier, etwa an der Hälfte des Berges, sehen kann. Ganz klein und einsam steht dort unser Cottage und in der Ferne glitzert das Meer wie ein Haufen funkelnder Diamanten.

„Darf ich fragen, wo Sie hin wollten?“ Der Fremde wirft einen bedeutungsvollen Blick auf meine Füße.

„Zu den Feen natürlich“, antworte ich, als wäre das die logischste Antwort der Welt.

Und das ist sie doch auch. Wenn man den Hügel erklimmt, der unserer Stadt ihren Namen gegeben hat, dann hat man für gewöhnlich einen Wunsch an die Feen. Das weiß jedes kleine Kind in Sheemore – oder zumindest wussten das alle, als ich noch ein Kind war. Ob das immer noch so ist, weiß ich gar nicht. Aber Dad hat Emma als sie klein war auch oft mit zum Feenhügel genommen. Die seltenen Male zumindest, da wir meine Eltern besuchten.

„Zu den Feen?“, fragt mein neuer Bekannter jedoch irritiert, dreht sich rum und blickt den Anstieg hinauf.

Es ist nicht mehr weit, aber von hier aus kann man die Schönheit des Feenhügels nicht erkennen. Die wird erst offenbar, wenn man den kleinen Berg vollständig erklommen hat und dann hinunter in das sanft geschwungene Tal blickt.

„Kommen Sie mit, ich zeige es Ihnen, Mister…“ Ich runzle die Stirn, da ich seinen Namen nicht kenne.

Ich habe so manchen Namen vergessen, aber in diesem Fall bin ich mir sicher, dass ich diesen Mann noch nie zuvor in Sheemore gesehen habe.

„Lyle.“ Er lächelt und in einer fließenden, geschmeidigen Bewegung ist er aufgestanden. Kunststück. Er sieht gut trainiert aus. Überhaupt ist er recht ansehnlich.

Mir ist völlig klar, dass ich nicht so elegant aufstehen kann. Ich mag schlank sein, aber etwas unsportlich und Muskeln… Ja, die habe ich wohl als Grundausstattung mitbekommen, aber das heißt nicht, dass sie besonders aktiv sind. Deswegen bleibe ich kurzerhand sitzen und sehe zu Mr. Lyle hinauf. Belustigt guckt er auf mich hinunter und streckt mir seine Hand hin.

„Darf ich Ihnen helfen, Miss…?“

„De Luca.“

Ich lasse mir bereitwillig aufhelfen. Seine Hand ist kräftig und angenehm warm, ohne jedoch schwitzig zu sein. Als er mich hochzieht, spüre ich einen leichten Anflug von Schwindel – Restalkohol, nehme ich an – und taumele gegen seine Brust. Es verwundert mich nicht, dass sich auch diese angenehm anfühlt und ja, er hat definitiv Muskeln, die auch im regelmäßigen Gebrauch sind. Sein Shirt schmiegt sich angenehm kühl an meine heißglühende Wange, trotzdem trete ich einen Schritt zurück. Ich bin jetzt nüchtern genug, um verlegen zu sein.

„Nachdem wir uns bereits so nahe waren, können Sie auch Nicholas zu mir sagen.“ Er grinst spöttisch.

„Anna“, antworte ich, dabei klopfe ich mir ein wenig Gras vom Rock, um ihm nicht in die Augen sehen zu müssen.

Mein Blick fällt auf meine Füße, die lackierten Zehen. Hitze schießt durch meinen Kopf, vermutlich von den Wangen direkt bis zu den Haarwurzeln. Mein leichter Schwips ist irgendwie verflogen. Schade eigentlich.

Ich bin absolut unpassend ausstaffiert für eine Wanderung den Feenhügel hinauf und habe mit einem Fremden über meine Füße geredet. Peinlicher kann’s jetzt auch nicht mehr werden.

