Читать книгу Black Heart - Spin-Off 2: Der Weg ins Licht - Tatjana Weichel - Страница 6
ОглавлениеEngland
September 2017
Zwei Jahre später
❤
Schwarz.
Wenn ich den Blick schweifen lasse, sehe ich schwarz. In der Kleidung, in den Gesichtern. Meine Gedanken sind nicht mehr ganz so tiefdunkelgraumatschig, und wir weinen nicht mehr, aber alles andere ist wie letztes Jahr und das Jahr davor.
Zwei Jahre ist es her.
Zwei Jahre ist Yanis tot.
Ich atme tief durch, habe meine Hände tief in meinen Jackentaschen zu Fäusten geballt. Eine fremde Hand schiebt sich dazu und greift nach meiner Wut. Yanis’ Mum steht neben mir, sie sieht so traurig aus.
»Ich kann es immer noch nicht glauben«, sagt sie leise. »Manchmal denke ich, er muss doch einfach zur Tür hereinkommen.« Jackie versucht mit ihren Fingern meine Faust zu lösen, und ich gebe nach. Sie legt ihre Hand in meine und hält sie fest.
»Ich weiß«, antworte ich. Wie muss es sein, sein Kind zu verlieren? Ob es genauso schlimm ist, wie die Eltern zu verlieren?
»Wie geht es dir? Wir haben dich lange nicht gesehen.«
»Ich bin okay. Nur … wütend. Immer noch. Er wollte kein Teil der magischen Welt sein, es hat ihn so fertiggemacht.« Ich schaue sie an.
»Ich weiß«, flüstert sie, und ihre Augen füllen sich mit Tränen. Ich habe sofort ein schlechtes Gewissen, löse unsere Hände und lege den Arm um sie. Sie kann ja auch nichts dafür. Sie lehnt sich an mich, und so verharren wir einen Moment.
Wir haben noch Tränen. Vielleicht hört das auch nie auf.
Yanis’ Dad tritt neben uns. Über Jackie hinweg schauen wir uns an, sein Blick ist eindringlich, als wolle er mir etwas mitteilen. Doch ich verstehe nicht, was.
Im ersten Jahr habe ich viel Zeit mit den beiden verbracht. Ich habe versucht, die magische Welt zu verstehen. Was es für Yanis bedeutete, ein Wächter zu sein. Warum diese Veranstaltung, auf der er mit seinen Freunden war, überfallen wurde. Warum er sterben musste. Doch zuletzt wurde der Kontakt zu seinen Eltern weniger, weil ich irgendwann das Gefühl hatte, mich lösen zu müssen, mehr Raum für einen Neuanfang zu brauchen. Für mich.
»Kommst du noch mit zu uns?« Auch John hat die Hände da, wo niemand seine Wut sieht. Aber ich weiß, dass sie da ist. Es hilft mir ein bisschen.
Jackie löst sich von mir, wischt sich die Tränen aus dem Gesicht. Ihr Lächeln ist fast schon entschuldigend. Als müsse sie für irgendwas um Verzeihung bitten. Muss sie nicht, schon gar nicht dafür, dass sie um ihren Sohn trauert, und heute sowieso nicht.
»Natürlich kommt er mit. Tust du doch, Gabriel, oder?« Sie sieht mich ernst an, während sie ein Päckchen Taschentücher aus ihrer Jackentasche zieht.
»Sicher«, murmle ich. »Klar komme ich mit.«
John nickt, und nachdem Jackie sich die Nase geputzt hat, geht sie zu den anderen Menschen, die heute hier sind. Wir alle tragen schwarz, wir alle haben Blumen abgelegt. Nichts davon war abgesprochen.
Sams Gesicht ist eingefallen, er sieht dünn aus. Miles steht wie ein Fels neben ihm. Mel und Mike halten sich an den Händen, und Julie … Julie ist da und doch nicht da. Sie weiß, wer schuld an dem ganzen Scheiß hier ist. Sie weiß das sehr genau. Und ich auch.
Sie hebt den Kopf, unsere Blicke treffen sich. Ich nicke ihr zu, mehr geht nicht, mehr kann ich nicht geben. Denn sie ist es.
Sie ist schuld an allem.
Erst als John mich am Arm festhält, registriere ich, dass er immer noch neben mir steht. »Können wir uns heute Abend treffen? Ich muss mit dir reden.« Er schaut sich kurz um, offensichtlich soll niemand mitbekommen, dass er mich um ein Treffen bittet.
Ich schaue ihn irritiert an. »Was ist los?«
John sieht zerknittert aus, und ich ziehe fragend die Augenbrauen zusammen. Er winkt ab.