„Du sprichst sehr gut Englisch für eine Italienerin“, setzt mein Gegenüber die Konversation fort, als wäre dies eine völlig normale Situation, wie man sie alle Tage erlebt. „De Luca klingt zumindest sehr italienisch.“

Innerlich winde ich mich. Und ich schäme mich zutiefst. Warum nur hat mich der Anblick des Da Paola so aus dem Konzept gebracht, dass ich viel zu schnell zwei wirklich große Gläser Wein getrunken habe? Hätte ich das nicht getan, dann wäre ich nämlich jetzt nicht hier, barfuß auf dem Weg zum Feenhügel. Was will ich hier eigentlich?

„Ich bin keine Italienerin“, gebe ich barsch zurück. „Naja, zumindest nicht wirklich. Zur Hälfte, ja…“

Frustriert schnaube ich und zucke etwas hilflos die Achseln.

„Ist ja auch egal“, meint Nicholas und hebt ebenfalls die Schultern in einer gleichgültigen Geste. Seine Augen strafen diese jedoch Lügen. Er würde gerne mehr wissen, aber er ist zu höflich, um mich auszuquetschen. Auch gut.

„Möchtest du den Feenhügel nun gerne sehen?“, frage ich.

„Aber sicher. Nur, willst du dafür nicht lieber Schuhe anziehen?“ Er blickt sich im Gras um, doch meine High Heels liegen bekanntermaßen irgendwo am Straßenrand.

„Eine Waldelfe braucht doch keine Schuhe“, antworte ich trocken, dann mache ich mich daran, den Hügel weiter zu erklimmen.

Mein neuer Bekannter folgt mir und schließt schließlich zu mir auf.

„Sheemore, der Name ist schon ein wenig irritierend. Man stellt sich einen richtigen Berg vor. Ich kann kein Gälisch, aber mhòr bedeutet doch ‚groß‘, wenn ich nicht irre?“

„Der Name Sheemore soll nur darauf hinweisen, dass hier Feen leben“, antworte ich knapp. „Mit ‚groß‘ ist nicht unbedingt der Hügel gemeint, sondern das hier.“

Wir haben den langgezogenen Hügelkamm erreicht und ich atme tief durch, während ich auf das Tal zeige, das sich wie ein verwunschener Ort vor uns ausbreitet. So steil der Anstieg auf der einen Seite ist, so sanft wellt sich der Hügel auf der anderen, mit vielen begrünten Terrassen, uralten Bäumen und Tümpeln. Von der Straße aus ist dieser Teil nicht einsehbar und die Schönheit des Feenhügels von Sheemore bleibt daher vielen Menschen verborgen.

So wohl auch Nicholas Lyle, der nun neben mir stehenbleibt, einen Laut des Erstaunens von sich gibt und mit offenem Mund auf das Tal der Feen blickt. Denn eigentlich sind es genau diese sattgrünen bewachsenen Terrassen, die Bäume und die kleinen Tümpel, von denen man seit Generationen hier in Sheemore behauptet, dass dort das kleine Volk lebt.

„Ich habe noch nie so etwas gesehen“, staunt mein Begleiter, die Augen auf die Landschaft geheftet, die sich ihm darbietet.

„Du stammst nicht von hier“, stelle ich fest, es ist keine Frage.

In Sheemore kennt jeder jeden. Ich hätte ihn erkannt, wenn er mit mir hier aufgewachsen wäre. Die Auswahl der Jungs in unserem Alter war für Jo und mich äußerst begrenzt, weswegen wir als Teenager förmlich danach lechzten, auf die Highschool nach Kirkcaldy gehen zu können.

„Nein.“ Er schüttelt den blonden Schopf. Sein teurer Haarschnitt ist sicher nicht von Scissor Sisters. „Ich bin in Ayr geboren und bis zu meinem fünften Lebensjahr dort aufgewachsen, danach habe ich immer nur in Manchester gelebt. Und wie vielleicht manche wissen, ist Manchester nicht gerade für seine landschaftliche Schönheit berühmt. Zudem bin ich kein Wanderfreund.“

Ich betrachte verstohlen seinen muskulösen Körper, der sich unter dem engen gestreiften Shirt und der figurbetonten Jeans ziemlich gut abzeichnet.