»Heut Abend. Um sechs am See?«
❤
Das Wasser glitzert in Bildern. Mal sieht es aus wie eine Wolke, die sich im Weg verirrt hat, dann wie ein Segelschiff. Doch immer spricht es.
Den See habe nicht ich entdeckt, obwohl ich in Canterbury aufgewachsen bin. Als kleiner Junge, der seine Eltern und seinen Bruder früh verloren hat und vom Onkel aufgenommen wurde, hat es mich selten sehr weit weg von dem gezogen, was ab da mein Zuhause war. Liebe zur Natur habe ich mich erst sehr spät getraut, als ich sicherer wurde, dass mein neues Zuhause nicht einfach verschwindet.
Yanis hat mir diesen See gezeigt. Genau das erzähle ich seinem Dad, nachdem wir eine Weile schweigend auf den See geschaut haben, jeder in seine eigenen Erinnerungen versunken.
»Ich weiß. Er war so oft hier. Er hat den See sehr geliebt«, sagt er leise, und etwas Wehmütiges schwingt darin mit.
»Warum wolltest du mich sprechen?«, frage ich ihn, um von den Erinnerungen abzulenken, die mich hier überkommen.
Ich kann nicht fassen, dass John mich um dieses Gespräch gebeten hat und ich zu feige war, seinen Vorschlag dieses Ortes abzulehnen. Tatsächlich war ich anfangs oft hier, doch seit einem Jahr nicht mehr. Seit ich letztes Jahr an diesem Tag beschlossen habe, dass mein Leben weitergehen muss.
Es tut trotzdem weh, hier zu stehen, und es fällt mir schwer, die Erinnerungen zu verdrängen, die in leisen Wellen über mich schwappen, so wie sie auch den Holzsteg umspielen.
John seufzt leise, und ich wende mich ihm zu.
»Steven McGuire ist gestorben.« Ich hebe fragend die Augenbrauen, und er ergänzt sofort. »Der Gerichtsmediziner, der Yanis für tot erklärt hat.«
»Okay?« Ich habe keine Ahnung, warum er mir das erzählt.
»Es tut mir leid, wenn ich dich damit belaste, aber ich weiß nicht … ich kann nicht mit Jackie …« Er bricht den Satz ab, aber ich verstehe ihn auch so.
»Schon okay, sag mir ruhig, was du loswerden möchtest.«
Sein Blick ist dankbar, und er schaut über den See, als suche er die Worte in den glitzernden Wellen.
»Steven hatte Krebs. So schlimm das ist, manchmal hat es etwas Gutes, wenn man erfährt, dass es zu Ende geht. Es gibt einem die Chance, sein Leben in Ordnung bringen. Steven hat mich zu sich gebeten und mir etwas erzählt, was ich …« Seine Stimme bricht, bevor er sich räuspert und in sachlichem Diensttonfall weiterspricht. »Laut seiner Aussage hat er damals Yanis’ Leiche verschwinden lassen, und das, was wir … verbrannt und beerdigt hatten, war nicht mein Sohn gewesen.«
Ich keuche auf. Das kann er doch nicht ernst meinen. »Bitte was?« Das muss ein Scherz sein. »Was heißt das?«
John nickt düster. »Ich konnte das auch kaum glauben, aber Steven war sehr gefasst und sehr klar. Er sagte, er will mit all den Geheimnissen aufräumen, und das sei eins davon. Philippe hatte ihn damals gebeten, ihm den toten Körper zu überlassen. Steven habe ihm noch was geschuldet, deshalb hatte er ihm diesen Wunsch erfüllt und keine Fragen gestellt.«
»Philippe? Julies Dad? Aber was wollte er denn mit Yanis’ … Leichnam?« Ich spüre die Wut wieder hochsteigen, die Wut über diese Welt, die macht, was sie will, die ihre eigenen Regeln hat. Eine Leiche verschwinden lassen? Das klingt wie aus einem schlechten Film. Mir wird übel, wenn ich auch nur über die Möglichkeiten nachdenke, was mit Yanis’ Körper geschehen sein könnte. Ist es nicht schlimm genug, dass er sterben musste?
»Das wusste Steven nicht. Aber ich … Gabriel, ich habe es ihm geglaubt. Weißt du noch, wie Philippe mich damals davon abgehalten hat, Yanis noch einmal zu sehen? Wie gefasst er war? Leider ist Steven zwei Tage nach meinem Besuch gestorben.« Er seufzt auf, seine Stimme wird leiser und auch wenig brüchiger. »Ich habe Yanis’ Urne für einen DNA-Vergleich öffnen lassen.« Er winkt ab. »Frag besser nicht, ob das legal ist.« Er dreht seinen Kopf zu mir, und was ich in seinen Augen lese, macht mir Angst. »Es gibt keine Überreste von Knochen. Das ist nicht ungewöhnlich, aber dadurch können sie nicht herausfinden, wessen Überreste das sind. Und irgendwas sagt mir, dass Steven die Wahrheit gesagt hat und es nicht die von Yanis sind. Ich weiß nicht, zu wem ich sonst damit gehen soll. Ich bitte dich inständig, Gabriel«, seine Stimme bricht, und mit ihr mein Herz, »Finde heraus, ob mein Sohn noch lebt.«
Ich taumle zurück und halte mich am Geländer des Stegs fest. Die Bedeutung seiner Worte tröpfelt langsam in mich.
Finde heraus, ob mein Sohn noch lebt.
»John!« Ich kann gar nichts sagen, ich kann nicht mal denken. Fuck. Meint er das ernst?
Es hat so weh getan, Yanis zu verlieren, und jetzt besteht die Möglichkeit, dass er-
»Ich weiß.« John legt mir die Hand auf die Schulter, als hätte ich nicht genug Last auf ihnen. »Ich weiß nicht, wen ich sonst fragen soll.«
»Jeden, aber doch nicht mich. Was … was denkst du dir?« Ich schüttle den Kopf, viel zu entsetzt bin ich von seiner absurden Idee. Viel zu wenig verstehe ich, was er mir da eigentlich gerade sagt. »Das ist doch komplett verrückt!«
»Ich kann niemanden sonst fragen. Julie vertraue ich nicht. Sie könnte mit Philippe darüber sprechen. Ich hab ihn zwar angerufen, aber er sagte, er könnte sich das nicht erklären und dass Steven Mist erzählt hätte, aber ich spüre, dass er mir etwas verheimlicht hat. Dass er nicht ehrlich war. Jemand … jemand muss an den Palast der Träume. Ich glaube, nur dort kann man herausfinden, was wirklich passiert ist.« Mein Blick ist offenbar so ungläubig, dass er sich zu mehr Erklärungen gezwungen sieht. »Die Schule, an der Hexen und Wächter ausgebildet werden. Sie ist in Österreich. Wenn es einen Ort mit geballtem Wissen gibt, dann ist es der Palast der Träume. Aus Philippe werden wir nicht herausbekommen. Und …« Er schaut mich zerknirscht an. »Du weißt, ich hab in meiner Stellung Kontakte. Sie suchen gerade einen neuen Küchenchef. Dir traue ich das zu. Und willst du nicht wissen, was geschehen ist?«
Nein! Verdammt, nein! Ich bin dankbar, dass sich jedes Jahr im Herbst die Wunde wieder schließt. Jetzt an den Ort zu gehen, der Ausdruck der Welt ist, die ich verabscheue, erscheint mir wie ein schlechter Film. Aber John sieht so entschlossen aus, ich frage mich, wie genau er das schon durchdacht hat, wie lange er sich damit befasst, und warum zur Hölle er mich für einen guten Teil seines Plans hält.
Ich schüttle vehement den Kopf. »John, du verlangst zu viel von mir.«
Er sieht mich bittend an. »Du hast ihn geliebt.«
»Es war eine Woche.« Eine Woche. Die zwei Jahre her ist, die ich hinter mir gelassen habe.
John schürzt die Lippen. »Er hat dich geliebt.« Er sieht mich fest an.
»EINE WOCHE!« Ich kann das nicht fassen. Das kann er doch nicht ernst meinen. Doch er meint es ernst. Seine Augen füllen sich mit Tränen, nur mühsam kann er sie zurückhalten.
»Ich kann nur dich fragen. Denk wenigstens drüber nach. Bitte.«
❤
Die Straßen leeren sich bereits, es ist später Abend, als ich den Aston Martin durch Canterburys Straßen lenke. Langsam wird es wieder früher dunkel. Der Herbst wird nicht mehr lange auf sich warten lassen, und mit ihm kommt die besinnliche Jahreszeit.
Ich freue mich auf Weihnachten, allerdings nicht auf den Urlaub. David möchte gerne in den Skiurlaub, ich wäre lieber in die Sonne gefahren. Aber ich bin froh, dass er einem gemeinsamen Urlaub überhaupt zugestimmt hat. Vielleicht bringt das Klarheit in unsere Beziehung. David ist mein erster Freund nach Yanis, leider ist es nicht so zwischen uns, wie ich es mir wünschen würde.
Es ist kompliziert.
Yanis … sein Dad denkt wirklich, dass Yanis lebt und ich an den Palast der Träume gehen sollte, um herauszufinden, ob das stimmt.
Was für eine Schnapsidee.