„Du bist dann eher der Typ, der ins Fitnessstudio geht, um sich solche Muskeln zu erarbeiten?“, entfährt es mir und mein Blick bleibt an dem beachtlichen Bizeps hängen, der aus dem Ärmel seines T-Shirts hervorlugt.

„Ertappt.“ Er hebt lachend die Hände. „Aber da es in Sheemore und Umgebung keins zu geben scheint, habe ich den Rat der netten älteren Dame aus dem Teegeschäft angenommen und es doch einmal mit einer Wanderung versucht. Tatsächlich bin ich prompt mit einer tollen Aussicht belohnt worden.“

Er sieht mich an. Lange. Intensiv. Und ich weiß absolut nicht, ob er mir gerade ein Kompliment gemacht hat.

„Wollen wir?“, frage ich, um die peinliche Situation irgendwie zu entschärfen und setze vorsichtig einen Fuß auf den Pfad, der sich ganz natürlich in den Hügel einfügt.

Also ehrlich, dieser Nicholas Lyle aus Manchester – wer auch immer er ist und was ihn in ein verschlafenes Nest wie Sheemore geführt hat – geht ganz schön ran. Aber was ich gerade nicht brauchen kann, ist ein Flirt. Ich meine, wie lange ist es her, seit ich mich von Matteo getrennt habe? Es sind keine drei Tage vergangen, seit ich ihm gesagt habe, dass ich mit den Kindern fortgehe, obwohl wir natürlich schon früher über eine Trennung geredet haben.

„Darf man das denn?“, fragt Nicholas unsicher.

„Was?“

„Da runter gehen.“

„Warum denn nicht?“

„Ich dachte immer, dass man Feen nicht stören darf.“

„In Manchester vielleicht nicht“, spöttele ich.

„Ich glaube kaum, dass es in Manchester irgendwelche Feen gibt.“

„Du musst leise sein, vorsichtig laufen und genau darauf achten, wohin du trittst“, gebe ich die nötigen Instruktionen, ganz so, wie ich es von meinem Großvater gelernt habe, der mich gerne mit auf ausgiebige Wanderungen nahm.

„Muss ich auch irgendwelche Zaubersprüche vor mich hin sagen?“

Ich erkenne Spott, wenn ich ihn höre.

„Du musst nicht mitkommen, wenn du nicht an den Zauber der Feen glaubst.“

„Vielleicht glaube ich nicht an Feen, aber ich möchte mir diesen geheimnisvollen Ort gerne genauer ansehen.“

„Meinetwegen“, gebe ich nach, dann folgt ein eindringliches: „Aber jetzt leise.“

Es duftet flüchtig nach Rosmarin und wildem Thymian. Das ist der Ort, der mich seit je her geerdet hat, der neben dem Restaurant meiner Mutter immer meine Zuflucht war, wenn ich Kummer hatte. Und plötzlich wird mir auch klar, warum ich hier bin. Ganz unbewusst habe ich Ruhe gesucht, einen Ort, der mich wieder ins Gleichgewicht bringt und das Karussell meines Lebens für einen Moment zum Anhalten zwingt.

Nur hatte ich nicht damit gerechnet, dass mich jemand dabei begleiten würde – und dass meine Füße plötzlich höllisch schmerzen, da ich jedes kleine Steinchen auf dem Pfad unter meiner Fußsohle spüre.

„Autsch!“ Ein besonders spitzer Stein bohrt sich in meine große Zehe und ich hüpfe erschrocken beiseite.

„Ich dachte, wir müssen leise sein“, meint Nicholas naseweis und sieht mich triumphierend an.

„Na vielen Dank auch, das weiß ich selbst“, gebe ich ihm eine kühle Antwort, dann versuche ich so würdevoll wie möglich weiterzulaufen.

Meine High Heels wären mir hier auch nicht nützlich. Barfuß läuft es sich tatsächlich besser. Aber zugegeben, mit Turnschuhen wäre es natürlich tausend Mal angenehmer. Wenn man nie barfuß läuft, dann spürt man jedes kleine Kieselchen, jeden verdorrten Grashalm unter den weichen Fußsohlen.

„Wir sollten vielleicht nicht weiterlaufen“ Nicholas wirft einen bedeutungsvollen Blick auf meine Füße. „Mag ja sein, dass Waldelfen keine Schuhe brauchen, aber du schon.“

Ich werfe einen Blick ins Tal, wo man die kreisförmig angeordneten uralten Eichen sehen kann, ganz ähnlich einem Steinkreis. Dorthin hat mich mein Großvater immer gebracht und gemeint, dass dies der Versammlungsort der Feen sei, wo sie die Wünsche der Menschen am besten hören können. Für einen kurzen Augenblick zögere ich.

„Nun, jetzt hast du mich aber ertappt“, sage ich schließlich mit einem schiefen Grinsen. „Wie dumm, dass du mich als völlig normale Frau enttarnt hast.“

„Von ‚normal‘ habe ich nichts gesagt.“

Das ist der Moment, in dem ich wirklich, wirklich gerne eine Augenbraue hochziehen möchte. Nur eine. Das hat einfach eine ganz andere Wirkung. Stattdessen bekommt dieser Nicholas einen warnenden Blick, den ich eigentlich für meine Kinder reserviert habe, wenn sie dabei sind etwas anzustellen. Er bemerkt ihn, quittiert ihn aber nur mit einem leisen Lachen.

Wir sind noch nicht weit gelaufen, deswegen haben wir den Hügelkamm schnell wieder erreicht. Auch der Ausblick auf dieser Seite raubt einem den Atem. Die unendliche Weite des Meeres, unser Cottage auf der Klippe und darunter irgendwo einige spielzeugkleine Häuser der Stadt.

Ich bin wieder hier. Und es fühlt sich so richtig an. Hier gehöre ich hin, auch wenn ich noch nicht weiß, wie es weitergehen soll. Alles wird sich fügen.

„Nachdem ich nun weiß, dass du keine Waldelfe bist und nicht in diesem verwunschenen Tal wohnst, darf ich dich nach Hause bringen?“ Nicholas sieht mich neugierig von der Seite an.

„Nein, danke, ich habe es nicht weit“, antworte ich schnell, winke und dann renne ich los, den Hügel hinab, ganz egal ob irgendetwas unter meinen Füßen pikst oder nicht. Ich fühle mich seltsam beschwingt (was nicht am Alkohol liegen kann, denn der ist verflogen) und es interessiert mich nicht die Bohne, was ein Nicholas Lyle von mir denkt.

Ich kann nur hoffen, dass ich irgendwo am Straßenrand meine Schuhe wiederfinde…

Mit Schwung werfe ich meine High Heels in die Mülltonne, die Dad vor dem Haus stehen hat. Teure, italienische Schuhe, die mir Matteo bei einem gemeinsamen Einkaufsbummel aufgeschwätzt hat. Natürlich musste ich sie alleine anprobieren, denn Matteo betritt ein Schuhgeschäft nur, wenn es absolut unabdingbar ist. Diese hier hatte er in der Auslage entdeckt und gemeint, sie wären wie für mich gemacht.

Jetzt brauche ich sie nicht mehr. Sie sind unpraktisch und sie stehen für alles, was ich zurückgelassen habe.

Der Land Rover meines Vaters steht bereits vor dem Haus. Mir fällt das Da Paola wieder ein. Zeit, meinen Dad mal ein wenig zur Rede zu stellen.

Ich stürme das Haus wie eine Festung. Wer sagt, dass ich nicht auch patent sein kann? Ich bin patenter als Kayleigh MacDuff und das werde ich jetzt beweisen!

„Dad?“

Meine Stimme wird von den dicken Teppichen und Tapeten im Cottage fast verschluckt.

„DAD?“, versuche ich es etwas lauter.

Dad kommt aus dem Wohnzimmer getrabt mit alarmiertem Blick, hinter ihm tauchen die Kinder auf.

„Wo brennt’s?“, fragt er und sieht sich vorsichtshalber um.

„Nirgendwo. Obwohl, ich hätte ein paar brennende Fragen.“

„Tatsächlich?“ Dad zieht ein wenig schuldbewusst den Kopf ein, was bei seiner Größe irgendwie seltsam wirkt.