Diese verdammte magische Welt. Ich will damit nichts mehr zu tun haben. Ich habe mich nicht einfach so von allen aus Yanis’ damaligem Umfeld zurückgezogen. Was für eine beschissene Nummer, mich zu fragen. Mir wird schlecht.
Ich fahre an den Straßenrand, halte an und drücke auf die Kurzwahltaste für David. Wir sind seit ein paar Monaten zusammen, na ja, was man so zusammen nennt. Wir sehen uns oft, aber in der Öffentlichkeit sind wir Freunde. Ein Paar sind wir nur im geschützten Raum.
Es klingelt eine Weile, und ich will schon auflegen, da geht er doch noch dran.
»Hey, Gabriel, was gibts?«
Ich verdrehe die Augen. Er ist nicht allein, ich erkenne es sofort an seiner Begrüßung.
»Hi. Stör ich? Ich würde dich gern sehen, kann ich-«, erkläre ich ihm, aber er unterbricht mich.
»Sorry, können wir morgen quatschen?« Es ist laut bei ihm, offensichtlich ist er ausgegangen.
»Wo bist du? Kann ich vorbeikommen?«, frage ich ihn, und er schweigt einen Moment, bis er dann ungeduldig antwortet.
»Das ist schlecht heute. Ich melde mich morgen bei dir, okay?« Dann legt er auf.
Fassungslos schaue ich auf das Display, und als es dunkel wird und mir mein eigenes Gesicht entgegenschaut, werfe ich das Handy auf den Beifahrersitz.
Ich habe mir geschworen, die Sache zu beenden, wenn er das noch einmal tut. Habe mir versprochen, mich nicht mehr so behandeln zu lassen. Ich will keine Beziehung führen, in der man mich verleugnet, und doch macht er es immer wieder. Und ich lasse es mit mir machen.
In Wellen spüre ich die Enttäuschung hochsteigen, ich versuche durchzuatmen, bevor sie hochschwappt und mich überschwemmen kann.
Einatmen, ausatmen.
Er ist ausgegangen. Er verleugnet mich, weil jemand bei ihm ist, der nicht wissen soll, dass ich nicht nur quatschen wollte, sondern sein Freund bin, mit dem er schläft und den er liebt.
Ich lache auf. Sein Freund. Den er liebt. Ich muss schlucken, die Wut kommt gleichzeitig mit dem Lachen, ich sehe meine Hände zittern.
Es ist nicht neu für mich, dass David keine Zeit für mich hat und mich abwimmelt, wenn er mit seinen Freunden unterwegs ist. Freunde, die ich nicht kenne, weil er mich nicht zu ihnen mitnimmt. Zu offensichtlich könnte sein, dass wir mehr sind, und das passt ihm nicht. Er braucht noch Zeit, sagt er. Immer wieder sagt er das.
Und was ist mit mir?
Ich greife nach meinem Handy, öffne den Messenger.
Ich: Sorry für die späte Störung, seid ihr noch wach?
Die Antwort kommt sofort.
Sam Walsh: Sind wir.
Ich: Habt ihr Zeit für mich? Kann ich vorbeikommen?
Für einen Moment schließe ich die Augen, um die Angst zurückzudrängen, dass auch Sam mich abwimmeln könnte.
Sam Walsh: Was für eine blöde Frage. Ich mach dir ein Bier auf.
Ich hätte Überraschung erwartet, Ablehnung oder Ungläubigkeit, während ich Sam und Miles von dem Gespräch mit John erzähle. Irgendjemandem muss ich es erzählen, sonst platze ich. Doch Sam ist einfach nur still geworden.
Wir sitzen auf dem Sofa in ihrer gemeinsamen Wohnung. Sein Blick liegt auf einem Bild von ihm und Yanis. Es steht neben einem Reagenzglas mit einer einzelnen weißen Rose auf einem Sideboard.
»Hast du das Gefühl, dass er tot ist? Ich meine, ist da dieses Gefühl, was dir sagt, er lebt nicht mehr?« Sam blickt mich an. »Ich hab das nicht. Nach all der Zeit ist es immer noch so irreal, so absurd. Es fühlt sich an, als wäre es gestern erst passiert, ich kann es nicht glauben. Er fühlt sich nicht … weg an.«
Ich lege den Kopf schief, schaue kurz zu Miles, der nicht aussieht, als wären diese Gedanken neu für ihn.
Es tut weh, die beiden zu sehen, nicht nur, weil Sam Yanis’ bester Freund war. Es tut weh, eine funktionierende, langjährige und liebevolle Beziehung zwischen zwei Männern zu sehen, etwas, das für mich noch nie funktioniert hat. Bis auf diese eine Woche vor zwei Jahren, doch wenn ich darüber nun weiter nachdenke, kann man mich ganz vergessen. Besser, ich konzentriere mich auf Sams Frage.
»Ich fühle diese Leere, ja. Er ist weg. Ob tot oder nicht … er ist weg.« Ich horche in mich, ob ich da einen Unterschied ausmachen kann, doch das kann ich nicht. »Jackie meinte, sie hat das Gefühl, er müsste jeden Moment durch die Tür kommen.«
Sam nickt. »So fühlt es sich an. Ich rechne jeden Tag auf der Arbeit damit, dass er plötzlich reinkommt und mich angrinst. Und das hat nichts mit Verleugnen zu tun. Was, wenn John recht hat?« Er sieht nachdenklich aus, keinesfalls so schockiert, wie ich erwartet hätte.
»Das wäre ziemlich krass«, sagt Miles leise. Er hat sich in einen der beiden Sessel gesetzt, die Füße liegen auf dem Couchtisch. Auch er sieht eher nachdenklich aus.
»Macht ihr Witze? Nein!« Ich schaue von einem zum anderen. »Nein, ich glaube das nicht. Das wäre …« Ja, was wäre es? Krass? Unglaublich? Immerhin reden wir über Magie.
Sam spricht aus, was auch in mir vorgeht. »Ich glaube, in dieser magischen Welt ist mehr möglich, als wir Muggel uns vorstellen können. Julie hat uns Geschichten erzählt …« Er winkt ab.
Miles rutscht vor und legt die Arme auf den Knien ab. »Ich halte das tatsächlich auch nicht für abwegig. Allerdings ist Johns Idee trotzdem ziemlich haarsträubend. Was denkst du darüber? Was sagt David?«
Ich antworte nicht, drehe meine leere Bierflasche in den Händen.
Sam seufzt. »Gabriel.«
»Ja, was denn?« Ich stelle die Flasche ab, sie landet mit einem lauteren Knall auf dem Tisch, als ich es beabsichtigt habe. »Sorry. Heikles Thema.«
»Ach«, wirft Miles trocken ein, und diese kurze Äußerung macht mir mehr als alles andere klar, in welche Situation ich mich da schon wieder hineinmanövriert habe.
»Ich bin ja selbst schuld. Er hat immerhin von Anfang an ehrlich gesagt, dass er nicht offen schwul lebt. Hätte nur nicht gedacht, dass mich das so nervt.«
»Wirst du es ihm erzählen?«, fragt Miles, und erst will ich erneut den Kopf schütteln, doch dann halte ich inne und überlege.
»Mal schauen.« Ich stehe auf und greife nach meiner Jacke, die ich vorher achtlos über die Couchlehne geworfen habe. »Danke, Leute. Ich muss das alles mal sacken lassen.«
Sam und Miles stehen auf und begleiten mich zur Tür. »Ich würde es mir überlegen. Wenn John mich gefragt hätte, ich würde es sofort machen«, meint Sam, und Miles boxt ihn gegen den Arm.
»Am Arsch würdest du. Als ob ich zulassen würde, dass du allein nach Österreich gehst. Schlaf gut, Gabriel. Aber … was David betrifft: Schieß ihn ab. Er ist nicht gut genug für dich.« Miles klopft mir auf die Schulter.
»Was mein Mann sagt.«
❤
Eigentlich bin ich diese Woche für die Spätschicht eingeteilt, aber mein Onkel Trevor hat mich gebeten, das Café an diesem Morgen aufzumachen, weil er noch einen Termin hat.
Ich liebe die Morgenstunden, wenn der erste Kaffeeduft durch den Laden zieht, die Tür weit geöffnet ist und hoffentlich einladend auf die Gäste wirkt. Ich mag, wie alles sauber und frisch glänzt, wie ich die Musik auswähle, die Blumen auf den Tischen arrangiere und mir überlege, was ich zum Mittagstisch anbiete.
Nachdenklich schaue ich die Vorräte durch. Natürlich gibt es eine feste Speisenkarte, aber das Mittagessen für kleineres Geld entscheide ich immer spontan. Heute hätte ich Lust auf Kartoffelsuppe.
Ich nehme den Sack Kartoffeln und setze mich zum Schälen an den Tisch in der Ecke, und während ich sie zu schälen beginne, kommt mir unweigerlich ein Tag vor zwei Jahren in den Sinn. Yanis und ich hatten unser erstes privates Date, das erste Mal, dass wir nicht ausgehen, sondern uns bei mir zu Hause treffen würden. Ich war total aufgeregt, habe mir tagelang Gedanken gemacht, wie ich es für uns beide gemütlich und romantisch gestalten könnte. Ich erinnere mich, wie mein Onkel mich amüsiert angegrinst hat, weil ich ganz kurzfristig meine alten Sofamöbel entsorgt und mit dicken Matratzen und Kissen eine große Liegefläche gezaubert habe, die er belustigt Spielwiese genannt hat. Yanis und ich hatten eine wunderschöne erste Nacht, und ich hatte für ihn Kartoffelsuppe gekocht.