„Du weißt genau, wovon ich rede, stimmt’s?“, fauche ich angriffslustig wie eine Katze, der man auf den Schwanz getreten ist.

„Wollen wir damit nicht warten, bis die Kinder im Bett sind?“

Emma und Nathan drängen sich neugierig noch ein wenig weiter vor.

„Emma, Nathan, ab in eure Zimmer“, ordere ich kurzerhand.

„Ich will aber nicht“, kommt prompt die trotzige Antwort meiner Tochter.

Kein Wunder. Emma ist eine echte Liebhaberin von großen Dramaszenen in italienischen Soaps und jetzt wird es doch gerade erst richtig spannend.

„Ich auch nicht!“ Nathan wirft sich natürlich auf die Seite seiner Schwester.

„Jetzt! Sofort!“, sage ich mit knurriger Stimme.

Es ist ein tiefes, ganz ruhiges Knurren und Emma und Nathan wissen, dass dann nicht mit mir zu reden ist. Emma packt ihren Bruder an der Hand und zieht ihn mit sich die Treppe hinauf.

„Und nun zu dir“, sage ich an Dad gewandt.

Resigniert seufzt er und deutet auf die Küche, wo wir uns an den Tisch aus heller Eiche setzen, der dort schon gestanden hat, als meine Großeltern noch in dem Cottage wohnten.

„Tee?“, fragt mein Vater. „Ich habe hier einen sehr leckeren Earl Grey aus dem Teeladen von Martha McKenna. Du erinnerst dich an Martha?“

Die nette Dame aus dem Teeladen. Natürlich kenne ich die alte Martha McKenna, aus deren Laden immer ein exotischer Duft bis auf die Straße quoll.

„Hör auf mit deiner Ablenkungstaktik“, sage ich jedoch.

Mein Vater ist ein gutmütiger Mensch, der zwar manchmal etwas knurrig wirkt, aber eigentlich niemals böswillig ist. Deswegen ist es auch schwer mit ihm zu diskutieren oder auf ihn lange sauer zu sein. Wie er mich nun ansieht mit seinem schuldbewussten Hundeblick, könnte ich fast vergessen, dass ich eigentlich wütend bin. Aber nur fast.

„Wieso hast du mir erzählt, du hättest das Da Paola verkauft?“

„Ich hatte es vor, als wir nach Paolas Beerdigung darüber geredet haben.“

„Und du hast es nicht für nötig gehalten, mir danach irgendwann zu erzählen, dass du es dir anders überlegt hast?“

„Vielleicht habe ich es vergessen?“

„Dad!“

„Gut, ich habe es nicht vergessen. Aber du warst weit weg, Anna. Ich dachte nicht, dass ich es dir erzählen müsste. Schließlich bist du nach der Beerdigung nie mehr nach Sheemore gekommen.“

„Es war nie der richtige Zeitpunkt.“

Dad sieht mich an und runzelt die Stirn. Er hat viele Falten bekommen und wirkt für seine achtundfünfzig Jahre unverhältnismäßig alt. Es tut mir in der Seele weh, als ich ihn so ansehe. Mums Krankheit und ihr Tod haben ihn vorzeitig altern lassen und seine einzige Tochter war nicht da, um ihn zu unterstützen.

„Was ist eigentlich mit deinem Job?“, frage ich, um das Thema zu wechseln. Das Da Paola scheint im Moment nicht der richtige Diskussionsansatz zu sein. „Bist du immer noch beurlaubt?“

Als bei Mum Brustkrebs im Endstadium diagnostiziert wurde, hat mein Vater eine Beurlaubung beantragt. Das ist jetzt über zwei Jahre her. Aber ich nehme an, als langjähriger Professor an der Universität von St. Andrew’s kann man sich eine längere Auszeit nehmen, ohne gleich seinen Job zu verlieren.

„Der Dekan hat meinen Antrag auf Verlängerung genehmigt. Aber ich spiele mit dem Gedanken, die Arbeit ganz aufzugeben.“

Ohne mich anzusehen steht Dad auf und macht sich nun doch am Wasserkocher zu schaffen.

„Deine Arbeit war dein Leben, Dad“, sage ich entgeistert.

„Deine Mutter war mein Leben, Anna“, korrigiert mein Vater seelenruhig, allerdings ohne sich umzudrehen. „Nichts kann je wieder so wichtig sein wie sie.“

Ich kann nicht verhindern, dass seine Worte mir wehtun. Ja, Mum war seine große Liebe, aber ich bin seine Tochter. Ich bin noch hier und seine Enkelkinder auch. Sollten wir nicht auch wichtig sein? Aber ich weiß, dass er es nicht so meint und bleibe fokussiert.

„Ich verstehe ja, dass deine Arbeit nicht gerade höchste Priorität hatte, als Mum krank wurde, aber du musst jetzt wieder anfangen ins Leben zu finden, Dad.“

Der Wasserkocher fängt leise an zu zischen, als Malcolm McDonald sich zu mir umdreht und mich mit umwölktem Blick ansieht, als hätte ich wirklich von nichts eine Ahnung.

„Ich liebe dich, Anna, und ich bin wirklich glücklich, dass du mit den Kindern jetzt bei mir bist. Aber bitte, rede nicht von Dingen, von denen du keine Ahnung hast.“

„Es wäre sicher leichter, wenn du mit mir reden würdest. Über dein Leben, was du machst, wovon du lebst…“

Dad schaut auf mich runter. Ich kann sehen, dass er noch immer verärgert ist, aber da ist auch noch etwas anderes in seinem Blick. Ich könnte es fast für Nachsicht oder auch Mitleid halten.

„Bevor wir mein Leben sezieren, Kleines, sollten wir doch lieber mit deinem anfangen“, meint er schließlich.

Mit einem lauten ‚Klack‘ vermeldet der Wasserkocher, dass er seine Dienste getan hat. Dad hängt einen einfachen Teebeutel in jeweils eine große, dickbauchige Tasse (den guten Earl Grey von Martha McKenna bekomme ich wohl doch nicht, ich muss in Ungnade gefallen sein) und gießt diese mit heißem Wasser auf. Dann stellt er beide Becher auf den Tisch und setzt sich zu mir an den Esstisch.

„Ich bin im Gegensatz zu dir relativ alt, Anna…“ Ich will protestieren, aber Dad hebt abwehrend die Hand. „Meine Finanzen sind darüber hinaus auch ohne meine Arbeit recht stabil. Über mein Leben müssen wir uns also keine Gedanken machen. Aber was ist mit dir und Matteo?“

Ich schlucke, lege die Hände um den heißen Becher und verbrenne mir dabei fast die Finger.

„Du weißt, dass wir uns getrennt haben.“

„Schon. Ich weiß auch, dass er bei irgendeiner Aktion euer ganzes Vermögen verschleudert hat. Mehr hast du mir aber nicht mitgeteilt. Außer, dass du ihn verlässt und mit den Kindern nach Sheemore zurückkehrst.“

Dad holt wie selbstverständlich einen kleinen Flachmann aus seiner Hosentasche und schüttet jedem von uns einen großzügigen Schluck in den Tee.

„Wenn’s schon keinen guten Tee von Martha McKenna gibt, dann wenigstens Hochprozentiges“, murmele ich vor mich hin.

Statt einer Antwort, wackelt Dad lustig mit den buschigen Augenbrauen und bringt mich damit zum Lachen.

„Irgendwas müssen wir uns ja gönnen, an solch einem trübsinnigen Tag.“

Tatsächlich war der Tag recht durchwachsen. Der Friseurbesuch? Super. Der Anblick des Da Paola? Absoluter Schock. Der Besuch am Feenhügel? Motivierend. Das Gespräch mit Dad? Verwirrend. Kann es irgendwie noch verrückter werden? Ich wäre offen für alles.