Ich lasse das Messer sinken. Was, wenn er wirklich noch lebt? Kann ich diese Möglichkeit einfach so ignorieren?
Seufzend stehe ich auf und mache mich an die Zubereitung der Suppe. Aber ich kann nicht aufhören, über den gestrigen Tag nachzudenken.
Warum hat John ausgerechnet mich gefragt? Die Sache ist so lange her, und auch wenn ich manchmal traurig werde, wenn ich an Yanis denke, war es letztendlich nur e – ine Woche meines Lebens – abgesehen von den Wochen und Monaten, die ich ihn aus der Ferne angehimmelt habe. Aber ich kann nicht ewig einer Vergangenheit nachweinen, die unwiederbringlich vorbei ist.
Unwiederbringlich. Wenn er noch leben würde, dann hätte er sich doch gemeldet, oder?
Ich setze die Suppe auf, und die nächsten Stunden habe ich keine Zeit mehr, über Yanis nachzudenken. Heute läuft das Café gut, schon recht bald ist der Mittagstisch ausverkauft. Ich kann nur noch bedauernd die Schultern zucken, als am frühen Nachmittag Gäste noch etwas von der Suppe bestellen wollen. Ich weiß, das ist eine Ausnahme, denn heute hat der Konkurrenzladen am Ende der Straße Ruhetag. Morgen wird es vermutlich wieder anders aussehen, und ich bleibe auf meinem Mittagstisch sitzen.
»Ist gut, dass heute was los war«, sagt mein Onkel müde, dem ich direkt einen starken Kaffee hinstelle. Er ist später ins Café gekommen, als ich ihn für die Spätschicht erwartet hätte. Er zieht seine Jacke aus und hängt sie über die Stuhllehne, bleibt ein wenig haltlos stehen.
»Alles in Ordnung? Du siehst fertig aus.« Ich schaue mich kurz um, es ist ein ruhiger Moment. Wir setzen uns, und ich schiebe ihm ein Stück Kuchen hin. Er jedoch greift nach dem Kaffee.
»Ich hatte einen Banktermin«, antwortet er und verzieht das Gesicht. »Wir müssen uns mal unterhalten.«
»So schlimm?« Ich habe es befürchtet, ich kenne die Zahlen, und ich sehe täglich, wie viel Einbuße wir haben. Seit vor einem Jahr nicht nur eine Filiale von BestCoffee, sondern auch das vegane ThinkGreen direkt im Umfeld eröffnet haben, sind die Zahlen beängstigend.
»Lass uns heute Abend mal sprechen, ja? Und erzähl mir, was mit dir ist, du wirkst unruhig.« Er nimmt seinen Kaffee und mustert mich. Trevor kennt mich so gut wie niemand sonst.
Ich schnaube auf und erzähle ihm die Kurzfassung, doch dann kommen Gäste, ich springe auf und bewirte sie. Trevor hilft mir danach beim Aufräumen, denn auch ich bin absolut erledigt.
Das war ein echt langer Tag.
»John ist doch eigentlich niemand, der sich in Hirngespinsten verliert, oder?« Mein Onkel kennt Yanis’ Mum aus der Schule, seinen Dad hat er auf der Beerdigung und bei den Treffen danach kennengelernt.
Ich schüttle den Kopf. »Eigentlich wohl nicht, aber du weißt, was mit Menschen passiert, die einen herben Verlust erleiden. Und Jackie hatte arg zu kämpfen«, antworte ich.
»Aber er kann nicht mit ihr darüber reden, hast du erzählt. Er muss sich allein damit fühlen, wenn er dich um Hilfe bittet.« Mein Onkel schaut mich an, und ich erwidere seinen Blick nachdenklich.
»Denkst du, ich sollte das machen?« Ich hänge den Lappen weg, wir sind fertig. Mein Rücken fühlt sich an wie ein steifes Brett, ich könnte eine Massage brauchen. Meine Gedanken wandern zu David. Eigentlich sind wir nicht verabredet, aber vielleicht hat er Zeit. Doch Trevor macht mir einen Strich durch die Rechnung.