Wir verfallen in Schweigen, ziehen irgendwann gleichzeitig unsere Teebeutel aus dem Becher und legen sie auf die kleine Ablage, die Dad aus dem Schrank geholt hat. Dad ist kein Mann der großen Worte, man kann mit ihm jedoch prima schweigen, ohne sich unbehaglich zu fühlen. Mum war diejenige, die ständig geplaudert hat, sie konnte alle mit ihren lustigen Geschichten unterhalten und hatte für jeden ein offenes Ohr. Ich wünschte, ich hätte mehr von ihr. Dann wäre ich in Italien vielleicht nicht immer die Außenseiterin geblieben, die, mit der sowohl die Nachbarn, als auch Matteos Freunde nie so richtig warm wurden.

„Weißt du, Anna, du musst mir nicht sagen, was genau mit Matteo schiefgelaufen ist“, meint Dad schließlich. „Aber ich glaube, dass du mit den Kindern darüber reden musst. Ich bin kein Experte für Kindererziehung, beileibe nicht, aber Emma redet unentwegt darüber, dass sie sich darauf freut, nach den Ferien ihre Freundinnen in Bologna wiederzusehen – und ihren Vater.“

„Sie ist gerade mal einen Tag da und kennt kein anderes Thema?“

„Deine Tochter spürt mehr, als du denkst. Sie hat genau mitgekriegt, dass hier etwas im Gange ist, das du ihr zu verheimlichen suchst.“

Ich seufze und schnuppere an dem Tee. Mehr Alkohol als nötig, aber das stört mich überhaupt nicht. Er ist genau so warm, dass man ihn gut trinken kann und ich spüre, wie er mit dem Whisky gemeinsam meinen Bauch von innen wärmt. Im Tee ist Whisky sogar recht gut zu haben, vor allem mit zwei Stückchen Zucker. Das könnte man glatt als Wohlfühltee bei Touristen anpreisen. die mögen ohnehin alles, was mit Whisky zu tun hat.

„Es ist nicht so einfach mit Emma zu sprechen“, gebe ich schließlich zu. „Sie hängt so sehr an Italien und natürlich auch an ihrem Vater.“

Wie auf ein Stichwort klingelt das Telefon im Hausgang. Ich wechsele mit Dad einen Blick, nicke ihm zu und lasse ihn rangehen. Damit wäre das unangenehme Gespräch mit ihm erstmal aufgeschoben. Erleichtert atme ich durch.

Meine Erleichterung währt allerdings nur kurz. Dad steht wenige Sekunden später in der Küchentür und hält mir das Telefon hin.

„Es ist Matteo.“

„Matteo?“ Vor Schreck stehe ich zu schnell vom Tisch auf, hebe die Tischplatte an und werfe dabei unsere Teebecher um.

Dad sieht mich mitleidig an wie einen tollpatschigen Hundewelpen und drückt mir das Telefon in die Hand, dann macht er sich daran, den Tee aufzuwischen.

„Ja?“, sage ich recht widerwillig in den Hörer.

„Anna, cara mia…“

„Sprich Englisch mit mir, wenn du schon mit mir reden willst“, blaffe ich Matteo an.

Ich weiß, dass er perfekt Englisch sprechen kann. Das hat mich anfangs an ihm auch so fasziniert. Er hat einen Kurs für Business-Englisch besucht, da die Firma seiner Familie ins Ausland expandieren wollte. Aber er redet nur widerwillig Englisch, daher macht es mir im Moment eine diebische Freude, ihn dazu zu zwingen.

„Anna, du weißt, mein Englisch ist nicht gut…“, versucht es Matteo und ich kann mir richtig vorstellen, wie er dabei schaut. Wie ein zu groß geratener Teddybär.

Nein, nein, nein! Ich darf mir diese schokobraunen Augen nicht vorstellen. Auch nicht seine Grübchen. Und schon gar nicht das verwegene Lächeln, mit dem er mich schon vor vierzehn Jahren rumgekriegt hat.

„Hör auf, mir so einen Unsinn zu erzählen“, würge ich ihn ab. „Was ist eigentlich los mit dir? Ich hatte dir doch gesagt, dass du mich erstmal in Ruhe lassen sollst.“

„Das habe ich.“

„Ich bin gestern hier in Schottland angekommen.“

„Und ich habe mich erst heute gemeldet.“

Tolle Logik! Naja, das ist eben typisch Matteo, es sollte mich nach so langer Zeit nicht mehr überraschen. Genervt verdrehe ich die Augen und Dad sieht besorgt zu mir rüber.

„Anna, ich verstehe, dass du Abstand brauchst.“

Oho, das sind ja ganz neue Töne. Vor drei Tagen noch wollte er mich am liebsten am Stuhl festbinden, damit ich ihn nicht verlasse. Und eben meinte er doch noch, er hätte mich lange genug in Ruhe gelassen.

„Ich brauche nicht nur Abstand, ich komme auch nicht wieder. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob du das verstanden hast.“

„Das habe ich. Und ich gebe dir Zeit, um dich eines Besseren zu besinnen.“

„Und genau diese Aussage zeigt mir, dass du es eben nicht verstanden hast, Matteo“, blaffe ich jetzt ins Telefon.

Es tut mir leid, aber dieser Mann bringt mich einfach auf die Palme. Er ignoriert völlig, was ich sage oder will, und zieht ungerührt seinen Stiefel durch.

„Aber sicher habe ich dich verstanden. Du bist wütend, weil wir die Wohnung verkaufen müssen. Das verstehe ich und ich bin nicht besonders stolz darauf, dass ich mit dem Geld ein wenig unvorsichtig war. Aber ich sagte dir ja, dass wir bei meinen Eltern einziehen können, sie haben immer noch ihre Villa in Rimini, wo wir alle gemeinsam leben können. Sie ist groß genug, cara mia.“

„Es ist aus“, knurre ich gefährlich leise ins Telefon. Genauso wie bei Nathan und Emma sollte mein Noch-Ehemann wissen, was das bedeutet. „Du solltest dich daran gewöhnen, Matteo. Wegen der Kinder finden wir eine Lösung, aber dich und mich, das gibt es nicht mehr. Und zu deinen Eltern würde ich nicht einmal ziehen, wenn es der letzte Ort auf Erden wäre, wo ich hin könnte. Eher friert die Hölle zu!“

Damit lege ich energisch auf und schleudere das Telefon förmlich auf die Anrichte in der Küche. Dad sieht mir schweigend dabei zu. Er nimmt seelenruhig das Telefon an sich, kontrolliert es auf etwaige Schäden und räumt es dann auf seine Basisstation. Dad weiß gerne, wo seine Sachen sind. Immer an derselben Stelle. Unordnung ist ihm ein Graus. Mir im Übrigen auch. Ich habe wirklich mehr von ihm als von Mum, die im größten Chaos stets den Überblick behielt.

Ich merke erst, dass meine Beine schlottern, als sie unter mir nachgeben und mich Dad sanft zu einem Stuhl führt.

„Ich werde dir Matteo nicht mehr geben, falls er nochmal anruft“, meint er entschlossen.

Er ist so lieb, dass mir die Tränen in die Augen schießen. Warum macht er mir keinen Vorwurf, dass ich so selten hier war, selbst als Mum noch lebte, besonders als sie krank wurde? Er hätte Grund dazu. Und jetzt versucht er mich vor Kummer zu bewahren, indem er mir meinen Noch-Ehemann vom Hals hält.

„Matteo ist nicht böse, Dad. Er versteht nur manches nicht oder will es einfach nicht wahrhaben.“

„Aber er regt dich auf und das ist sicher nicht gut für dich.“

Meine Hände zittern, als ich die Hand nach meinem Becher ausstrecke, der leider nach meiner Aktion von vorhin leer ist.

„Kann ich nochmal so einen Wohlfühltee haben?“, schniefe ich.

„Wohlfühltee?“

„Whisky mit einem Schuss Earl Grey.“

Ich lächele Dad zu und er lächelt zurück, dann nimmt er meinen Becher und macht sich schweigend ans Werk. Vergessen wir fürs Erste das Da Paola, meine gescheiterte Ehe und meinen Vorsatz ‚patent‘ zu sein – was auch immer das bedeuten mag in Dads Augen. Manchmal braucht man einfach nur jemanden, mit dem man Schweigen kann.

Dich habe ich mir nicht gewünscht

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