»Vielleicht ist die Idee nicht die schlechteste.« Er reibt sich über die Stirn, wirft noch einmal einen prüfenden Blick umher und nickt dann. »Der Kuchen für morgen?«
»Ist in der Kühlung«, erwidere ich nachdenklich. »Wieso ist diese Idee nicht die schlechteste?«
»Komm, setzen wir uns mal.« Er deutet auf einen der Tische, und angespannt sitze ich ihm gegenüber, während er mir von seinem Banktermin erzählt. »Wir können vielleicht noch ein Jahr durchhalten, danach wird es eng. Die Einnahmen gehen zurück, wir sind zwar sparsam, aber es sieht nicht gut aus.« Sein Blick ist besorgt.
»Was bedeutet das? Werden wir zumachen müssen?«, frage ich und fahre mir mit den Händen durch die Haare. »Fuck, ich hab gehofft, wir können das noch mal rumreißen durch den Mittagstisch und die Aktionen.«
»Erstmal bedeutet es, dass es nicht so schlecht wäre, wenn wir Geld sparen könnten, zum Beispiel deinen Lohn, wenn du diesen Job annehmen würdest. Mark und ich kommen auch allein klar. Ansonsten werden wir Mark bald entlassen und den Laden allein schmeißen müssen. Und vielleicht … versteh mich nicht falsch, ich will dich nicht loswerden, aber vielleicht würde es dir auch guttun, hier mal rauszukommen und die Sache abzuschließen.« Er seufzt leise. »Tut mir leid, Gab.«
Fassungslos sehe ich meinen Onkel an. Aber er meint das ernst. Wir sitzen noch lange über den Umsatzzahlen, wir diskutieren noch lange über Möglichkeiten, das Café zu retten, und auch darüber, ob ich einen Tapetenwechsel brauche oder nicht.
Aber all das kann für mich unmöglich ein Grund sein, an eine magische Schule zu gehen!
❤
Ich kann kaum schlafen in den nächsten Nächten, die Sorgen halten mich wach. Im Café bin ich unkonzentriert, ich zucke zusammen, wenn mein Handy piepst, in der Sorge, dass es John sein könnte, und ich überdenke jede Ausgabe mehrfach. Die finanzielle Bedrohung macht mir zu schaffen.
In den letzten Jahren gab es nur das Café für mich. Hier habe ich meine Zeit verbracht, gearbeitet, Kontakt zu Menschen gehalten und manchmal auch übernachtet, wenn ich meine Wohnung und die Einsamkeit nicht ertragen habe. Hier hab ich Yanis kennengelernt, hier hat David mich zum ersten Mal geküsst. Das Café aufgeben zu müssen, würde mir das Herz brechen. Und Trevor auch.
Und so bemerke ich, wie sich langsam die Vorstellung einschleicht, dass ich doch woanders arbeiten könnte. Um Geld zu sparen und uns die Möglichkeit zu geben, dass sich das Café erholt. Dass ich vielleicht etwas herausfinden könnte. Vielleicht auch nur, dass John sich geirrt hat und einem Hirngespinst nachläuft.
Ich schreibe ihm eine Nachricht, um ihn zu fragen, was diese Schule für meinen Job bezahlen würde, und seine Antwort kommt unmittelbar und lässt mich blass werden: Der Verdienst ist fast doppelt so viel wie das, was ich durch das Café bekomme, Miete und Verpflegung inbegriffen. Fuck.
Ich bekomme meine Gedanken nicht sortiert und rede mit dem Menschen, der mir neben meinem Onkel irgendwie noch am nächsten ist und von dem ich mir eine sachliche Meinung erhoffe, einen Rat, wie ich damit umgehen soll … ein letzter Versuch, zu schauen, wo wir stehen. Allerdings gestaltet sich das schwierig, denn David weiß nichts von der magischen Welt.
»Bist du von allen guten Geistern verlassen? Du kannst doch nicht wirklich darüber nachdenken, diesen Scheiß zu machen!«
Okay. Sachlich ist anders.
Aufgebracht geht er in seinem Wohnzimmer umher, seine Mimik zeigt mir deutlich, dass er sauer ist. Ich sitze ein bisschen verloren auf seiner Couch und weiß nicht, wohin mit mir. Denn ich habe keine Ahnung, warum er so sauer ist.
»Ich will Trevor entlasten«, fällt mir lediglich ein. »Der Lohn ist wirklich gut, und ich könnte das sicher zeitlich eingrenzen.«
»Ich kann dir Geld leihen, wenn es so knapp ist. Ich besorge dir einen Job in meiner Firma. Aber es ist kompletter Irrsinn, an diese Schule am Arsch der Welt zu gehen.« David schaut mich nicht an bei diesen Worten, sondern aus dem Fenster. Mir ist es fast recht so, denn all seine Vorschläge sind zwar nett – und doch irgendwie …
»Ich will mir kein Geld leihen, ich will arbeiten und es selbst verdienen, aber nicht in deiner Firma. Ich bin Koch, keine Aushilfskraft für … was auch immer.« Ich schüttle den Kopf. David arbeitet als Computermensch in einer großen Firma, was hab ich da verloren? Ich bin froh, dass ich den Power-Knopf an meinem Laptop finde. Abgesehen davon: Warum sollte er mich so unterstützen? Wir sind doch nicht mal richtig zusammen. »Ich könnte das von dir auch nicht annehmen. Müssten wir dafür nicht einmal … über uns reden?«, frage ich herausfordernd, und ich sehe an seinem Gesichtsausdruck, dass er das nicht für nötig hält.
»Über uns reden? Was meinst du?« Er runzelt die Stirn.
»Letztens … ich hätte dich gern gesehen, mir ging es nicht gut. Ich-« Die Worte habe ich mir sorgfältig zurechtgelegt, mir genau überlegt, was ich sagen möchte.
»Ich war unterwegs. Du weißt, dass ich nicht auf Überraschungsbesuche stehe«, fällt er mir ins Wort.
Ich nicke langsam. »Ja, das weiß ich. Trotzdem würde ich gerne meinen Freund anrufen können, wenn ich ein Problem habe. Irgendwas scheine ich dir ja zu bedeuten, wenn es dich so aufregt, dass ich weggehen könnte. Auch wenn wir irgendwie kein richtiges Paar sind. Um eine Entscheidung zu treffen, müsste ich schon wissen, was wir für dich sind.«
»Ich reg mich nur auf, weil das Blödsinn ist. Du hast ein Café, das ein bisschen schwächelt, da muss man nicht gleich abhauen.« Er wendet sich mir zu, und mir wird unwohl unter seinem Blick. »Was ist denn mit uns? Natürlich sind wir ein richtiges Paar. Darling, du weißt doch, dass ich noch Zeit brauche, dass … ich bin noch nicht so weit. Du bist so viel stärker als ich, ich brauche dich für diesen Weg.« David setzt sich neben mich und nimmt meine Hand. Ich wende mich ihm zu.
Das hat er schon so oft gesagt. Seine Stimme wird in diesem Moment immer ganz weich und liebevoll, meistens küsst er mich dann, und wir haben Sex.
»Gabriel, ich weiß nicht, ob ich das hinkriege. Wenn du ein paar Monate weg bist oder vielleicht für immer, das wäre das Aus für uns. Das will ich nicht.«
Ich betrachte unsere Hände, die ineinander liegen, und in mir steigt das Gefühl hoch, das ich schon ein paar Mal hatte, aber nie wirklich greifen konnte. Das ich als Angst identifiziert habe, obwohl es keine Angst ist. Heute spüre ich es genauer, heute habe ich das Gefühl, näher bei mir zu sein. Hier, wo ich eigentlich Nähe zu jemand anderem suche.
Langsam entziehe ich ihm meine Hand. »Ich werde das machen, David«, sage ich leise. »Wir sind kein Paar, und ich hab’s satt, nur dein Freizeitvergnügen zu sein.« Ich atme tief durch. »Ich hab gedacht, das mit uns wäre gut für mich, nach der Sache mit Yanis, aber-«
»Yanis, Yanis. Gabriel, das ist doch …« David rauft sich die Haare und springt auf. »Du musst aufhören, an ihn zu denken und ihm hinterher zu heulen. Er ist weg. Tot. Für immer, und du musst weitermachen! Hier, in deinem Zuhause, in deinem Café, das kann man retten, so schlimm kann es nicht sein mit der Kohle. Dein Onkel übertreibt doch total. Und der Typ, er ist tot, Gabriel.«
Seine Worte verletzen mich, jedes einzelne. Aufhören, an ihn zu denken. Ich spüre den Schmerz hochsteigen, spüre Verzweiflung. Tot. Für immer. Verzweiflung, die auch John ergriffen hatte, und doch spüre ich die gleiche Hoffnung. Tot. Übertreibt doch total. Sehe Trevor vor mir, wie erschöpft er war, weil die Bank ihm nicht mehr helfen kann, sehe das leere Café.
Sehe meine Leere.
Unwillkürlich schüttle ich den Kopf und stehe von der Couch auf, suche Davids Blick. Er versteht sofort und hebt hilflos die Schultern. Ich habe keine Worte mehr für ihn, stattdessen suche ich meine zwei, drei Sachen zusammen und fahre in meine Wohnung. Schaue mich um, beginne zu packen. Öffne an meinem Laptop einen Ordner, den ich tief versteckt hatte, um nicht ständig darüber zu stolpern, und schaue mir die Bilder an, die damals am See entstanden sind. Ich bemerke erst, dass ich weine, als die Tränen auf die Tischplatte tropfen.
Dann rufe ich John an.